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4 - Guericke Strasse

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when I find myself in times of trouble mother Mary comes to me whisper words of wisdom let it be and in my hour of darkness she is standing right in front of me speaking words of wisdom let it be

let it be, let it be…there will be an answer, let it be -PAUL MC CARTNEY 1969-

Peter musste es akzeptieren so wie es war. Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo und wie er diese Suche weiterverfolgen könnte. Das was er hatte war wie eine Schatzkarte auf der das obligatorische Kreuz fehlte, das die entscheidende Stelle markierte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich das alles aus dem Kopf zu schlagen und wieder zum gewohnten Tagesablauf zurück zu finden. Um sicher zu gehen, dass das funktionierte, hatte er das Buch in die hinterste Ecke in einem seiner Bücherregale verfrachtet nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn.Auch um das Cafe machte er die nächste Zeit einen Bogen, damit er nicht Gefahr lief, am Fundort wieder als Detektiv Hoffnungslos rückfällig zu werden. Stattdessen verlegte er seine Ausgangszeiten wieder in die Nächte und das Ziel wieder in seine Stammkneipe. Dass dazu mal ein kleinerer und auch mal ein größerer Kater gehörte, war nicht seine eigene Schuld, sondern die seiner Kumpels, die er zwangsläufig traf und mit denen er ebenso zwangsläufig einen trinken musste.

Auch Rudi war an einem dieser feuchtfröhlichen Stammkneipen-Abende wieder in der Kneipe und erzählte von seinem letzten Auftritt für einsame Herzen: „Mensch Peter, i sag dir, da kriagst du an richtign Vogl, wenn de Altn da anfangen zum Baggern und zum Grabschn. Wias aufbrezlt san. Eingspritzt mit 4711, und trotzdem liegt dieser markante Duft von Mottenkugln wia de radioaktive Wolkn von Tschernobyl schwer in der Luft beim Mumienschiabn.“ Peter meinte süffisant „Na das ist doch genau des richtige für dich.“ „Weil du mir vielleicht weismacha willst, dass du auf deim Dampfer im Meer da imma für Kranknschwestern-Ausflüge oder für blonde Schönheitsköniginnen aus Schwedn gspuit hast, des glaubst doch selber net.“ So ging der Schlagabtausch zwischen den beiden weiter, bis Rudi wegen Tommi nachfragte. „Was is den eigentlich mit`m Tommi, is der no immer auf Atlantik-Tour?“ „Nicht mehr lang. Der hat mir geschrieben, dass sein Vertrag Ende Mai ausläuft.“ „Mei der Tommi, des is ein Hund, so ein Wahnsinns-Gitarrist, sag selber.“ „Ja, da hast du Recht, der hat wirklich was drauf, der Junge. Wenn du die Augen schließt und ihn auf seiner Gitarre spielen hörst, dann könntest du wirklich meinen, der Carlos Santana, der Eric Clapton oder einer der anderen Gitarrengötter stehen direkt neben dir und spielen sich die Finger wund. Der könnte noch viel mehr aus sich machen, wenn er nicht so ein gutmütiger und verträumter Kerl wäre, der sich nicht zur Wehr setzt.“ Diese Lobrede wurde natürlich ausgiebig begossen und dann war es wieder soweit, dass die musikalische Welt in Ordnung war und die legendären Gitarren-Haudegen die wahren Helden des Lebens, diversen Bierchen und einigen Cognacs sei Dank.

