Читать книгу Geheimauftrag für SAX (4): SPECTATOR II - Hymer Georgy - Страница 9
Kapitel 1: Das letzte Rennen vor Ultimo.
ОглавлениеTschechische Republik. Brno (dt. Brünn), in der Region Südmähren (Jihomoravský kraj). Knappe zwei Monate vor dem Start der VEGA-Rakete mit dem „Spectator“-Satteliten an Bord. 14. September 2014. Das letzte Rennen vor Ultimo.
Der Lamborghini Gallardo schoss bei einer Geschwindigkeit von nahezu einhundertundsechzig Stundenkilometern mit etwas driftenden Reifen um eine Rechtskurve der Rennstrecke, dicht gefolgt von einem Ferrari 430 GT3 und einem Mercedes SLS. Staubfontänen nebelten die Umgebung ein. Seit einigen Wochen hatte es hier nicht geregnet, der Asphalt wirkte aufgeweicht und flimmerte in der spätsommerlichen Sonne. Der Klimawandel zeigte auch hier seine Wirkung.
Der Fahrer, der die Spitzengruppe anführte, gab sogleich wieder mehr Gas und raste nun die kurze Gerade in südwestlicher Richtung entlang, während die beiden anderen Fahrzeuge gefährlich dicht in seinem Windschatten blieben. Das sportliche Feld folgte den Ausreißern nur eine knappe Sekunde später. Zuletzt gab es zwei Nachzügler in gehörigem Abstand, die kaum mehr Chancen auf einen Sieg besaßen.
Der Kurs des WTTC lag seit 1987 im Waldgebiet Podkomorské lesy zwischen Ostrovačice und Žebětín. Zwar hatte es bereits seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Brünn eine Rennstrecke gegeben, lange bevor Mähren dann noch vor dem zweiten Weltkrieg Deutsches Reichsprotektorat wurde, jedoch bestand diese lediglich aus abgesperrten ansonsten öffentlich befahrbaren Straßen. Die ersten Sieger des „Großen Preises der Tschechoslowakei“ auf dem insgesamt geschichtsträchtigen Rennkurs wurden zu damaliger Zeit Heinrich-Joachim von Morgen und Prinz Hermann Viktor Maximilian zu Leiningen mit dem legendären Bugatti T35B; zwei deutsche Rennfahrer, die auch hiernach noch einige Erfolge verbuchen konnten. Doch das war Geschichte, und zuweilen versunken im allgemeinen Vergessen. Nur eine kleine bebilderte Ausstellung im Hauptgebäude des Motorsportverbandes erinnerte noch an jene frühen Tage. Im Zuge zunehmenden Sicherheitsbewusstseins hatte man 1985 mit dem Neubau einer Rennstrecke innerhalb des alten Circus begonnen. Seit deren Fertigstellung gab es dort nun jährlich eine Anzahl landeswichtiger motorsportlicher Ereignisse, aber nur wenige von internationalem Rang. Eines der letzteren war der oft immer noch so genannte „Herbstpreis“, der inzwischen jedoch offiziell umgetauft war.
Die „Masaryk Racing Days“ waren in vollem Gange. Der finale Lauf der Division 4, bei dem sich die besten Tourenwagenfahrer Mitteleuropas maßen, befand sich in seinen letzten fünf Runden. Es sah im Moment fast so aus, als würde diesmal Lamborghini das Rennen für sich entscheiden, aber noch war das Rennen nicht zu Ende. An die tausend Zuschauer mochten das Geschehen auf dem Gelände verfolgen, verteilt auf die verschiedenen Schikanen der Strecke, der überwiegende Teil davon im Bereich des späteren Zieleinlaufes oder eingangs der berüchtigten „Omega-Kurve“. Überall wehten große tschechische Fahnen, die Flaggen des Motorsportverbandes und jene aller anderen beteiligten Nationen von den Masten, und es mangelte auch nicht an Werbebannern zahlreicher Sponsoren.
Günter Freysing stand inmitten einer lose verteilten, aber nicht geringen Anzahl Schaulustiger unter einem aufgesetzten Strohhut am nordöstlichen Ausläufer der Piste nah am Geschehen und setzte das kleine Fernglas ab, mit dem er die sich etwas entfernter abspielende Szenerie beobachtet hatte. Das, was er dann kurz von oben herab zu dem kleinwüchsigen Einheimischen neben ihm sagte, ging im Lärm der nahenden Motoren und dem aufkommenden Beifall der Zuschauer unter.
Der angesprochene, Ernö Kicsi, war zwar ungarischer Abstammung, lebte aber seit seinem siebenten Lebensjahr im heutigen Tschechien, welches damals noch Teil der zerfallenen Tschechoslowakei gewesen war. Er mochte mitte fünfzig sein, wirkte aber älter, maß knapp einen Meter siebenundfünfzig, wenn er wie jetzt Schuhe mit extrahohen Absätzen trug, und besaß ein wettergegerbtes, runzeliges Gesicht. Seine dunkelbraun nachgetönten Haare waren an den Stirnseiten schon etwas zurückgegangen und dabei kurz und kraus. Er trug ein fast fieses, offenmundiges Grinsen zur Schau, das jeden halbwegs intelligenten Menschen davon abhalten sollte, einen Gebrauchtwagen von ihm zu erwerben. Das, was er Freysing anzubieten hatte, war jedoch ganz anderer Natur, und der deutsche Agent instinktiv misstrauisch genug für diesen Handel. Sax überlegte, was er aus der Datenbank des BND sonst noch über den gebürtigen Magyaren wusste.
Ernö Kicsi, Mitte der Neunzehnhundertsechziger Jahre zusammen mit seinen Eltern Arpad und Réka nach Prag übergesiedelt, hatte er dort zunächst die Schulbank gedrückt und war dreisprachig aufgewachsen. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Universität konnte er aufgrund seines ausgezeichneten Hochschulabschlusses in ein bekanntes ursprünglich deutsches Maschinenbauunternehmen eintreten, in welchem er zeitlebens arbeitete. Dieses, bereits 1889 als „Königsfelder Maschinenfabrik“ gegründet und zunächst auf den Bau von Straßen- und Eisenbahnwaggons spezialisiert, beschäftigte sich in der Zeit, als sich Ost und West nach dem zweiten Weltkrieg waffenstarrend feindselig gegenüberstanden, zunehmend mit der Entwicklung und Produktion von petrochemischen Stoffen. Vom politischen System der elterlichen Wahlheimat nicht überzeugt und zudem ständig knapp bei Kasse, war Kicsi 1981 eine leichte Beute für die Anwerber des BND in Gestalt eines Mannes, den Günter Freysing einige Jahre später selbst als August in Leipzig kennenlernte, gewesen. Diese suchten zu jener Zeit politikbestimmt im „Ostblock“ willfährige Informanten in rüstungsnahen Betrieben für die Humint-Aktivitäten des westdeutschen Auslandsgeheimdienstes. Da man seinerzeit hinter der Entwicklungsabteilung des Unternehmens eine geheime Forschungseinrichtung für Chemiewaffen vermutete, war es ins Visier des BND geraten, und Ernö Kicsi hatte nach seiner Rekrutierung regelmäßig Informationen aus dem Werk beschafft. Das blieb auch so, nachdem der Ostblock längst zusammengebrochen war, nur waren diese Informationen nun nicht mehr so wertvoll wie früher, und wurden freilich auch schlechter bezahlt.
Günter Freysing kannte dieses Spiel nur zu gut. Auch er war schließlich vor vielen Jahren auf diese Weise angeworben worden, zunächst als „Insider“ der Revolution in der DDR; später hatte er Geschmack an der Geheimdienstarbeit gefunden und wurde wegen seiner Fähigkeiten in den operativen Agentendienst berufen. In der Zeit nach der „Wende“ und dem baldigen Abschluss seines Studiums war Freysing einige Male im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes im zusammenbrechenden Ostblock tätig gewesen. Stets ging es dabei um heikle, zuweilen gar lebensgefährliche Missionen. Doch seit dem verhängnisvollen Jahr 2001, als islamistische Terroristen zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers von New York steuerten und damit das Gesicht der Welt veränderten, hatte sich auch sein Tätigkeitsbereich schnell verlagert. Anstelle von Osteuropa standen der Nahe Osten und Nordafrika mehr auf seiner Reiseliste. Jedoch kannte er Tschechien sehr gut, und er war auch schon drei, viermal in Brno gewesen. Die heute etwa vierhunderttausend Einwohner zählende Stadt war, das wusste er, neben Prag die bedeutendste Metropole des Landes und mit vielen Forschungseinrichtungen und Industriebetrieben auch ein wichtiger Messeplatz – und damit ein Tummelplatz der Wirtschaftsspionage.
Der Bundesnachrichtendienst beorderte seinen besten Mann nunmehr eigentlich aus nur einem Grund nach so langer Zeit erneut hierher: Jener Führungsagent, der die Kontrolle über Kicsi ausübte, ein Mann namens Marius Holler, den Freysing nicht persönlich kannte, hatte sich seit einigen Tagen nicht mehr routinemäßig gemeldet. Auch in der deutschen Residentur in Prag, wo der Spion ein offizielles Büro als mittlerer Beamter unterhielt, wusste man nichts über dessen weiteren Verbleib, außer dass er nach Brno hatte fahren wollen, angeblich um sich mit verschiedenen Kontakten zu treffen.
Früher einmal, im kalten Krieg, wäre ein solches Ausbleiben eines führenden Agenten sehr besorgniserregend gewesen, und man hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Heute jedoch, da sich Ost und West näher gekommen und Internationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität und Wirtschaftsspionage mehr in den Fokus der Geheimdienste gerückt waren, bedeutete das Verschwinden eines Mannes in einem osteuropäischen Land nicht mehr unbedingt gleich dessen Entführung oder Ermordung – wenngleich genau jener kalte Krieg zwischen Russland und den westlichen Staaten durch die gefährlichen Entwicklungen in der Ukraine im Laufe des Jahres wieder deutlich angeheizt worden war.
Ein wichtiger Mensch im Ministerium hatte Generalmajor Stoessner, seit einiger Zeit ja Freysings Vorgesetzter beim BND, jedoch entweder eines Anderen überzeugt oder unter leichten Druck gesetzt, und so war der Agent zu diesem eher unscheinbaren Auftrag von ihm in Marsch gesetzt worden. Schon länger war da ein schöner, leider viel zu kurzer Urlaub mit seiner neuen Lebensgefährtin Katie bei St. Aygulf an der französischen Mittelmeerküste zu Ende gegangen, die er im Zuge der „Stahlmann-Verschwörung“ kennen und lieben gelernt hatte. Nun war Sax mitten in seinem neuen Fall drin, immerhin. Wenn auch in einem, wie er fand, eher tristen.