Dieser und die anderen Kater am Tag danach verflüchtigten sich jeweils vormittags. Peter konnte die zweite Hälfte des Tages nutzen um noch den geschäftlichen Dingen nachzugehen, die in der Woche zuvor mangels Konzentration auf andere Dinge zu kurz gekommen waren. Es schien tatsächlich zu funktionieren und das alles brachte ihn tatsächlich wieder auf andere Gedanken. Hätte es nicht diesen Carole-King-Hit gegeben, dann wäre die Sache an dieser Stelle auch over and out gewesen. Doch dieser Song verfolgte ihn wie ein Schatten und ließ ihn nicht los. Bisher hatte Peter sich dagegen gesträubt, mal in die Platte reinzuhören ohne zu wissen warum eigentlich. Sie musste noch in seiner Sammlung in dem zum Plattenzimmer umgebauten Kellerraum sein. Vermutlich bedeckt mit einer Staubschicht, aber ordentlich sortiert nach Interpret, Musikrichtung und -Epoche, so wie es sich für einen eingefleischten Sammler und seine Platten-Raritäten auch gehörte. Ein kräftiger Schluck Cognac seiner Hausmarke „Remy Martin“ gab ihm schließlich den Anstoß sich die Platte aus dem Keller zu holen. Er konnte sich sogar daran erinnern, dass es nicht die Carole-King-Version war, sondern die Version von James Taylor, die ihm nicht nur besser gefiel, sondern auch erfolgreicher als das Original war und den Durchbruch in die Charts schaffte. Peter suchte eine Weile, er suchte nochmal und nochmal, aber er suchte vergeblich. Die einzige Rarität, die er fand, war ein Westchen, das er auf irgendeinem Flohmarkt an der mexikanischen Grenze billig erstanden hatte, weil es den bunten Hippie-Samtwestchen so ähnlich war, wie sie Jimi Hendrix häufig getragen hatte. Aber das suchte er nicht. Die Platte, die er suchte war verschwunden. Vermutlich ge-hörte sie zu der Kate-gorie: ausgeliehen und nicht zurückbekommen. Es war ihm bis jetzt nicht aufgefallen.

Freitag, 24. April 2015

An diesem herbstnebligen Freitagvormittag mitten im Frühjahr, nachdem der bisher längste Bahnstreik vorerst beendet war, befand sich Peter unterwegs zu seiner Agentur. Früher war es ein kleiner Tante-Emma-Laden, der seinen Großeltern gehört hatte und nun das Eigentum seiner Tante Johanna war. Eine Querstraße davon entfernt hatte vor einigen Wochen ein Second-hand-Plattenladen eröffnet. Es war diese Art von Läden, die aufmachen und dann nach einen halben Jahr wieder dicht machen. Auch wenn ein Second-hand-Unternehmer mit Studenten als Frequenz-bringer und Stamm-Kundschaft rechnet, sind Ebay und die anderen internet-Kollegen eine unbesiegbare Konkurrenz. Peter hatte zwar mitbekommen, dass dieser Laden eröffnet hatte, war aber bisher nicht dort gewesen. An diesem Tag war es die Neugier oder vielleicht, weil es einfach gleich um die Ecke lag. Statt lange zu suchen fragte er den Ladeninhaber, der eine gewisse Übereinstimmung mit seinem Sortiment hatte, nach der Platte. Ein etwas aus der Mode gekommener Typ mit einem ebenso aus der Mode gekommenem Outfit. Dafür total relaxed, kaugummikauend auf Kundschaft wartend und gerne zu einem ausführlichen Pläuschchen über die alten Rockbands wie Led Zeppelin, Deep Purple oder Pink Floyd bereit. Als der hörte, nach welcher Platte Peter gefragt hatte, rollte er richtiggehend die Augen „Hey Mister, nach dieser Platte hat bisher keiner gefragt, seit ich den Laden aufgemacht habe, und heute bist du schon der zweite, der danach fragt.“ Nun war es Peter, der die Augen verdrehte und unvermittelt nachfragte „Eine Sie?“ Joe, so nannte ihn Peter gedanklich, überlegte kurz: „Kann sein, hab gerade Kundschaft gehabt. Die hat in den Schachteln rumgekramt und mich zwischendrinn gefragt. Ja, doch, war so ne Frau, irgendwie mit dunklen Haaren.“ Noch bevor Peter weiterfragen konnte sagte Joe mit einem Unterton, als ob er gerade von einem Kommissar verhört wurde: „Mehr weiß ich nicht, wie gesagt, hab Kundschaft gehabt.“ Peter blickte interessiert und bohrte nach: „Kannst du mir einen Gefallen tun und ihr meine Karte geben, falls sie wieder vorbeikommt?“ „Sorry Mister, glaub nicht, dass die nochmal aufkreuzt, ist keine Stammkundschaft, und ich bin kein Heiratsvermittler. Noch was, hab ihr den Tipp gegeben, dass sie es morgen am Fritz-Flohmarkt in der Guericke Strasse versuchen soll.“ „Ok, ein guter Tipp, danke!“ antwortete Peter und verließ den Laden, ohne sich auf eine Diskussion mit Joe einzulassen. Mist! Das, was er in der letzten Woche gerade abschließen wollte, hatte ihn in diesem Moment wieder eingeholt. Let it be, let it be. Peter konnte es nicht lassen. Von einem Moment auf den anderen war wieder der Puzzle-Teil-Sucher in ihm wach geworden. Hätte er nur auf sich selbst gehört.