Sax betrachtete die Suche nach Marius Holler nicht als besonders wichtig. Natürlich verschwanden BND-Führungsagenten nicht jeden Tag, eigentlich kam es so gut wie nie vor. Dieser hier war weder sonderlich bedeutend noch ein außergewöhnlicher Geheimnisträger, und so würde sich am Ende wahrscheinlich herausstellen, dass sein Verschwinden sehr trivialen Gründen unterlag oder auch nur temporär war.
Freysing hatte in den letzten beiden Tagen bereits drei Kontaktleute, also „Spione“ im eigentlichen Sinn dieses Wortes, aus bedeutsamen Werken und verschiedenen Forschungseinrichtungen der Region getroffen, welche Holler in unregelmäßigen Abständen Informationen lieferten. Keiner der Befragten wusste etwas über dessen Verbleib auszusagen. Ernö Kicsi war der vierte Versuch, vielleicht doch etwas Sachdienliches zu erfahren. Der nicht ganz freiwillige Wahltscheche schien allerdings mehr daran interessiert, sein Material zu verkaufen, bevor es durch das Verstreichen von Zeit noch mehr an Wert verlor.
Die Spitzengruppe des Rennens durchfuhr nun die Omega-Kurve, und in der kurzen Lärmpause bis zum Herannahen des Feldes schrie der vertikal gehandicapte Unsympath ungeduldig zu Freysing hinauf: „Wollen Sie es nun haben, oder nicht?“
„Geben Sie her!“, meinte dieser ruhig, wenn auch ebenfalls laut.
Ernö lachte. Es war ein recht dreckiges Lachen, das zu seinem stetigen Grinsen passte: „Zeigen sie mir erst mal das Geld. Ich kenne sie schließlich nicht!“
Freysing fasste genervt in die Tasche seiner beigen Sommerhose, die ihn wie das fast gleichfarbige Poloshirt und der leichte Sommerstrohhut vor der Sonne schützten. Seine Hand kam mit einem zusammengefalteten Briefumschlag heraus, der, wie er wusste, fünfundzwanzig nicht banderolierte Zweitausend-Kronen-Banknoten enthielt. Er hatte sie am Samstagmittag am Bahnhof besorgt, ohne sich von den gewerblichen Geldwechslern dort im Tauschkurs über den Tisch ziehen zu lassen - kurz nachdem er mit Kisci telefoniert und die Verabredung für den Sonntag getroffen hatte. Fünfzig-tausend Tschechische Kronen, das waren gegenwärtig nicht mehr als ungefähr 2000 Euro, aber viel mehr war das, was Ernö zu bieten hatte, wohl auch nicht wert. Den Preis hatte der Informant - angeblich - noch mit Holler ausgemacht gehabt.
„Wir können es natürlich auch lassen!“, sagte Freysing knapp und wollte die Hand mit Umschlag und Geld sogleich wieder in der Hosentasche verschwinden lassen. Seine weiteren Worte gingen im Lärm des auf der Rennstrecke vorbeirasenden Feldes unter, aber als der letzte Wagen, etwas abgehängt, vorbeifuhr, reichte ihm der Mann nicht sichtbar für eventuelle Beobachter und ziemlich heimlich tuend eine kleine, flache Speicherkarte, wie sie noch in Bilderkameras Verwendung findet.
Freysing nahm sie entgegen, atmete kurz durch und steckte sie dann in einen kleinen Schlitz seines Fernglases, der einigermaßen so aussah, als gehöre er zur Tragschlaufenbefestigung. Dann hielt er das Fernglas in die Höhe und schien den Fahrzeugen hinterher zu blicken, die sich gerade noch weiter durch die Omega-Kurve bewegten. Anstelle der Rennwagen erblickte er darin nach entsprechender Justierung einer Stellschraube jedoch nun den Dateninhalt der eingeschobenen Speicherkarte: Eine Reihe von Dokumenten, die Ernö offenbar heimlich mit einer Digitalkamera fotografiert hatte. Das ermöglichte unter gewissen Lichtverhältnissen bessere Fotos, als die Miniobjektive in einem Smartphone. Die Seiten klickten automatisch annähernd im Sekundentakt weiter.
Der Inhalt war für Freysing nicht sehr verständlich, offenbar ging es um irgendwelche hitzebeständigen Kunststoffbauteile, und so setzte er das spezielle Fernglas, ein nützliches kleines Agentenwerkzeug, wieder ab, nachdem er ein gutes Dutzend Bilder betrachtet hatte. Er reichte Kisci den Geldumschlag, der sofort etwas verstohlen nachzählte, ohne dass die sie umstehenden Rennzuschauer dies mitbekamen. Der Informant schien zufrieden, aber Freysing war es noch nicht.
Die Fahrzeuge hatten sich weit von der Schikane entfernt und erreichten in den nächsten Sekunden bereits die gegenüberliegende Seite des Parcours, daher konnten sie sich nun für eine kurze Weile in beinahe gedämpfter Lautstärke unterhalten.
„Gut!“, bestätigte Freysing den nicht ganz astreinen Deal nun schnell. „Aber deswegen bin ich eigentlich nicht hergekommen.“
Kisci knurrte kurz. Dann meinte er: „Sie sagten mir, dass Herbst, der mir sonst das Geld mitbringt, seit ein paar Tagen verschwunden ist. Aber ich habe ihnen bereits am Telefon klar gesagt gehabt, dass ich auch nichts mehr von ihm gehört habe. Nicht mehr, seitdem ich ihm die Kostprobe gegeben hatte.“
Herbst, so war Freysing informiert, lautete der Deckname von Holler gegenüber dessen hiesigen Kontakten. Mit Kostprobe meinte Kisci die Fotografien von zwei Seiten eines Dokuments über die Forschungen in dem Werk, in dem er arbeitete. Wie immer hatte er zunächst nur einen Teil herausgerückt, um sicherzugehen, dass er auch eine korrekte Bezahlung für seine Informationen erhielt. Wenngleich er in den langen Jahren seiner geheimen Tätigkeit eigentlich gute Erfahrungen mit den Deutschen machte, war er stets von Misstrauen geprägt gewesen, ob man sein Engagement wirklich richtig zu würdigen wusste.
„Erzählen Sie mir etwas über ihn!“ forderte Sax.
Ernö zierte sich nur kurz. Er war fast sicher, die Deutschen diesmal mit seiner Forderung nach fünfzigtausend Kronen etwas übervorteilt zu haben, da waren ein paar zusätzliche Auskünfte durchaus mit im Preis enthalten. „Herbst?“, begann er. „Ich kenne ihn nur von den gelegentlichen Treffen persönlich, nicht weiter privat. Er ist bereits seit knapp acht Jahren mein Kontaktmann zu euch. Wir haben uns immer in Brno getroffen, nie außerhalb, oft auch hier, und soweit ich weiß ist er stets in einer kleinen Pension in der Mendlovo náměstí abgestiegen.“
Das war für Freysing alles nicht neu. Genauso stand es in den Unterlagen, die er vom Dienst in Berlin und von der Botschaft in Prag bekommen hatte. Freysing war im gleichen Haus untergekommen und noch in der ersten Nacht vorsichtig in das Zimmer Hollers eingebrochen, um nach Hinweisen zu suchen. Die Pensions-mitarbeiter hatten das Zimmer noch nicht ausgeräumt gehabt, denn Holler war ein zuverlässiger Gast und der Aufenthalt durch Kreditkarte abgesichert – da spielte es keine Rolle, wenn er für ein paar Tage dort nicht nächtigte. Die Aktion blieb ergebnislos, er fand lediglich Hollers Laptop, nahm diesen mit und achtete im Übrigen darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Auch in den Dateien des Gerätes gab es jedoch keine Hinweise zu den Gründen dessen Verschwindens zu entdecken.
„War diesmal alles genau so, wie sonst auch?“, fragte er den Infomanten.
Kisci nickte: „Außer eben, dass er sich nach dem ersten Kontakt nicht mehr gemeldet hat, schien alles in Ordnung. Nur über den von mir geforderten Betrag hat er wie immer etwas gemault – aber das war normal“, grinste er.
„Und Sie haben sich direkt beim ersten Treffen mit ihm erneut verabredet?“
„Ja, wie immer. Für letzten Dienstag. Im Lokal auf der Festung. Aber er kam nicht.“
Die barocke Festung Špilberk, gelegen auf einer Anhöhe im Zentrum, ist eines der hervorstechendsten Bauwerke der Stadt an der Svratka. Das gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts renovierte Anwesen besitzt eine genauso wechselvolle Geschichte wie die Stadt selbst und diente als bedeutendstes Bollwerk Mährens im 18. Jahrhundert unter anderem als Kaserne und Gefängnis. Heutzutage als historisches Baudenkmal mit zahlreichen architektonischen Sehenswürdigkeiten Ausflugspunkt vieler Touristen und der einheimischen Bevölkerung, ist sie im Sommer Ort künstlerischer Darbietungen, vor allem klassischer Konzerte. Ein sogenanntes Carrilon, ein großes Glockenspiel, sorgt stündlich durch die hellen Klänge einer von über dreißig verschiedenen Kompositionen für Aufmerksamkeit und ist trotz Verkehrslärms der Umgebung vor allem in den Abendstunden auch noch im näheren Umkreis zu hören. Ein belebter, idealer Ort, um sich zufällig und ohne Aufsehen zu erregen zu treffen, dachte Sax.
Einige Minuten lang unterhielten sie sich über den gewöhnlichen Ablauf der sonst jeweils geplanten Verabredung und darüber, ob es irgendwelche Auffälligkeiten vor Ort gegeben habe - Vielleicht Personen, die ihn beobachtet hätten. Aber der kleine Informant verneinte sogleich selbstbewusst: „Bin ja kein Anfänger!“.
Die rasenden Fahrzeuge näherten sich erneut dem Standort Freysings und Kicsi´s; die weiteren Worte, die letzterer sagte, gingen für Dritte unhörbar im Lärm unter.
Der Dreiergruppe voran hatten sich nun zwei weitere Fahrzeuge angeschlossen, aber die Spitzenformation war immer noch die gleiche, wie in der Runde zuvor. Doch das Rennen schien kurz vor dem Ende insgesamt noch einmal schneller zu werden.
„Was haben Sie dann gemacht?“ fragte Freysing, nachdem sich das Feld wieder von ihnen entfernt hatte.
„Was denken Sie? Ich war sehr haragszik! Es war nicht einfach, das ganze Dokument zu fotografieren, und ich hatte das Geld schon eingeplant!“
„Haben sie nicht versucht, ihn anzurufen?“
„Natürlich habe ich das. Aber das Handy war tot.“
„Tot? Keine Mailbox?“
„Nur die Ansage, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei. Ich konnte nichts hinterlassen. Aber glücklicherweise haben Sie mich ja gefunden!“ Er zeigte erneut sein schiefes Grinsen und lachte dabei kurz laut auf.