Samstag, 25. April

Nichts ließ an diesem Samstag auf die Erdbebenkatastrophe schließen, die sich in Katmandu mit mehr als Dreitausend Toten ereignete. Das Leben hier ging seinen Gang und die Geschäftigkeit und Hektik auf dem Hallen-Flohmarkt war die gleiche wie immer. Natürlich zog es auch Peter in die Guericke Straße zum Flohmarkt. Jede Menge Krims-Krams auf mehr als zweitausend Quadratmeter Fläche. Und ausgerechnet hier wollte er den Floh suchen, den man ihm ins Ohr gesetzt hatte. War das nicht irr? Ja, das war es wirklich. Er war der Floh und der Flohmarkt der Menschen-Heuhaufen, in dem er die Stecknadel suchen wollte. Floh hin, Floh her, es war die Platte, die er haben wollte. Da musste etwas von früher sein, und er wollte es herausfinden, so oder so.

Ein typischer Flohmarktbesucher war Peter trotzdem nicht. Geduldig alle Plattenstände abzuklappern und die Schachteln einzeln durchzusuchen, ob sich diese Single darunter befand, dazu hatte er zu wenig Geduld. Peter wusste was er wollte und fragte sich an den Ständen mit den Plattenkartons durch. Dabei hatte er zunächst ebenso wenig Erfolg wie in dem Plattenladen um die Ecke. Da waren an diesem Samstag einfach zu viele Händler und zu viele Menschen, die in den zu vielen Kartons voller Platten herumwühlten, als ob Geldscheine darin versteckt wären. Mehr als eine Stunde warten und anstellen und fragen, um immer wieder die gleiche Antwort zu bekommen, machten ihn nervös und noch ungeduldiger, als er ohnehin schon war. Darum versuchte er sich am Imbissstand wieder zu beruhigen und sich klar zu machen, dass es um keinen Wettbewerb ging. Das kleine Vormittagsbier tat seine positive Wirkung. Er wollte noch drei letzte Versuche bei den Ständen machen, an denen es kein Gedränge gab. Bei Händler Nummer zwei stellte sich heraus, dass das keine schlechte Idee war, und schließlich fand er die gesuchte Platte. Es war die Version von James Taylor, dieselbe Platte, dasselbe Cover, das er selbst gehabt hatte. Nicht unbedingt im allerbesten Zustand, aber immerhin hatte er sie jetzt endlich in der Hand. Vielleicht war es genau dieses gesuchte Stück Erinnerung an etwas, was noch im Verborgenen lag.

Diese kleine Zwischenerfolg musste zu Hause zelebriert werden. Geradezu feierlich legte er die Platte auf und ließ sich in seinen bequemen Ledersessel fallen. Mit einem Glas Remy Martin in der Hand, an dem er nippte, hörte er als erstes ein heftiges Knistern einer scheinbar ziemlich ramponierten Platte, mit der man offensichtlich nicht schonend umgegangen war. Beim Einsatz der Gitarre und den ersten Takten war ihm diese Nummer so vertraut, als hätte er sie erst gestern selbst live gespielt. Er hatte keinen einzigen Ton vergessen. Es war einer seiner Lieblingssongs, den er mit seiner damaligen Band bei jedem Auftritt gespielt hatte. Das war die Zeit seiner Abenteuer und die Zeit, in der er seine große Liebe fand und sie wieder verloren hatte.

Peter ließ die Platte noch ein paar Mal laufen und hatte dabei einen seiner Einfälle. Wenn sich so eine fixe Idee in dich hineinfrisst wie ein Parasit, gegen den es kein Gegenmittel gibt, dann befindest du dich in diesem Ausnahmezustand, in dem Peter war, als er am Sonntagmorgen erwachte und von seiner Idee immer noch überzeugt war. Plötzlich hatte er etwas in der Hand, was ihm helfen könnte. Er hatte einen Köder. Bei diesem Gedanken kam er sich vor wie Hemmingways „der alte Mann und das Meer“, der hoffte, im weiten Meer endlich seinen großen Fang zu machen. Ebay war das Meer, die Platte war der Köder und der Laptop war sein Fischerboot, von dem er seinen Köder auswarf. Und dazu hatte er dieselbe Hoffnung, den größten Fang seines Lebens zu machen. Unter Ebay Kleinanzeigen gab Peter ein Inserat auf:

Single-Rarität „James Taylor, you`ve got a friend“

B-Seite „you can close your eyes“

Label: Warner Bros., 1971

Zustand: gut, einwandfrei abspielbar

Mindestgebot 5,00 Euro

kein Versand, Abholung bei Angebotsadresse.

Montag, 27. April 2015

Wenn du einen guten Köder hast, und an der richtigen Stelle fischst, dann beißen auch die richtigen Fische. Peters Köder war gut und Ebay ein gutes Gewässer. Schon am nächsten Tag hatte er ein erstes Gebot. Dabei blieb es auch, als die Bieterfrist nach einer Woche abgelaufen war. Am nächsten Tag hatte er bereits eine Gutschrift über Fünf Euro aus seinem Konto. Auftraggeber Emmi Richter. Noch am gleichen Vormittag bekam er per sms die Anfrage, wann die Platte abgeholt werden kann. Peter war genau in dieser Hochstimmung, in der man ist, wenn man das Gefühl hat, dass alles gelingt, was man an diesem Tag anfasst, obwohl es ein trüber und regnerischer Montag im Mai war, und Peter Montage generell nicht mochte. Er schrieb zurück „Vorschlag: Morgen 13.oo Uhr, Adresse s. Ebay“ und bekam unverzüglich ein „ok“ als Antwort.

Dienstag, 5. Mai 2015

War dieser Dienstag der Tag, an dem er das Rätsel lösen konnte? Was sagte sein Bauchgefühl zu Emmi Richter? War sie es? Sein Bauch konnte sich nicht entscheiden, genauso gut hätte Peter eine Münze werfen können. Dennoch, Peters Hoffnungen waren berechtigt und groß. Sogar sein Tageshoroskop hatte ihm eine „interessante Neuigkeit“ prophezeit. Unruhig war sein Vormittag, an dem er die Zeitung besonders langsam las, um so viel Zeit wie möglich totzuschlagen. Da war die Zahl der Erdbeben-Opfer in Nepal von zunächst dreitausend bereits auf sechstausend nach oben korrigiert worden, ein angeblich hunderteinjähriges Erdbebenopfer wurde nach sieben Tage gerettet, und der mittlerweile achte Streik der Lokführer wurde angekündigt. Doch so langsam er auch las, schien die Zeit wieder einmal nicht vergehen zu wollen. Die Zeiger der Uhr sahen so aus, als ob sie am Uhrenblatt festgeklebt wären. Dabei ging ihm der Gedanke durch den Kopf, wie er sie überhaupt auf die Geschichte ansprechen sollte, ohne die Karten auf den Tisch legen zu müssen. Er war ziemlich unsicher, wie er damit umgehen sollte, wenn sie es wirklich war. Sein Masterplan war, sie in ein Gespräch über Musik zu verwickeln. Daraus würden sich bestimmt weitere Ansatzpunkte ergeben. Was konnte schon schiefgehen? Er sah er sich so verdammt nah am Ziel. Es war kurz vor ein Uhr, einige Minuten und wenige Momente vor der Stunde der Wahrheit. Weitere fünfzehn Minuten waren vergangen, als Peter ein sms bekam: „sorry, ich kann die Platte heute leider nicht abholen, geht es morgen, gleiche Zeit?“ Hatte er eine Alternative? Nein, notgedrungen musste er mit „ja“ beantworten, und einen weiteren Tag darauf warten, ob diese Emmi Richter seine „Miss Unbekannt“ war.