„Das ist in der Tat ungewöhnlich! Das mit dem Handy…“
Freysing dachte nach, während sie gemeinsam weiterhin die finalen Runden des Rennens beobachteten. Keine neue Spur. Wo sollte er weiter suchen? Er fand, dass er hier seine Zeit verschwendete. Selbst wenn der gebürtige Ungar etwas wusste, würde er es ihm wohl nicht unbedingt mitteilen. Vielleicht war es angebracht, mit etwas weiterem Geld nachzuhelfen. Er atmete tief durch und sog die von den Motoren der Tourenwagen verpestete Luft ein, während sein Kontakt schwieg. Als die Fahrzeuge sich schließlich dann zum letzten Mal durch die Omega-Kurve drängten, sagte Ernö doch noch etwas:
„Ich weiß aber, dass er ein Mädchen hier hatte!“
*
Günter Freysing ließ sich von einem Taxi zur Kollárova bringen, die ihm Ernö Kicsi als Adresse des Mädchens genannt hatte. Der Fahrer, ein Student, der das noch aus Ostblockzeiten stammende Vehikel steuerte, war glücklicherweise einer der wortkargeren Sorte. Er chauffierte ihn unmittelbar nach dem Ausgang des Rennens in einer guten halben Stunde zügig und schweigsam über den neugebauten innerstädtischen Autobahnring mit dem Pisárky- und Königsfelder Tunnel in das eng bebaute Gelände nordöstlich des Stadtzentrums. Im Radio spielten sie etwas Älteres von Katka Koščová, einer eher national bekannten Popsängerin.
Dass Marius Holler eine romantische Beziehung in Brno hatte, war in dessen BND-Dossier nicht vermerkt und auch der Botschaft in Prag offiziell unbekannt. Andererseits war es auch nichts Weltbewegendes – Holler war weder verheiratet noch sonst wie anderweitig fest liiert, sodass er diesbezüglich eigentlich tun und lassen konnte, was er wollte. Solange es keine geheimdienstliche Relevanz besaß! Der Häuserblock, in dem sich die Appartementwohnung der Frau namens Irina Nohydlouhý befand, die Herbst bestieg (wie Kisci sich unfein ausdrückte) lag beinahe direkt an der den hiesigen Ortsteil durchziehenden und auch am Wochenende gut befahrenen Verkehrsader Palackého třída - in unmittelbarer Nähe der technischen Universität. Hier hoffte Freysing die Antwort auf ein paar Fragen zu finden.
Ernö hatte ihm nicht viel über die Frau erzählen können, lediglich deren Namen, dass sie sehr hübsch sei und mit Marius Holler wohl schon eine ganze Weile zusammen. Vor einem halben Jahr etwa habe er einmal nach einem Treffen mit Herbst ein Stück desselben Weges gehabt und sei ihm dabei eher zufällig gefolgt, bis ihm die gutaussehende, dunkelhaarige Frau mit den langen Beinen aufgefallen war, die zu diesem in der Altstadt in den Wagen einstieg. Daraufhin habe er die beiden in einem von ihm angehaltenen Taxi weiter verfolgt, nur so zum Spaß, wie er behauptete. Sie waren nach Kralovo Pole hinausgefahren und dort gemeinsam in einem Wohnblock verschwunden. Erst sehr viel später habe er einmal versucht, herauszufinden, wer sie sei, und schließlich tatsächlich ihren Namen herausbekommen können.
Freysing erahnte, dass Ernö den beiden bestimmt nicht nur so zum Spaß gefolgt war, sondern um vielleicht ein wenig mehr über den Deutschen zu erfahren, der ihm seine Informationen abkaufte, und um im Falle eines Falles sich mit diesem Wissen freikaufen zu können. Falls man ihn einmal bei seiner Arbeit erwischte. Er beschloss, Ernö Kicsi in der Zentrale als Sicherheitsrisiko einstufen zu lassen, damit vielleicht nachfolgende Führungsagenten gewarnt seien. Hatte der Informant mit dem Verschwinden zu tun? Und war Holler zu vertrauensselig gewesen?
Nachdem er den Taxifahrer entlohnt hatte, verharrte Freysing vor dem alten Gebäude in der baumbestandenen Einbahnstraße und betrachtete die vierstöckige alte Fassade, aus der zahllose Fenster mit Scheibengardinen auf die Straße hinunter zu starren schienen. Viele davon standen in Anbetracht der warmen Wetterlage gekippt, bei manchen drang Musik in einer Kakophonie unterschiedlicher Stilrichtungen heraus. Sax trat zum Hauseingang heran und besah sich die etwa dreißig fast ausnahmslos tschechischen für Fremde schier unaussprechlichen Namen der Bewohner an einer oftmals korrigierten Klingelschildgruppierung. Er erblickte den gesuchten nach einem kurzen überfliegen und drückte einmal kurz und einmal lang auf den Knopf. Es handelte sich nicht etwa um ein besonderes Klingelzeichen, sondern stellte nur sicher, dass sowohl eine Dauerklingel als auch ein Türgong ordentlich anschlagen würden. Nach zehn Sekunden wiederholte er den Vorgang und sah zu den Fenstern hinauf. Anhand der Position des Klingelknopfes in der Leiste konnte er nicht abschätzen, ob Irina Nohydlouhý nach vorn heraus zur Straße wohnte, oder nicht.
Zwei Minuten verstrichen, in denen er den mäßigen Verkehr auf der ein Stück weiter hinunter vorbeilaufenden Hauptstraße beobachten konnte. Heute, am Sonntag, waren dort lediglich Personenwagen unterwegs; an Werktagen mussten wohl die LKW und Lieferwagen dicht an dicht folgen. In der schmalen, abschüssigen Seitenstraße gab es lediglich parkende Fahrzeuge. Gerade, als er sich entschloss, einfach bei ein paar anderen Mietern zu läuten, um sich zunächst Zutritt zum Hausflur verschaffen, meldete sich eine etwas verschlafene weibliche Stimme aus der altbackenen, analogen Gegensprechanlage. Es waren nicht viele Worte, nur so etwas wie ein landesübliches „Wer ist da?“ in einer Stimmlage, die zwar melodisch klang, jedoch eine deutliche Gereiztheit nicht vermissen ließ.
„Mein Name ist Günter. Ich bin ein Freund von Marius!“, antwortete Sax in fließendem und kaum hörbar akzentuiertem tschechisch. Es war nicht schwer für ihn gewesen, in den frühen neunziger Jahren diese Sprache zu erlernen und später zu verbessern; russisch konnte er da bereits ohnehin seit Schulzeiten nahezu perfekt sprechen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann meldete sich die Frau erneut. „Kommen Sie rauf. Dritter Stock links“, sagte die Stimme am anderen Ende und schien auf einmal hellwach zu sein. Freysing entging der Unterton nicht, er war jetzt sehr gespannt. Der Türsummer ertönte, und er trat ein. Es gab keinen Aufzug in dem vierstöckigen Gebäude, so nutzte Sax das gepflegt wirkende Treppenhaus nach oben. Im Gegensatz zum äußeren Anschein schien es sich um eine passable Wohnadresse zu handeln. Die großen Fenster waren hier sämtlich schallisoliert und ließen den Verkehrslärm draußen. Freysing hörte irgendwo im Haus eine Tür schlagen, etwas Kindergeschrei, gefolgt von etwas, das sich anhörte wie zwei Ohrfeigen, und einem Weinen. Dann war es plötzlich recht Still. Niemand begegnete ihm auf dem Weg nach oben. Die Menschen waren mit ihren persönlichen Sonntagabendprogrammen beschäftigt, aber womöglich gab es hinter dem einen oder anderen dunklen Türspion einen Rentner, welcher ein aufmerksames Auge in den Außenflur warf. Schemel mit kleinen Pflanzentöpfen zierten hier und dort den Gang und mochten von älteren weiblichen Bewohnern des Blocks liebevoll gepflegt werden.
Die Nohydlouhý betrachtete den Ankömmling scheinbar etwas aufgeregt von der halb offenstehenden Wohnungstür aus, als er vom Treppenabsatz in den kurzen Seitengang hinein einbog, und er wurde sich bewusst, dass er mit seiner Sommer-kleidung, dem Strohhut und dem Fernglas, das er immer noch umhängen hatte, im Halbschatten ein recht merkwürdiges Bild abgeben musste. Die Frau entsprach der kurzen Beschreibung, die Kisci geliefert hatte. Sie war jung, vielleicht Mitte oder Ende Zwanzig, hochgewachsen, dunkelhaarig mit einem hübschen, modischen Kurzhaarschnitt, und besaß markante slawische Gesichtszüge. Sie trug eine Kombination aus dreiviertellanger enger Blue-Jeans im „used-look“, lockerem gelben T-Shirt mit dem Emblem von Pussy Riot und sichtlich nichts darunter, sowie Sandaletten, das alles sie sämtlich offenbar in großer Eile übergezogen hatte. Ihre außergewöhnlich langen nicht bestrumpften Beine waren in der Tat eine Augenweide, und nicht nur diese. Sie hielt den Kopf etwas schräg gelegt und sah insgesamt sehr verführerisch aus, obwohl sie genau diesen Eindruck bei ihrem überraschenden Besuch ganz bestimmt nicht absichtlich erwecken wollte.
Freysing konnte gut verstehen, dass sich ein Mann schnell in sie verknallen mochte. Sie hätte problemlos mit den Models in Zeitschriften wie der Elle oder dem Bazaar mithalten können. Ob sie auch wirklich liebenswert war, konnte im Augenblick allerdings wohl nur Holler wissen. Ein Kind von Traurigkeit schien sie aber kaum zu sein. Jedenfalls sagten ihm das die halb leere Flasche Wodka und ein einzelnes hohes Glas mit Lippenstift daran auf dem Tisch, welche er an ihr vorbei durch den kurzen Flur in der Wohnung erblickte. Dabei wirkte sie nicht im Geringsten betrunken.
„Wissen Sie etwas von Marius? Wo ist er denn?“, platzte sie bereits heraus, als er sich ihr näherte. Dann fügte sie hinzu: „Aber vielleicht sollte ich sie doch erst einmal hereinbitten.“
Sie sprach sehr schnell, beinahe ohne Punkt und Komma – fast wie damals seine Jugendliebe Sieglinde Stern, wie er sich da spontan erinnerte. Er folgte ihr, die Tür nach dem Eintreten hinter sich sanft schließend, in das einzige Zimmer der kleinen Wohnung und suchte Platz zu schaffen auf demjenigen der drei Stühle, der nicht allzu sehr von Kleidungsstücken oder Zeitschriften belegt war. Der Raum hatte etwas organisiert-unaufgeräumtes an sich. Auf jeden Betrachter mochte es wie ein heilloses Chaos wirken, während die Besitzerin sicher alles, was sie eventuell suchte, binnen Sekunden ohne langes Nachdenken fand. Irina machte es sich selbst sofort auf dem offenen Bettsofa mit unordentlich herumliegender Decke bequem, in dem sie wohl den Nachmittag schlafender Weise verbracht hatte. Sie setzte sich mit seitlich angewinkelten Beinen quer darauf an die Wand. Über ihr prangte ein großer, beinahe obszöner, schwarzweißer Frauenakt-Druck des Künstlers Jiri Ruzek und schien ein unbewusstes Spiegelbild ihrer selbst zu sein. Der Titel war klein darunter vermerkt: „Wanna have fun…“.
„Lassen Sie immer fremde Männer so schnell in ihre Wohnung?“, fragte Freysing daher spitz, nachdem er auf dem von ihm freigemachten einfachen Stuhl gegenüber Platz genommen hatte. Sie schmollte etwas, gab aber keinen Kommentar zu seiner frivolen Vermutung ab. „Sie haben gesagt, sie seien ein Freund von Marius. Nicht viele Leute wissen, dass ich mit ihm zusammen bin. Und er besitzt eine gute Menschenkenntnis. Sie wüssten es sicher nicht, wenn er es nicht wollte“, meinte sie stattdessen.
„Er arbeitet in Prag, Sie hier…“, setzte er an. Doch sie plapperte gleich wieder drauflos.
„…ja, ich bin hier in der Nähe in einer Klinik für plastische Chirurgie beschäftigt. Hatte heute den Tag über leider Dienst und mich gerade hingelegt, als sie klingelten. Aber nun sagen sie schon, was ist mit Marius? Wir hatten uns am Samstagabend vor einer Woche treffen wollen, aber er ist nicht gekommen. Gar nicht seine Art. Ich habe versucht ihn anzurufen, aber vom Handy kam nur die Nachricht, dass er im Moment nicht zu erreichen sei. Später war es dann ganz tot!“
„Und normalerweise ist er für Sie zu erreichen?“
„Ja. Eigentlich schon. Wir haben sonst immer jede Woche zwei bis dreimal miteinander telefoniert, wenn wir uns schon nicht sehen konnten.“
„Vielleicht hat er ja eine andere?“, reizte er sie, und Irina schmollte erneut.
„Niemals! Er weiß schließlich, was er an mir hat!“ stellte sie überzeugt fest. „Und ich würde ihm die Augen auskratzen, wenn er zusätzlich was mit einer anderen anfinge!“
Erst jetzt fielen Freysing die relativ langen, gepflegten aber unlackierten Fingernägel auf, die so gar nicht zu einer Krankenschwester passen wollten. Und schon gar nicht zu einer Ärztin. Er fragte sich selbst, was genau Irina wohl in der Klinik arbeitete, wollte von Irina allerdings etwas anderes wissen: „Sie hatten sich also für das letzte Wochenende mit ihm verabredet. Hat er gesagt, warum er herkommen wollte – außer um Sie zu sehen?“
„Irgendeine Messe. Sie sollten doch wissen, dass er so eine Art Handelsattaché bei eurer Botschaft in Prag war und daher oft in Brno zu tun hatte.“
Er nickte. Brno war unter anderem auch ein bedeutendes Messezentrum Osteuropas, und genau dies war die Tarnung des deutschen Führungsagenten für seine oftmalige Anwesenheit in der Stadt gewesen. Hatten die Tschechen einen Verdacht geschöpft?
„Wir wollten abends essen gehen, und dann…“, lachte sie, den Satz unvollendet lassend, wie um sich selber etwas die Spannung zu nehmen. „Marius ist ein ganz liebenswürdiger Mann. Eigentlich ist er ja für mich zu alt, aber er hat das gewisse Etwas… - und ich dachte, sie könnten mir sagen, wo er ist.“
Sie wirkte enttäuscht, und Sax sah es ihr an. „Ich hatte eher umgekehrt gehofft, von Ihnen etwas zu erfahren“, bedauerte er. „Auch ich war mit Marius verabredet, allerdings heute auf dem Rennkurs. Er ist nicht aufgetaucht, und da dachte ich, schau doch mal, wo er sich so rumtreibt. Marius hatte mir mal von Ihnen erzählt.“
„Und auch, wo ich wohne?“, fragte sie sofort skeptisch und zog dabei ein Gesicht, als handele sich um einen üblen Vertrauensbruch.
„Das war wirklich nicht schwer, herauszufinden.“
„Ich stehe nicht im Telefonbuch!“ Der Dreiklang der Türglocke unterbrach ihre Unterhaltung und befreite ihn erst einmal von der Notwendigkeit, sich eine gute Lüge einfallen zu lassen, um ihr glaubhaft zu machen, wie er an ihre Adresse gelangt war. Schließlich konnte er nichts von Ernö und Hollers geheimer Tätigkeit erzählen, wollte aber andererseits ihr Vertrauen gewinnen, um möglicherweise mehr zu erfahren.
„Erwarten Sie noch jemanden?“ Sax runzelte die Stirn und war sofort auf der Hut.
„Nein. - Das heißt, vielleicht ist es ja Marius!“
Sax glaubte das nach den bisherigen Ermittlungen eher weniger. Fast schon euphorisch sprang Irina jedoch auf und lief die wenigen Schritte zur Tür, während Freysing sich ebenfalls erhob und zum Fenster trat, das tatsächlich zur Straßenseite führte. Es war fest geschlossen, leicht schmutzig, und eine Scheibengardine in angegrautem Weiß deckte es zu Dreivierteln ab. Er sah hinaus und erblickte auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Skoda Octavia 1.8 im silberblauen Design der Exekutivbehörden. Gleichzeitig hörte er in der Gegensprechanlage, vor der Irina jetzt stand, die Worte Kriminalistický ústav. Tschechische Kriminalpolizei!
Das war Freysing nun gar nicht recht. Er wusste, dass die Polizei des Landes gut geschult und misstrauisch gegenüber allen Fremden war, aufgrund der historischen Zusammenhänge zuweilen eben auch besonders gegenüber Deutschen. Er hatte schon früher mit der Polizei des Landes zu tun gehabt, ´90 oder ´91 war das wohl erstmals gewesen, bei einem kleinen Zuträgerjob, als diese noch VB - Veřejná bezpečnost - hieß, jedoch zu der Zeit eher mit der Abteilung Sbor národní bezpečnosti - und der kommunistischen Geheimpolizei Státní bezpečnost, dem berüchtigten SB. Seitdem hatte sich strukturell viel geändert, aber viele der Männer waren auch nach der Polizeireform übernommen worden und weitestgehend die gleichen geblieben. Weshalb aber waren Sie hier? Gar Seinetwegen? Oder wegen Irina?
Nun, er würde es gleich erfahren, denn Möglichkeiten, sich noch schnell unbemerkt aus dem Staube zu machen, gab es nicht. Das Appartement bestand neben dem kurzen Flur nur aus einem einzigen Zimmer, der angrenzenden kleinen Kochnische und einem Badezimmer mit Toilette. Durch das Fenster ging es drei Stockwerke hinab in die Tiefe, und nach oben führte das Treppenhaus auch nur noch eine Etage sowie in den Dachstuhl weiter aufwärts.
Die Polizisten kamen nun bereits die Treppe herauf, nachdem Irina ohne großes Zögern die Haustür über den Summer aufgedrückt hatte. Es waren zwei Beamte in Zivil, welche ihre Ausweise in den Händen hielten, während sie sich an Irina vorbei in das Appartement drängten, und diese dann wieder wegsteckten. Beide waren fast gleich korrekt in Anzüge von der Stange gekleidet und schwitzten trotz der frühen Abendstunde etwas unter dem derben, nicht klimatisierten Stoff. Der eine, ältere, mochte bereits auf die Rente zugehen, sein großes, vierkantiges Gesicht bedeckten graumelierte dichte Haare. Er war ungefähr so groß wie Freysing und besaß eine sportlich trainierte ebenbürtige Figur. Sax erkannte auf den ersten Blick, dass es sich bei ihm wohl um einen alten Kämpen aus der kommunistischen Zeit handeln musste. Der Polizist stellte sich sogleich mit langsamer, tiefer Stimme als Oberinspektor Derek Blansko vor und schien etwas überrascht, einen Besucher hier anzutreffen.
Der deutlich jüngere der beiden Beamten war kleiner, schmächtiger, mit einem sonnenbebrillten Dreiecksgesicht, und eher ein ziemlicher Frischling. Weder machte er sich die Mühe, seinen Namen oder Rang zu nennen, noch wurde er von Blansko namentlich benannt. Zu viert war das Appartement schon beinahe übervölkert.
„Und Sie sind?“, fragte der Ältere den anwesenden Freysing, dabei ohne es besonders zu zeigen oberflächlich amüsiert dessen Outfit mit Strohhut und Fernglas betrachtend, welche beides er auch in Irinas Wohnung bisher ja nicht abgenommen hatte. „Freysing!“, stellte der sich vor. „Günter Freysing. Günter ohne „H“ und Freysing mit Ypsilon.“ - Blansko lächelte dazu nicht einmal ansatzweise.
„Deutscher?“, fragte er stattdessen misstrauisch.
„Ja!“, gab der Agent nickend zu verstehen.
„Ausweis!“ – Blansko streckte fordernd seine flache linke Hand aus, keinen Widerspruch duldend.
Sax zog seinen deutschen Personalausweis aus der Hosentasche und reichte diesen seinem Gegenüber. Der Beamte nahm ihn entgegen und betrachtete sich die Plastikkarte einige Sekunden lang sehr genau, ohne sie anschließend direkt zurückzugeben. „Der Anlass ihres Besuches in der Tschechischen Republik?“, fragte er stattdessen.
„Der Herbstpreis!“, antwortete Freysing mit fester Stimme mit leichtem Schulterzucken, und hielt anschließend wie zur Unterstreichung kurz das umgehängte Fernglas etwas hoch.
„War ein spannendes Rennen, nicht? Ich hab´s leider nur im Radio verfolgen können. Schön für Sie, das Mercedes gewonnen hat!“ Der Beamte schien auf etwas zu lauern.
„Ich bin sicher, am Schluss hat Lamborghini die Nase vorn gehabt!“, entgegnete Freysing, nicht in die simpel gestellte Falle einer Falschbehauptung tappend, mit welcher Blansko prüfen wollte, ob Sax die Veranstaltung wirklich verfolgt hatte. Der Polizist brummte kurz und wandte sich dann der Frau zu. Vielleicht machte er sich so seine Gedanken über den Deutschen, ließ es sich aber nicht anmerken, falls er irgendeine Art von Verdacht hegte.
„Sie sind Irina Jakuba Nohydlouhý?“, fragte Blansko dann, den Blick auf die Wohnungsinhaberin gerichtet. Es war allerdings viel mehr eine Feststellung, als eine Frage.