Mittwoch, 6. Mai 2015

Den Abend zuvor hatte sich Peter die Platte ein weiteres Mal angehört, immer wieder. Er versuchte sich dabei ein Bild von dieser Emmi Richter zu machen. Egal wie er es drehte und wendete, das Ergebnis war eine attraktive Frau, die in ihrem Tagebuch von sich selbst behauptet hatte, dass sie jeden haben konnte, was immer das auch zu heißen hatte. Auch dieser nächste Vormittag Nummer zwei kam regnerisch kühl und so extrem zögernd daher, als ob er die Sandkörner einer Sanduhr zählen würde. Diese Warterei machte ihn regelrecht verrückt bis er endlich, fünf Minuten zu früh, seine Türklingel hörte. Sein schon erhöhter Puls schoss noch einmal wie eine Rakete nach oben. Peter drückte den Türöffner, ohne die Sprechanlage zu benützen. Die näher kommenden Klack-klack-Schritte im Treppen-haus und das diffuse Licht des Flurs, das ihn zunächst nur die Umrisse einer weiblichen Person erkennen ließ, zerrten weiter an seinen Nerven. Es ist eigenartig, dass ein Mann an dieser Stelle immer das Erscheinen einer attraktiven Frau in einem aufregendem Kleidungsstück erwartet. Dann stand sie vor ihm an der Tür. Die Haare kurz gehalten, die Figur eher fraulich, das unscheinbare Gesicht einer Lieschen Müller in einem etwas aus der Mode gekommenen mausgrauen Kostüm, das Alter nur schwer einschätzbar. Aber freundlich war sie, diese Emmi Richter. Nicht er war es, der sonst so gesprächige und die Initiative ergreifende Peter, sondern diese Emmi Richter, alias Lieschen Müller, die das Gespräch begann in einem fast zu natürlichen Tonfall „Hallo, ich komme wegen der Platte. Tut mir leid, dass ich gestern so kurzfristig absagen musste, aber mein Zahnarzt-Termin hatte viel länger gedauert, als ich gedacht hatte.“ Peter bekam seine Aufregung etwas in den Griff und sagte schließlich: „Kommen Sie doch bitte herein.“ Eigentlich hätte sie ihm gar nicht erklären müssen, dass sie die Platte zum Geburtstag ihres Mannes gekauft hatte, der ein Sammler von alten Singles war und noch weniger hatte sich Peter gewundert, dass sie nicht einmal den Namen James Taylor richtig auf ihr Zettelchen gekritzelt hatte. Sie war es nicht. Nicht die Sängerin, nicht die Tagebuchschreiberin, nicht die, die jeden haben konnte, den sie wollte. Das war einfach Lieschen Müller und sonst niemand. Und doch hielt sich seine Enttäuschung dieses Mal in Grenzen. Warum auch nicht, es war und blieb eine Mission Impossible. Peter nahm es mit Humor und einem Nachmittagsaufenthalt im Biergarten, obwohl es bewölkt war und nach Regen aussah.

and when the night ist cloudy there is still a light that shines on me shine until tomorrow, let it be

Er musste an das Flüchtlingsunglück vor der Küste Siziliens denken, von dem in der Zeitung berichtet wurde, und welche Risiken diese Menschen in Kauf nahmen und wie viele von ihnen in diesem Jahr im Mittelmeer in ihren völlig überladenen und seeuntauglichen Schlauchbooten schon ertrunken waren. Wenn er das reflektierte, dann hatte Peter absolut keinen Grund, unzufrieden mit seinem Leben zu sein. Im Gegenteil, es gab genügend Gründe mehr als zufrieden zu sein oder besser gesagt stolz zu sein. Stolz darauf, diesen langersehnten Auftrag für den Serien-Titelsong in der Tasche oder zumindest so gut wie in der Tasche zu haben. Stolz darauf, seine kleine Künstleragentur wieder au fie Beine gestellt zu haben, stolz darauf nach diversen finanziellen Eng-pässen sein Elternhaus nicht mehr vermieten zu müssen, sondern wieder selbst darin zu wohnen und sich ein vernünftiges Leben leisten zu können. Stolz darauf zu sein, mit der Musik nicht nur den Atlantik und das amerikanische Country hinunter bis zur mexikanischen Grenze, sondern auch viele Städte in Europa gesehen und erlebt zu haben. Stolz darauf zu sein, dass er mit Musikern wie Bobby so viele schöne und erfolgreiche Jahre erleben durfte. Und auch stolz darauf zu sein, dass er immer seine Vision gelebt hat, ohne jemals aufgegeben zu haben. Aber wahrscheinlich ist es dieser immer in uns wohnende Wunsch nach einem perfekten Leben, der uns manchmal verrückte Dinge tun lässt und uns auf eine Suche nach etwas schickt, was es in Wirklichkeit nicht gibt. Peters musikalische Welt war nun perfekt, fast perfekt. Was ihm noch fehlte, war ein charttauglicher Hit, den er noch komponieren wollte, gesungen von einer Stimme, nach der er noch suchte. Aber es gab nicht nur die musikalische Welt, sondern auch die Welt von Adam und Eva. Zu wenig war seine Bereitschaft gewesen, Opfer für Beziehungen zu bringen und doch kam mit der Reife des Lebens dann und wann auch dieses Fragezeichen mit wem er seine schöne Welt teilen möchte. Peter wollte sich lange nicht mit dieser Art von Wahrheit konfrontieren und doch kamen diese Gedanken häufiger als es früher der Fall war. War es die Suche nach einem zur-Ruhe-kommen? Waren das die heimlichen Wünsche seines Unterbewusstseins, die ihn anfällig dafür machten, eine Frau im Nirgendwo zu suchen, weil er eine Art Seelenverwandtschaft vermutete?

Montag, 11.Mai

Ein paar Tage später meldete sich der Produktionsleiter und gab ihm grünes Licht. Die Musterversion, die er an die Redaktion geschickt hatte, war gut angekommen. Nun sollte er die Finalversion anfertigen, die von den Tontechnikern des Senders anschließend auf die einzelnen Filmsequenzen zugeschnitten werden mussten. Zu den vertraglichen Einzelheiten hatte der Sender einen Termin mit Peter in der Münchner Redaktionsleitung vereinbart. Bingo! Peter war im Rennen. Es war eine Nacht, in der er nicht schlafen konnte. Früher hätte er dieses Highlight kräftig in einer der Kneipen begossen, in denen er regelmäßig aus und ein ging. Nun war es anders. Er war nachdenklicher geworden. Zu seinem eigentlich perfekten Leben fehlte etwas. Und es fehlte ihm besonders an diesem Abend, den er dann mit sich selbst und einem Glas seiner Hausmarke unspektakulär auf dem Balkon feierte.

Die Zusage der Redaktion bedeutete Arbeit, Feinarbeit. Für Peter war das kein Problem. Zu gerne war er der Perfektionist, der bis tief in die Nacht an einem Stück arbeiten konnte und dabei nicht müde wurde. Zusätzlich hatte Peter noch eine Newcomer-Band am Haken, von der er sich viel versprach und die eventuell sogar als Vorband tauglich war für die „großen Konzerte“ der angesagten Profibands. Allerdings galt es noch Überzeugungsarbeit zu leisten, was die Programmauswahl betraf. Er kannte natürlich den Ehrgeiz der enthusiastischen jungen Musiker, die eigenen Songs spielen zu wollen, die musikalisch hochwertig und absolut perfekt arrangiert waren. Und doch mussten die vier begabten und sympathischen Typen nach seiner Meinung ihr Programm noch mehr auf das Publikum zuschneiden und mehr Titel zusammenstellen, die vom Ohr direkt in die Füße gingen und einen einprägsamen Wiedererkennungsfaktor hatten. Ansonsten waren sie mitunter das Beste, was er die letzten Jahre zu vermitteln gehabt hatte.

Peter ackerte wie ein Verrückter an seiner Finalversion. Knapp zwei Wochen später hatte er das Ding im Kasten. Der Preis dafür waren zwei Wochen gewesen, in denen er das Haus kaum verlassen hatte, auf das tägliche Studium seiner „Mittel-bayerischen“ verzichtete, sich das Essen beim Lieferdienst bestellt oder auch mal vergessen hatte zu essen und nichts anderes machte, als in seinem Tonstudio zu hocken und pausenlos die gleichen Passagen abhörte, wieder um eine zusätzliche Tonspur erweiterte um am nächsten Tag dieselbe wieder zu löschen und eine neue Spur mit einem anderen Arrangement einzufügen. Aber das Baby war fertig und nach seiner Meinung perfekt und nicht mehr verbesserbar. Doch dann war selbst ein so ehrgeiziger und perfektionistischer Mann wie Peter überreif für eine Abwechslung.