„Ja!?“ Anders als zuvor bei Freysing plapperte sie nun nicht einfach drauflos, sondern hielt sich im Zaume, und ein skeptisches „warum?“ schwang in ihrer Antwort mit. Offenbar war sie misstrauisch gegenüber den Staatsorganen ihres Landes; vielleicht hatte sie in noch jüngeren Jahren schlechte Erfahrungen gemacht. Ihr aufmüpfiges Shirt verriet die Rebellin in ihr.
Blansko gab seinem Assistenten ein kopfnickendes Zeichen, der daraufhin eine Fotografie aus der inneren Brusttasche seiner Anzugjacke hervorbrachte. Auf ihr waren der Kopf mit geschlossenen Augen sowie der nackte Oberkörper eines Mannes zu erblicken; die fleischigen Stellen wirkten aufgedunsen. Das Bild zeigte ganz offenbar einen Toten mit wirrem Haar, und Freysing war innerlich ziemlich entsetzt, als er auch auf die Distanz sofort sah, um wen es sich dabei handelte.
„Kennen Sie diesen Mann?“, fragte der Assistent nun Irina, ihr das Foto fast direkt vors Gesicht haltend.
Sie schrie kurz auf! Als Klinikmitarbeiterin, die sie zumindest vorgab zu sein, hatte auch sie sofort erkannt, dass das Foto eine Leiche zeigte. „Mein Gott, das ist Marius!“, schluchzte sie.
„Marius?“ Möglicherweise hatte Blansko eine andere Antwort erwartet. Augenblicklich war Irina nun in Tränen ausgebrochen und blickte kurz hilfesuchend zu Freysing hinüber, der ihr aber gegenwärtig nicht beistehen wollte. Ganz im Gegenteil. Die Lage wurde kompliziert. Holler tot! Ein Adrenalinstoß ging durch den Agenten: Die in Berlin heruntergespielten Befürchtungen hatten sich offenbar doch bewahrheitet.
„Marius Holler. Mein… Freund.“, ergänzte Irina.
„Der Name dieses Mannes ist Marius Holler, da sind Sie sich ganz sicher?“
Sie nickte schluchzend und wandte das Gesicht von dem Foto ab. Der Assistent drehte sich um und zeigte die Aufnahme Freysing. Dieser nickte ebenfalls, um nach einem kurzen Blick darauf Irinas Aussage zu bestätigen: „Ja. Das ist Marius Holler.“
„Woher kennen Sie ihn?“ Sax entging nicht, dass die Art der Befragung nun an Schärfe zunahm. Er antwortete schnell, aber nicht zu schnell: „Er arbeitet für die deutsche Botschaft in Prag. Wir hatten mal geschäftlich miteinander zu tun, und sind so etwas wie gute Bekannte geworden.“ Freysing wiederholte kurz die Geschichte mit der Verabredung auf der Rennstrecke, die er auch Irina aufgetischt hatte, und bemühte sich, nicht allzu sehr ins Detail zu gehen, um keinen Ansatz für Widersprüchlichkeiten zu bieten. Bei der Erwähnung der deutschen Botschaft hatte sich der ältere Polizist zu Freysing umgewandt und die Augenbrauen hochgezogen. Diplomaten… das machte es kompliziert. Vielleicht erinnerte er sich auch an die historischen Begebenheiten dort. Prag hatte seinerzeit eine wichtige Rolle gespielt beim Fall des eisernen Vorhangs.
„Was ist ihm passiert?“, fragte Freysing dann selbst. „Als ich das letzte Mal mit Marius telefonierte, klang er sehr lebendig.“
„Wann haben Sie denn zuletzt mit ihm telefoniert?“
„Vor gut zwei Wochen. Da habe ich ihm gesagt, dass ich zum Rennen herkomme und es doch nett wäre, mal wieder ein paar Litovel miteinander zu zischen…“
„Und die Nohydlouhý?“ – unterbrach ihn Blansko. Er sagte es so, als befände die Frau sich überhaupt nicht mit im Raum. Freysing setzte ein anzügliches Grinsen auf.
„Marius hatte mir mal von Irina erzählt. Als er dann heute nicht zum Rennen kam, habe ich gedacht, ich schau mal vorbei wo der Knabe steckt – oder in wem.“
„Sie machen sich sehr viele Sorgen um einen Bekannten!“
„Um einen guten Bekannten!“ stellte Freysing, nun wieder ernster, fest.
„Gab es einen Grund, sich Sorgen zu machen, außer, dass er nicht zu ihrer Verabredung kam?“
„Eigentlich nicht. Aber wo ich nun schon einmal hier war…“
„Was genau hat er denn in der Botschaft gearbeitet?“
„Er hatte mit Außenhandel zu tun.“ - Freysing blieb bewusst oberflächlich.
Der Beamte war offenbar mit der Antwort nicht recht zufrieden. „Ich muss sie beide bitten, uns zu begleiten“, forderte er in einer Weise, die keine Alternative ließ.
„Aus welchem Grund?“, wagte Freysing zu fragen.
„Sie müssen den Toten identifizieren!“, erwiderte Blansko gleichmütig.
„Was ist denn nun eigentlich mit ihm passiert?“
„Wir haben ihn gestern Mittag aus dem Stausee gefischt.“ Ein kurzer Aufschrei von Irina war abermals zu hören.
Die zwischen 1936 und 1940 errichtete Brněnská přehrada oder übersetzt die Brünner Talsperre, welche die Svratka staut, lag etwa acht Kilometer nordwestlich des Stadtzentrums und war ein beliebtes Freizeitgebiet. Freysing konnte sich gut vorstellen, wie erschrocken der ein oder andere Camper oder die Urlauber auf den Elektrobooten gewesen sein mochten, als die Wasserleiche entdeckt wurde. „Ein Unfall?“, fragte er, um Gleichgültigkeit bemüht.
„Kaum.“ - Mehr sagte der Beamte erst mal nicht. Sie verließen Irinas Wohnung und begaben sich gemeinsam in dem Polizeifahrzeug, das der Assistent steuerte, zur Städtischen Leichenhalle. Die Fahrt dorthin verlief eher schweigend. Irina weinte leise und wirkte dabei in sich gekehrt, Freysing war zwar betrübt, aber hauptsächlich professionell gespannt. Zum einen wollte er natürlich nun mehr über Hollers gewaltsamen Tod erfahren, zum anderen aber nicht sich selbst ins Visier weiterer Ermittlungen der Tschechischen Polizei begeben.
Als ein Bediensteter der Gerichtsmedizin die Kühlfach-Schublade öffnete und den Leichnam Hollers heraus zog, erkannte Freysing, was Blansko damit gemeint hatte, es sei kaum ein Unfall gewesen. Im Unterbauch des BND-Offiziers befanden sich drei deutlich sichtbare tiefe Einstichstellen, wie sie nur von einem Messer mit besonders breiter Klinge stammen konnten. Sie waren vom ausgetretenen Blut gereinigt, sahen aber dadurch nicht minder hässlich aus. Freysing tippte auf eine Art Kampfmesser, wie es Elitesoldaten tragen. Das Foto hatte die Einstiche nicht gezeigt, da darauf nur Kopf und Oberkörper abgebildet gewesen waren. Zweifellos war Holler ermordet worden, laut des Gerichtsmediziners bereits vor etwa einer Woche, möglicherweise sogar eher. Die Frage war nun, wo, von wem und warum. Für die Polizei standen jetzt zunächst Freysing und die junge Frau, die Marius´ Geliebte war, auf der Verdächtigenliste, das war ermittlungsbehördliche Routine. In Deutschland wäre dies nicht anders.
Nachdem sie den Toten identifiziert hatten, wurden sie von Blansko und seinem Kollegen weiter ins Polizeipräsidium in der Kounicova 24 gefahren, wo man sie eine Weile lang in getrennten, jedoch nicht allzu zu strengen Verhören befragte. Freysing übernahmen dabei jene beiden Beamten, die sie auch hergebracht hatten. Blansko, der sich nebenbei höflich einschmeichelnd und anerkennend über das gute Tschechisch Freysings äußerte, ging sehr sorgfältig vor: Ein erfahrener Beamter, der sicher nicht einfach auszutricksen war. Freysing musste für die digitale Aufzeichnung alles wiederholen, was er bereits in Irinas Wohnung und danach in der Leichenhalle ausgesagt hatte, dann stellte Blansko detailreich gezielte Fragen und wiederholte auch die eine oder andere in abgewandelter Form, um vielleicht einen Wiederspruch zu erzeugen. Sax fiel nicht darauf herein – seine agentendienstliche Grundschulung beinhaltete die Vorbereitung auf derlei Situationen. Etwas heikel wurde es lediglich, als Blansko nach Freysings derzeitigem Logierort fragte. Die kleine Pension unweit der Festung in der Innenstadt war eben auch die Unterkunft Hollers gewesen, und aufgrund der Meldebestimmungen würde der Polizist das sicher schnell herausfinden. Sax entschloss sich daher, seine gegenwärtige Adresse wahrheitsgemäß anzugeben, denn auch hier würde eine Lüge nur mehr Verdacht erzeugen. Er begründete das sogar damit, dass die Pension ihm einmal von Holler selbst empfohlen worden war.
Während der Zeit der Befragung lagen der Strohhut und das Fernglas mit der Speicherkarte von Kisci darin auf Blanskos Schreibtisch, aber glücklicherweise warf der Beamte keinen Blick in letzteres hinein. Das hätte dann in der Tat problematisch werden können. Spionage war mit Bestimmtheit kein Kavaliersdelikt, schon gar nicht aus Deutscher Richtung. Der Agent vermied es, dauernd zu dem verräterischen Glas hinzusehen.
Freysing und Irina erfuhren ihrerseits, weshalb die Polizei auf letztere gekommen war. Zwar hatte Holler keinerlei Ausweispapiere mit sich geführt, jedoch ein kleines Amulett, in welchem sich ein winziges Bild von Irina befand. Das hatte Blanko im Zuge seiner Ermittlungen mit gespeicherten Bilddaten verglichen und der Computer hatte Irinas Namen gefunden. Sie war dort registriert, weil sie einige Male an politischen Demonstrationen teilgenommen und kurzzeitig festgenommen worden war. Die Daten hätten inzwischen gelöscht sein müssen, es war mehr als fünf Jahre her, aber nicht immer und überall funktioniert der Datenschutz wirklich – und in dem Fall war auch sicher bei der Polizei niemand besonders unglücklich darüber.
Beide, Irina und Freysing, wurden nochmals gefragt, woher sie einander kannten, aber auch hier sagten beide übereinstimmend korrekt aus, dass sie sich heute erst kennengelernt hatten. Das entsprach den Tatsachen und keiner von ihnen musste diese besonders ausschmücken. Alles in allem schienen Blansko und sein Assistent mit dem Ergebnissen der Befragung dann doch erst einmal zufrieden zu sein.