Samstag, 23. Mai 2015, Pfingsten

Unter Abwechslung verstand Peter eine richtige Kneipen-Tour durch die Regensburger Altstadt. Kumpels treffen, Live-Musik hören und über Musik quatschen, ausgelassen sein und hören, was es Neues in der Szene gab. Je nachdem, wen man da so traf, konnte sich dann so eine Tour durchaus bis zum Beginn des nächsten Morgens hinziehen. Das Old Dub war die letzte Station an diesem Samstag-Abend, der schon eher ein Morgen geworden war. Peters Alkoholpegel befand sich bereits im fortgeschrittenen Stadium. Dennoch hatte er vorgehabt, mit Mike, dem Wirt, über die Willkommensparty für Tommi zu sprechen, die im Grunde genommen ein Musikertreffen werden sollte, bei dem sich die Musiker aus der Szene die Klinke in die Hand gaben. Aber anstatt Mike zu Gesicht zu bekommen, hatte die Band, die an diesem Abend zu später Stunde noch ihr bestes für ein schon ziemlich angeschlagenes Publikum gab, seine Aufmerksamkeit erweckt. Es war nicht die spindeldürre Sängerin, ein junges Ding um die Zwanzig mit jeder Menge Piercings im Gesicht und wer weiß wo sonst noch, die ihn auf eigenartige Weise in seinen Bann zog. Und es war nicht die Band selbst, die im Vergleich zur Sängerin eher ältere Herren waren und optisch so wenig zu ihr passten wie die Regensburger Domspatzen in ein Bierzelt. Diese Klassiker, die sie nahezu perfekt herunterspielten, waren es, die ihn so neugierig gemacht hatten. Das waren eindeutig einige der Evergreens, von denen seine unbekannte Miss King in ihrem Tagebuch diese Textzeilen aufgeschrieben hatte. Konnte das ein Zufall sein? Oder war er schon zu betrunken? Peter war auf alle Fälle nicht zu betrunken, um nach dem letzten Musikstück einen der Musiker anzusprechen: „Geiler Sound“. Der Mann am Bass, der offensichtlich auch schon etwas tiefer ins Glas geschaut hatte, brachte nur ein unver-ständliches Grunzen über seinen Lippen, nickte aber gleichzeitig in die Richtung, in der der Gitarrist gerade dabei war, den Abgang von der Bühne zu machen. Peter versuchte es bei diesem in einem zweiten Anlauf. „Sag mal, wie seid ihr zu der Kleinen gekommen?“ Der Typ grinste wie ein Zirkuspferd „Is gut die Kleine, wa? War`n Groopie, hab sie von der Straße, hat natürlich erst mal lernen müssen, was gute Musik ist. Jetzt hat sie`s voll drauf.“ „Ja Mann, die hat echt eine gute Röhre!“, bestätigte Peter den offensichtlichen Bandleader. „Wie sieht es mit einer Runde für die Band aus?“, fragte Peter, um ins Gespräch zu kommen und noch mehr zu erfahren. „Lass gut sein Mann, bin heute schon ziemlich alle“, zog eine etwas zerknitterte Visitenkarte aus seiner Hosentasche und murmelte ein „CRASH, is` Christoph, Rambo, Archie, Stefan und Honey, kannste n`Mail schicken, wennste unsre Tour-Daten brauchst oder n`guten Gig für uns hast“, und dann war der Typ hinter dem Bühnenausgang ver-schwunden wie der Rest der Band. Sie hieß also Honey, diese dürre Sängerin, an der ungefähr so viel süß war wie an einer handelsüblichen Essiggurke. Aber die Stimme war schon okay.

Dienstag, 2.Juni 2015

Verrücktes Wetter dieses Jahr 2015. Zuerst zu kühl, dann so heiß und gewittrig, dass sogar das „Rock-Am-Ring abgebrochen werden musste. Offensichtlich nicht weniger verrückt war es, wochenlang einem Phantom nachzujagen, und dabei jedesmal gewaltig auf die Nase zu fallen. Es sind die Schatten der Nacht, die manchmal seltsame Dinge mit dir machen. Sie spielen mit dir in deinen Träumen, flüstern dir etwas ins Ohr und am Morgen wirst du wach und du hast einen Befehl von deinem Unterbewusstsein bekommen und du weißt nicht mal warum. Peter saß an einem weißen Flügel. Seine Finger flogen wie von selbst über die glänzend polierten Tasten. Er fühlte sich in einer Art schwebendem Zustand. Es war eine sehr große Bühne. Er be-gleitete sie, als sie „the rose“ von Bette Middler sang. Dann setzte ein Applaus ein, der nicht aufhören wollte, nicht einmal als ein junger Mann, der wie Tommi aussah, mit einem silbernen Akten-Koffer voller Geldscheine auf die Bühne kam. Der Aktenkoffer-Boy sagte nur „eure Gage“ und verstreute die Geldscheine wie Konfetti. Dann flatterten plötzlich hunderte von Geldscheinen auf der Bühne herum wie Schmetterlinge. Als Peter nach einem der Scheine greifen wollte, erwachte er aus seinem Traum an diesem Dienstagmorgen. Ein Dienstag wie jeder andere. Zumindest fast wie jeder andere, und einen Tag, bevor Tommi zurückkam.

Peter war nicht mehr im Cafe gewesen, seit er sich in sein Projekt vertieft hatte und in der darauffolgenden Woche einfach seinem menschlichen Bedürfnis nachgegangen war, am Vormittag lange auszuschlafen und den Tag spontan zu gestalten. Doch dieser Dienstag war anders als sonst. Sein Platz im Cafe war besetzt. Das war ihm bisher nur ein oder zweimal passiert und nie hatte er sich die Frage gestellt, warum sein Platz immer frei gewesen war. An diesem Dienstag war es anders und es gab einen triftigen Grund dafür.

Er stand immer noch am Eingang und war unschlüssig. Sein Herz hatte wild zu pochen begonnen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefasst hatte und schließlich ging er an den Nachbartisch, der frei war. Er musste nachdenken, was er jetzt tun sollte. Eine Sie saß an seinem Platz, alleine. Lange dunkle Haare, Mitte vierzig, modisch gekleidet, ein makelloses Gesicht und soweit er das in der Sitzposition beurteilen konnte, eine schlanke Figur. Beim Vorbeigehen nahm er den dezenten Duft von Jean Paul Gaultier wahr. Eine Erscheinung, die wie das I-Tüpfelchen seinem Phantombild entsprach, das er sich von seiner imaginären „Miss Tagebuch“ gemacht hatte. Mein Gott, was jetzt? Er hatte diesen Traum, das Tagebuch-Rätsel aufzulösen, ausgeträumt, und genau dann taucht sie einfach so auf, aus dem Nichts. Sie saß nur da. Auf ihrem Tisch stand ein Latte Macchiato und ein Glas Wasser. Etwas kleines Schwarzes lag vor ihr auf dem Tisch, das einem kleinen Taschenbuch sehr ähnlich sah. Es war nicht genau zu erkennen, weil diese große Lattetasse genau davorstand. Sie wirkte sie sehr ruhig, weder das An-zeichen eines Lächelns noch das geringste Anzeichen von Anspannung waren zu erkennen. Ab und zu den Blick auf das schwarze kleine Ding vor sich gerichtet, von dem Peter nicht wusste was es war. Peter beobachtete das Szenario eine gute viertel Stunde lang und versuchte sich währenddessen eine Strategie zurecht zu legen. Dabei ging ihm zu viel durch den Kopf. Ideenlos saß er einfach da, belauerte sie und wartete ab, was als nächstes passieren würde. Aber es passierte auch die folgenden fünfzehn Minuten nichts. Erst als sie der Bedienung mit einer Handbewegung ein Zeichen gab, dass sie zahlen wollte, musste Peter ultimativ aktiv werden und aus seiner Beobachtungsstarre erwachen. In diesem für ihn entscheidendem Moment war ihm offensichtlich alles egal. Ohne Plan und ohne eingeübten Text stand er unvermittelt wie ein tolpatschiger Hinterwäldler mit hämmerndem Herzen auf und versuchte in ihren Blickwinkel zu gelangen, bevor die Bedienung ihren Tisch erreicht hatte. In diesem Moment läutete ein zu aufdringlicher Schikki-Mikki-Tussi-Klingelton genau an der Stelle, an der Peter ein Tagebuch vermutet hatte. Zum Glück hatte er ihren Tisch nicht so schnell erreichen können, wie sie das Handy an ihr Ohr gepresst hatte: „Hallo Mutti, bist du jetzt fertig?“ Und nach einer kurzen Pause „Okay, dann kann ich vorher noch schnell Andreas von der Fahrschule abholen.“ So spontan, wie Peter aufgestanden war, so abrupt versuchte er nun stehenzubleiben. Beinahe hätte er den Eindruck erweckt, wie ein Zechpreller abhauen zu wollen. Die Bedienung zumindest hatte ihm einen eigenartigen Blick zugeworfen und nicht einmal jetzt registrierte er, dass Susi heute nicht arbeitete. Peter konnte Situation gerade noch retten, dass er seine Schrittrichtung wie ein Tänzer um neunzig Grad wendete und einen Toilettengang vortäuschte, den er allerdings auch dringend nötig hatte.

Das war er also, der nächste Irrtum. Eigentlich hätte es ihm auffallen müssen, dass ihr Make-up, ihre auffällig lackierten Fingernägel und das etwas zu schicke Täschchen nicht zu einer Frau passten, die alle möglichen anderen Sorgen hat, als sich catwalklike in der Cafe-Haus-Szene zu präsentieren. Einmal mehr hatte sich Peter zum Narren gemacht. Aber hinterher ist man bekanntlich immer schlauer als vorher. Egal wie du es drehst und wendest, Versuch und Irrtum gehören im Leben zusammen wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, auch an diesem schwülwarmen Dienstag im Juni.

Let it be. Let it be let it be, let it be whisper words of wisdom, let it be

Zufall

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