Es war gegen 22 Uhr, als sie gemeinsam entlassen wurden und mit einem Taxi zunächst zu Irinas Wohnung zurückgelangten. Als sie vor dem Wohnblock hielten, nahm er sie auf der Rückbank kurz in seine Arme, um ihr so etwas wie Trost zu spenden. „Es ist schlimm!“, meinte er. „Falls ich irgendetwas für Sie tun kann…“
„Ich möchte jetzt allein sein!“, wies sie ihn jedoch an, während sie sich schnell löste und aus dem Fahrzeug ausstieg. Sie verabschiedete sich von Freysing und verschwand, ohne sich noch einmal umzublicken, in dem Wohnblock, während er dem Taxifahrer seine gegenwärtige Unterkunft als nächstes Fahrtziel angab. Er war erleichtert darüber, sich nicht weiter mit Irina und ihrer offenbar echten Trauer beschäftigen zu müssen. So etwas wie Mord kam vor in seinem Beruf. Er hatte oft damit zu tun. Für Irina war der Tod vielleicht nichts gänzlich Fremdes, aber Mord, dazu an ihrem Geliebten, besaß freilich eine ganz andere Dimension.
Nachdem er in die Pension zurückgekehrt war, tippte er seinen Bericht ins Ipad und übermittelte diesen, eine speziell verschlüsselte Internetverbindung nutzend, an die Zentrale. Außerdem stellte er einige kleine Anfragen. Herauszufinden, warum Holler ermordet worden war, musste nicht zwingend seine Aufgabe sein. Die Tschechische Polizei war an der Sache dran, und da es sich bei Holler um einen Botschaftsangestellten handelte, konnte weiteres auf Internationaler Polizeiebene und über den Auswärtigen Dienst geklärt werden. Von dort aus würde man sich auch mangels Angehöriger – laut Dossier gab es keine näheren Verwandten - um die Überführung des Leichnams nach Deutschland kümmern.
Blansko hatte ihm zu verstehen gegeben, sich zur Verfügung zu halten. Das jedoch war nicht unbedingt Freysings Absicht. Seinen Ausweis hatte er nun wieder. Er würde so schnell wie möglich abreisen, wenn Stoessner dem zustimmte. Mit einer Weisung von dort war aber sicher nicht vor dem nächsten Morgen zu rechnen. Sax beschloss, sich nach einer Kurzdusche schlafen zu legen und verbrachte unbeschadet der zutage getretenen Erkenntnisse eine ruhige Nacht.
*
Nach einer ausgiebigen Morgentoilette und einem anschließenden noch ausgedehnteren Frühstück im kleinen Speiseraum der Pension schaute Sax in sein Ipad und fand dort tatsächlich bereits die Informationen vor, um die er gebeten hatte.
Über Irina waren keine Daten vorhanden. Kisci war dem BND hingegen genau bekannt, es gab keine besonderen Vorkommnisse in der langjährigen geschäftlichen Verbindung. Somit gab es eigentlich keinen besonderen Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen, aber Stoessner schien zu der Überlegung gekommen zu sein, seinen Agenten erst einmal noch vor Ort zu belassen. Es gab keine Rückkehrorder, sondern den Auftrag, sich um Hollers Nachlass zu kümmern. Sicher würde die Polizei diesbezüglich heute Morgen noch in der Pension erscheinen, um das Zimmer Hollers zu durchsuchen, aber bereits bei einem Einbruch am Anreisetag hatte Sax dort nichts entdecken können, was den Mann mit dem deutschen Geheimdienst in Verbindung brachte. Blansko war ein erstklassiger Polizeibeamter, aber auch dieser würde nichts finden können, wo nichts zu finden war.
Den Laptop Hollers hatte Freysing da bereits sichergestellt, aber unter den gegebenen Umständen wäre es fatal, wenn man diesen bei ihm entdeckte. Daher änderte er alle Einstellungen und gehackten Schlüsselcodes auf dem Gerät so, dass er es jederzeit als sein eigenes ausgeben konnte. Die persönlicheren Dokumente Hollers darauf löschte er nach Übertragung in eine gesicherte Cloud mit einer speziellen Software seines eigenen Kleinrechners gänzlich, und zwar derart, dass sie wirklich gelöscht waren und auch nicht mehr rekonstruiert werden konnten.
Er blickte auf die Uhr und überlegte, ob er in Hollers Zimmer etwas vergessen haben mochte, als das Telefon auf der Frisierkommode klingelte. Es war ein beinahe altertümliches Scheppern eines ebensolchen, weinrot mit Samt bezogenen Apparates, keiner dieser allgegenwärtigen melodischen Klänge. Die Polizei? Freysing ging hinüber, nahm ab und meldete sich mit seinem Namen.
„Sie sind auf der Suche nach Marius Holler“, stellte eine unbekannte männliche Stimme am anderen Ende der Leitung fest, ohne dass ein Name genannt wurde.
„Schon möglich“, erwiderte Sax. Wenn es die Polizei war, wollte er sich keine Blöße geben. Er traute Blansko und dessen Leuten durchaus so etwas zu. Allerdings besaß das gesprochene Tschechisch desjenigen am anderen Ende der Verbindung einen deutlichen ostdeutschen Akzent. „Wer ist dort?“, fragte er, bekam aber keine Antwort darauf.
„Vielleicht kann ich ihnen helfen“, fuhr die Stimme stattdessen fort. „Kommen Sie zur Burg Veveří. Wir treffen uns dort um ein Uhr.“
„Wie erkenne ich Sie denn?“, wollte Freysing noch wissen, doch da war das Gespräch bereits von der anderen Seite her beendet gewesen. Nachdenklich legte auch er auf.
Kurz nachdem er die Pension verlassen hatte, fuhren der Skoda mit Blansko und dessen jüngerem Kollegen sowie ein Minibus voller Spurensicherungsspezialisten vor, um sich des Zimmers Hollers anzunehmen und dieses auszuräumen.
Freysing hielt ein Stück weiter die Straße herunter ein Taxi an und ließ sich von diesem hinaus zum Stausee bringen. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, noch etwas herauszufinden, dann dort, wo Holler zu Tode gekommen war. Was hatte der Agent bei dem Stausee gewollt? Ein konspiratives Treffen mit einem anderen Kontakt? Die Befragung der anderen V-Leute hatte nicht auf ein solches hingewiesen, aber der Anruf wies auf das Gegenteil hin.
Als das Taxi bereits den Stadtteil Bystrc verlassen hatte, glaubte der Agent, wie immer sehr achtsam, dass dem Taxi ein anderes Fahrzeug folgte, aber im fließenden Verkehr der Route 324 verlor er es schnell wieder aus den Augen und dachte nicht länger darüber nach.
Die genaue Fundstelle Hollers lag in einer stillen, abgelegenen kleinen Einbuchtung im nordwestlichen Teil des Stausees, wohin die Leiche durch die Strömung getrieben worden und erst einige Tage später entdeckt worden war. Trotz des goldenen Herbstwetters schienen nur wenige kleine, schnittige weiße Einhandsegelboote auf dem Stausee unterwegs. Burg Veveří war schon von weit her zu erblicken, sie lag genau in jener Gegend, die für die Ermordung Hollers in Frage kam. Diese konnte irgendwo dort, oder aber im oberen Verlauf der Svratka geschehen sein. Das mochte sicher auch der Polizei bewusst sein, aber Freysing rechnete eher nicht mit diesbezüglich besonderem Enthusiasmus der Ermittler, der sich zunächst einmal auf das nähere persönliche Umfeld des Deutschen aus Prag konzentrierte.
Freysing überlegte: Wenn er herausfand, wo genau Holler umgebracht worden war, dann ergab sich vielleicht eine Spur, die ihn zu dem Warum führte. Falls es mit dessen geheimdienstlichen Aktivitäten zu tun hatte, lag es nicht im Interesse des BND, dass die tschechische Polizei dies ebenfalls in Erfahrung brachte. Das war es, was Stoessner mit Kümmern Sie sich um Hollers Nachlass meinte, und Sax war eigentlich entschlossen, dies schnell und unauffällig abzuwickeln, und dann aus dem Land zu verschwinden. Der Anruf hingegen zog ihn tiefer in die Sache hinein. Er war angespannt und ließ sich vom Taxi direkt bei der Burg absetzen, die hoch auf einer Anhöhe etwa zwei Kilometer Luftlinie vom Fundort der Leiche aufragte. Sie war nordöstlich der Talsperre von einem Autohof abgesehen das einzige nennenswertere Anwesen auf dieser Seite der Flusses, bei dem Holler vielleicht etwas gewollt haben konnte. Gegenüber sah dies freilich völlig anders aus, dort war alles sehr touristisch ausgelegt.
Bei seiner Ankunft wirkten die verschiedenen teilweise eingerüsteten Gebäudeteile mit ihren hellen Renaissance-Fassaden und beinahe roséfarbenen Spitzdächern im Sonnenlicht märchenhaft schön. Das ohnehin gut erhaltene Bauwerk aus dem frühen 17. Jahrhundert mit seinen weitläufigen Befestigungsanlagen aus Gräben, Schanzen und Bastionen, welches sich seit fast hundert Jahren im Staatsbesitz befindet, wurde gerade aufwändig restauriert. Seine Ursprünge ließen sich einer Informationstafel zufolge sogar bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen. Eine Weile lang ging Freysing im Gelände umher, konnte aber niemanden ausmachen, der ihn vielleicht suchte.
Vom äußeren Wehrgang aus bekam man einen weiten Blick über die südöstlich gelegene dichte Waldlandschaft, durch welche sich die Svretka wand, die nahe des Fußes der Burg eine moderne nicht recht ins Bild passende schmale Spannbogen-brücke unterquerte. Alles wirkte äußerst friedlich und überhaupt nicht gefährlich.
Bis zum Treffen um ein Uhr blieb noch eine Weile Zeit, und bislang war Freysing noch von niemandem angesprochen worden. Er schloss sich daher einer kleinen Führung an, während welcher er weiter erfuhr, dass 1881 der Finanzmagnat Moritz Hirsch Gereuth zunächst Eigentümer der böhmischen Königsburg wurde. 1908 verbrachte dann der damals erst dreiunddreißigjährige Winston Churchill, seinerzeit britischer Handelsminister, einen Teil der Hochzeitsreise hier mit seiner frisch angetrauten Frau Clementine Hozier. Und im letzten Weltkrieg sei sie dann ein Wehrmachts- und SS-Lazarett gewesen. Es war eine recht bewegte Geschichte. Der Agent hörte aufmerksam zu und erinnerte sich hierbei einmal mehr der Worte seiner Ausbilder in jungen Jahren: Alles kann wichtig sein.
Falls Holler tatsächlich selbst hier gewesen war, würde das sicher einen besonderen Grund gehabt haben. Der Mann aus Prag war kein Tourist!
Die Zeit schien stehengeblieben zu sein in den Räumlichkeiten. Es gab typisches Mobiliar, Wandregale voller alter Bücher und Staffeleien mit den Konterfeis von Erbauern und zwischenzeitlichen Bewohnern aus verschiedenen Epochen. Die Erklärungen in den einzelnen verschiedenen Zimmern erfolgten auf Tschechisch und wurden dann in zwei Sätzen zusammengefasst in schlechtem englisch wiederholt, aber Freysing bekam keine Probleme damit, den längeren Ausführungen in der Landessprache zu folgen.
Als die Führung zu Ende ging und sich die buntgemischte Schar der übrigen Teilnehmer allmählich verstreute, zog Freysing ein Foto Hollers aus der Tasche, das aus dessen Personalakte stammte und ihn sehr lebendig zeigte. Er hielt es dem Leiter des Rundgangs, einem älteren Bediensteten der Burgverwaltung, unter die Nase. Dieser verneinte jedoch glaubwürdig, dass er den Mann darauf erkenne. Gut, es war einen Versuch wert gewesen, aber Holler besaß eigentlich ein Allerwelts-gesicht und verstand es wie jeder gute Spion, sich unauffällig zu verhalten.
Wieder im Freien, musterte Freysing - ohne sie jeweils anzustarren - die sich hier befindlichen Touristen. Er hielt seinen Blick mehr in die Natur gerichtet. Ein einsames Eichhörnchen kreuzte ein Stück weiter flink seinen Weg, erklomm dann geschickt eine Kastanie und verschwand im oberen sich bereits etwas lichtenden Blattwerk.
Einmal dachte Sax, er habe seinen Kontakt endlich ausgemacht, doch der Mann, der sich ihm näherte, fragte lediglich nach der Kasse für die Burgführungen. Es war inzwischen beinahe ein Uhr geworden.
Im Hof der Anlage befand sich ein kleines aufgeschlagenes Zeltlager, in welchem stattliche Zivilisten in historischen Uniformen das Armeeleben des 18. Jahrhunderts nachstellten. Während sich Freysing gerade an einer lebhaften Szene erfreute und die hier in die Hofanlage hereinfallenden wärmenden Sonnenstrahlen genoss, war erneut ein Mann neben ihn getreten. Dies war nichts grundsätzlich beunruhigendes, denn er befand sich keineswegs alleine hier, sondern war begleitet von weiteren Besuchern des Areals in einer sehr losen Ansammlung. Es dauerte auch einen Moment, bis derjenige bei ihm sich unverfänglich äußerte.
„Interessant, das Ganze!“, wurde Sax auf Tschechisch angesprochen. Die Stimme beinhaltete auch in den wenigen Worten jenen ostdeutschen Akzent, den Freysing bereits am Telefon vernommen hatte.
„Nicht mehr für die Einheimischen“, entgegnete Freysing in derselben Sprache. „Aber wenn man aus Mitteldeutschland stammt…“, fügte er hinzu und ließ den Satz unvollendet.
„Sie besitzen ein ausgezeichnetes Gehör!“, fuhr der Mann jetzt auf Deutsch fort und gab sich damit nicht mehr die Mühe, als Tscheche zu wirken. „Trotzdem, ein historisch bemerkenswertes Anwesen. Sie wissen, warum die Burg so heißt?“
Freysing rekapitulierte, was er ebenfalls auf dem Rundgang erfahren hatte: „Der Sage nach hat sich Fürst Konrad aus dem Přemyslovci-Geschlecht um 1059 herum bei einem Unwetter während der Jagd hierher verirrt. Er flehte zu Gott, dies heil zu überstehen, und versprach dieses Falls, eine Burg und eine Kapelle zu errichten. Tatsächlich fand er daraufhin Zuflucht bei einem Köhler, den er dankbar entlohnte und an der Stelle seiner Unterkunft Kapelle und Burg bauen ließ. Während er dann einmal dort spazieren ging und überlegte, wie er sie denn taufen solle, fiel einem Eichhörnchen im Baum ein Tannenzapfen aus den Pfoten, welcher den nachdenklichen Fürsten am Kopf traf. Daraufhin nannte er sie Veveri, also von veverka – eben Eichhörnchen.“
„Sie haben gut zugehört da drinnen!“, kommentierte der Mann.
„Sie waren auch da“, stellte Freysing nickend fest, und erinnerte sich an ihn. Der Mann war nur einer der Besucher gewesen und er hatte sich in keiner Weise auffällig verhalten.
„Richtig. Ich habe gehört, Sie sind auf der Suche nach einem unserer Landsleute!“, stellte die Stimme des Mannes neben ihm nun fest. Freysing wandte seine Augen vom militärischen Geschehen der Vorführung ab und musterte denjenigen genauer, der ihn angesprochen hatte.
„Schon möglich, ja!“, antwortete er ihm und legte einen erwartungsvollen Ausdruck in sein Gesicht. „Sie sind derjenige, der mich heute Morgen angerufen hat.“
Der hinzugetretene ältere Gesprächspartner war etwa Mitte, Ende Fünfzig Jahre alt, nicht größer als gewöhnlich, und der einsmals vielleicht schmale Kopf schien im Laufe der Jahre rundlicher geworden zu sein, wobei ganz leicht hervorstehende Wangenknochen auf ein früher einmal eher spitzes Gesicht hinwiesen. Seine Haare hielten noch die Farbe dessen Jugend, waren nunmehr jedoch überwiegend dünn und strähnig. Zwei hellwache braune Augen versteckten sich hinter einer großen, dicken unmodernen Brille mit leicht getönten Gläsern. Er trug einen grauen Straßenanzug von der Stange und bemühte sich vergeblich um absolute Unauffälligkeit. Ganz entfernt kam die Erscheinung Freysing irgendwie bekannt vor, aber er wusste nicht, wie und wo er ihn einzuordnen hatte. Trotzdem riskierte er es:
„Sie erinnern mich entfernt an jemanden, aber es ist lange her…“, begann er, und sogleich flog ein zustimmendes Lächeln über das Gesicht seines Stehnachbarn.
„Ist es wohl. Bin aber selbst nicht viel herumgekommen in der Welt, seit damals. Nach den turbulenten Tagen der Wende…“, half dieser ihm auf die Sprünge.
Trotzdem musste Freysing zu dem Zeitpunkt sehr weit zurückdenken, um sich auch nur vage zu erinnern. Der Mann gab ihm Zeit, sein Gedächtnis zu durchforsten. Als es seinem Gegenüber jedoch gar zu lange dauerte, zog dieser eine Schachtel mit Zigarillos aus der Tasche. Es war eine alte DDR-Marke, die auch heute noch vertrieben wurde: „Sprachlos“. Freysing musterte die Packung. Dann fiel es ihm ein: Er kannte ihn aus dem damals geteilten Berlin, aber das letzte Mal war er diesem Mann in Leipzig begegnet - vor nunmehr beinahe bereits fünfundzwanzig Jahren.
„Steiner!“, brachte er schließlich heraus. „Major Steiner...“. Der Mann neben ihm war ein Gespenst aus seiner lange zurückliegenden Jugend. „Stasi…!“
„Vergessen Sie das mit dem Major“, entgegnete dieser langsam. „Und die Staats-sicherheit wurde 1990 aufgelöst. - Ja, Steiner. Und Sie sind dieser rebellische Student von damals, den alle nur Henry nannten, auch wenn sie seit langem ganz anders heißen. Und sich körperlich verändert haben. Zum Positiven, wie ich finde. Ende der Achtziger waren sie noch ein Schlacks. Ich brauchte auch eine Weile, um Sie wiederzuerkennen, als sie bei der Pension in Brno auftauchten.“
„Ich habe mich damals immer gefragt, was aus ihnen geworden sein mochte, nachdem ich Sie damals im Runden Eck etwas hastig verlassen musste“, gab Freysing wirkliches Interesse vor, während er sich immer genauer an Steiner und dessen Rolle dort erinnerte.
„Die haben mich erst mal kassiert, was dachten Sie“, meinte Steiner, leicht amüsiert. „Aber keine Stunde später hat der Mob die Bezirksvertretung gestürmt und alle, die dort in den Zellen saßen, laufen lassen. Mich glücklicherweise auch.“
„Und später?“
„Es waren schwierige Zeiten für Menschen wie mich. Alles wurde von unten nach oben gekehrt, und so manches ans Tageslicht gefördert, was besser für alle Zeiten verschwiegen worden wäre. Möge die Vergangenheit also endlich ruhen.“
„Aber das ausgerechnet wir uns hier treffen, ist doch kein Zufall.“
„Gewiss nicht. Wir haben in jener Zeit letztlich für dieselbe Sache gearbeitet, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen“, behauptete Steiner. „Ich bin der Organisation danach weiterhin erhalten geblieben – irgendwie musste ich schließlich meine Familie ernähren.“
„Ich freue mich, dass sie es geschafft haben, mit den ganzen Veränderungen klar zu kommen. Nicht allen war das damals vergönnt. – Aber was führt uns dann jetzt nach so vielen Jahren hier in Tschechien wieder zusammen? Sie sprachen am Telefon von einem Mann namens Holler“, blieb Sax vorsichtig.
„Das Bild, das sie dem Touristenführer gezeigt haben, kann ich das auch mal sehen?“, fragte der älter gewordene Steiner anstelle einer direkten Antwort.
Freysing nickte, zog es abermals hervor, da gerade sonst niemand direkt neben ihnen stand, obwohl die Vorführung auf dem Platz noch nicht beendet war. Das Gesicht des Majors a.D. schien sich ein wenig zu verdunkeln. „Marius!“, stellte dieser fest, und nickte ebenfalls, allerdings mehr nachdenklich. „Die Polizei hat ihn vorgestern aus der Svretka gezogen. Am Stausee.“
Der Agent bemühte sich, so etwas wie Bestürzung in sein Gesicht zu zaubern, so als sei diese Nachricht für ihn völlig neu. Immer ein As im Ärmel behalten! „Mein Gott!“, entfuhr es ihm dabei, beinahe theatralisch. „Wissen Sie mehr darüber?“
Steiner schien einen längeren Moment zu überlegen. Dann meinte er ernst: „Hören wir auf mit dem Laienspiel. Marius Holler war der Vize-Resident des BND in Prag. Ich habe mir schon gedacht, dass irgendjemand herkommen würde, um nach ihm zu suchen – und damit meine ich nicht die Polizei. Dass ausgerechnet Sie das sind, macht es vielleicht einfacher. Es hieß damals eine Weile in gewissen Kreisen, sie seien auch bei dem Verein hängen geblieben, nach ihrer Studienzeit.“ Er wartete ab, bis ein miteinander locker umschlungenes Ehepaar mittleren Alters an ihnen vorübergeschlendert war, und fügte dann hinzu: „Die Botschaft schickt sie daher, nehme ich an?“
Freysing lächelte nur, antwortete aber nicht weiter darauf, sondern wartete schweigend, dass Steiner fortfuhr, ihm ergänzende Details preiszugeben.
„Marius und ich, wissen sie, das ist eigentlich eine drollige Geschichte“, sagte der ehemalige Stasi-Bedienstete schließlich in beinahe schon vertraulichem Ton, während er eine Hand locker kurz auf Freysings Schulter legte. „Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob und wie viel ich ihnen davon wirklich erzählen kann.“
Freysing mochte die zutrauliche Berührung nicht, und nach einem Seitenblick nahm Steiner die Hand wieder fort. „Sie können mir gern alles erzählen!“, versuchte der Agent gleichwohl, das Vertrauen Steiners zu gewinnen. Möglicherweise war er einer derjenigen, der Holler zuletzt lebend gesehen hatte – und möglicherweise ergab das ja eine Spur. „Aber beschränken wir uns zunächst auf die Umstände, die zu Hollers Tod geführt haben.“
„Gehen wir ein Stück! Hier sind mir zu viele Leute unterwegs!“ Sie verließen den inneren Bereich der Burg und begaben sich in den rückseitig gelegenen Park. Dort herrschte kaum Betrieb. Nur einige wenige der Sitzbänke waren von älteren Paaren frequentiert, die sich hier vom anstrengenden Rundgang erholten. Sie suchten sich selbst eine etwas abgelegene gusseiserne Sitzbank, um darauf Platz zu nehmen, und sahen von dieser aus ein paar spielenden Kindern zu, welche sich auf den kleinen Rasenflächen zwischen den Beeten tummelten.
„Gut. Also zur Sache: Unser gemeinsamer Freund Holler ist einer Angelegenheit auf die Spur gekommen, die ihn veranlasste, alte Kontakte zu reaktivieren.“
„Holler und Sie kannten sich ebenfalls von früher?“
„Nein. So alt war er ja noch nicht. Er und ich sind uns erst viel später erstmals begegnet, als es die DDR schon längst nicht mehr gab.“
„Und was war das für eine Sache, der er auf die Spur gekommen ist?“
„Galileo, Prag.“
„So heißt ein Hotel da, ja. Ich habe dort früher mal übernachtet. Was ist damit?“
„Ich meine nicht das Hotel, sondern das europäische globale Navigations-Satteliten-System, das Europa von den Amerikanern unabhängig machen soll. Dessen Sitz wurde dieses Jahr von Brüssel nach Prag verlegt. - GNSS.“
„GNSS, ich weiß darüber ein wenig Bescheid. „Das europäische GPS, wenn man so will. Die Amerikaner sind nicht allzu sehr erfreut darüber, dass wir diesbezüglich etwas Eigenständiges aufbauen.“
„Deren eigenes GPS könnten sie für den Fall einer militärischen Krise stören. Aber nicht ein separates Europäisches System. Angesichts der Situation mit Russland ist das Thema sehr brisant geworden. Sicherheitsrelevant für die gesamte NATO.“
„Und da hat Holler sich ausgerechnet an Sie gewandt? Was haben Sie denn für einen Bezug dazu?“
„Er sprach davon, dass er Hinweise darauf erhalten habe, dass in der neuen GNSS-Sicherheitszentrale Sabotage betrieben werden solle, und das ich möglicherweise diejenigen kennen könnte, die damit zu tun hätten.“
„Klingt alles sehr vage. Was hat er ihnen sonst noch gesagt?“
„Dazu kam es nicht. Wir wollten uns hier treffen, vorgestern, auf der Burg. Ich hatte die Absicht, ihm alles zu erzählen, was ich weiß. Was indes nicht viel ist. Aber er ist nicht erschienen. Auf dem Rückweg nach Brno habe ich dann zufällig das Polizeiaufgebot am Stausee-Ufer gesehen, und gleich ein ungutes Gefühl bekommen. Ich bin hingefahren und habe mich unter die Schaulustigen gemischt, konnte aber nichts erfahren. Offenbar trug Holler keinerlei Papiere bei sich.“
„Dann erzählen Sie es einfach mir.“
„Eines nach dem anderen. Wir beide kennen uns zwar, und standen damals auf derselben Seite. Aber tun wir das heute auch noch? Ich meine, wie kann ich sicher sein, dass Sie wirklich für den Dienst arbeiten, so wie Holler?“
„Erwarten Sie jetzt vielleicht so etwas wie einen Ausweis?“
„Nein. Aber deswegen bin ich ihnen von Brünn hierher gefolgt. Ich musste vor allem sichergehen, dass sie niemandem im Voraus von unserer kleinen Zusammenkunft hier erzählen. Das haben sie wohl nicht. Und ich musste auch sichergehen, dass die Polizei sie nicht beschattet und wir vielleicht zusammen gesehen werden.“
„Wir haben es mit tschechischer Kriminalpolizei von 2014 zu tun, nicht mit dem SB von 1989!“, entgegnete Freysing. Er hatte sich also bei der Herfahrt nicht geirrt gehabt: Jemand war dem Taxi nachgefahren, und das war demnach nicht die Kripo.
„Und sie meinen, da gäbe es einen Unterschied? Der ermittelnde Beamte, Blansko oder so ähnlich, wenn ich mir den Namen am See unten richtig gemerkt habe, das ist doch einer von der alten Garde.“ Sie warteten ab, während ein älterer Herr mit einem Stockschirm gemächlich vorüberging und schließlich auf einer anderen Bank Platz nahm, die sich dreißig Meter entfernt befand. Weit genug weg, dass er sie nicht würde hören können. „Es gibt eine einfache Möglichkeit, mir zu zeigen, dass sie zum Dienst gehören“, sagte Steiner dann. Er zog eine „Sprachlos“ aus der Packung und steckte den Zigarillo in den Mund.
Freysing wusste, was Holler meinte. Es war zwar etwas aus der Mode gekommen, aber es gab immer noch so eine Art von Erkennungszeichen zwischen befreundeten, aber einander fremden Agenten. Daher fasste er in seine Hosentasche und holte ein Feuerzeug hervor. Es war eines von „Dunhill“ mit einer eingravierten Widmung.
„Woher wissen Sie davon?“, fragte er, als er dem Mann Feuer gab, es anschließend deutlich vor seinem Gegenüber in der Hand wechselte und in der anderen Hosen-tasche wieder verschwinden ließ. Ein unauffälliges kleines Zeichen, kaum zu bemerken von möglichen Beobachtern.
„Holler natürlich. Und vergessen Sie nicht, ich war mal bei der Stasi!“, antwortete Steiner sphinxhaft, der aufmerksam zugesehen hatte.
„Überzeugt Sie das?“
„Möglicherweise. Aber wer ist Susanne?“ Die Gravur auf dem Feuerzeug beinhaltete diesen Namen, und Steiners Augen hinter der Brille schienen noch sehr gut zu sein. „Hieß ihre große Liebe damals nicht Sieglinde?“
„Eine weitere verflossene Freundin“, tat Sax es mit einer kurzen, unwirschen Hand-bewegung ab. Er mochte darüber nicht so sehr reden.
„Na gut“, fuhr Steiner fort. „Kommen wir wieder zur Sache. Nach dem endgültigen Zusammenbruch unseres schönen Arbeiter- und Bauernstaates musste jeder sehen, wo er bleibt. Insbesondere diejenigen, die vorher für das System gearbeitet haben. Ich gehörte dazu, aber auch mein damaliger Vorgesetzter und noch ein paar andere. Einige der Kollegen haben nach der Wende in Dresden gemeinsam ein kleines Unternehmen gegründet. Werkschutz, Sicherheitskonzepte für Firmen und Institute, Bewachung technischer Anlagen in Krisengebieten, alles so etwas. Mich haben sie auch gefragt, ob ich einsteige, aber ich wollte in Leipzig bei meiner Familie bleiben.“
„Und?“
„Wir blieben alle lose in Kontakt. Später kam bei denen auch noch Computersicherheit dazu. Diese ganzen überstaatlichen Hackerangriffe der letzten Jahre haben ziemlich viele Leute in verantwortlichen Positionen aufgeschreckt, und der Markt boomt.“
„Worauf wollen sie hinaus, Steiner?“, zeigte sich Freysing ungeduldig.
„Na, worauf wohl? Dass genau jenes Unternehmen die sogenannte sicherheits-relevante Akkreditierung der GNSS-Systeme in Prag durchführt.“
„Dazu hat dieses doch aber eine ganze Reihe von Unbedenklichkeitsprüfungen durchlaufen müssen. Wenn es bei der Firma nicht mit rechten Dingen zuginge, dann hätte man sie damit bestimmt nicht beauftragt.“
„Ach ja?“, zeigte sich Steiner überrascht über so viel scheinbare Naivität.
„Übliches Procedere!“, meinte Freysing und zuckte kurz mit den Schultern.
„Sie haben damals Wirtschaftswissenschaften und Politologie studiert. Wenn Sie der Mann geworden sind, für den ich sie halte, dann sollte ihnen bekannt sein, dass es im militärisch-industriellen-Komplex alles andere als durchschaubar zugeht.“
Freysing überlegte, dass es durchaus möglich war, mit entsprechender politischer Unterstützung eine nicht zu tief gehende Unbedenklichkeitsprüfung auszutricksen. Vielleicht lag Steiner richtig. Aber hatte man deshalb Holler umgebracht? Nur wegen eines Verdachtes? Es erschien ihm nicht schlüssig.
„Wenn Holler etwas herausgefunden haben sollte, dann hat er es mit ins Jenseits genommen“, stellte Sax nachdenklich fest. „Und wenn Sie keine weiteren Informationen haben, endet damit die Geschichte. Ich könnte höchstens veranlassen, dass man die Sicherheitsfirma und deren Mitarbeiter noch einmal genauer unter die Lupe nimmt. Und dass man bei GNSS-Prag mal intensiver nachprüft, seitens der zuständigen Abteilungen.“
„Es ist mir egal, was sie mit den Informationen machen. Ich wollte lediglich behilflich sein“, knurrte Steiner. „Ich weiß, Menschenleben zählen in unserem Metier nicht viel, aber ich denke schon, dass es besser wäre, der BND fände heraus, was hinter der Angelegenheit steckt, bevor es die tschechische Kripo tut.“
„Dazu benötigte ich einen Ansatz. Ich sehe keinen. Ich soll bis jetzt nur verhindern, dass Blanskos Leute Hollers eigentliche Funktion in diesem Land weiter enttarnen, als sie es vielleicht schon getan haben. Um uns und unsere Kontakte zu schützen“, meinte Freysing und zuckte abermals die Schultern. Sax verriet Steiner damit kaum ein Dienstgeheimnis, die Vorgehensweise dürfte ihm als früheren Stasi-Fuchs absolut bekannt sein. Er war nicht begeistert. Es schien eine Sackgasse zu sein, trotz Steiners überraschendem Auftauchen. Also zurückfahren nach Brno, einen weiteren Bericht tippen, die Zentrale informieren, und sich dann empfehlen. Routine.
„Wenn Sie sich in der Sache engagieren wollen, kann ich ihnen vielleicht helfen. So, wie ich Holler auch geholfen hätte.“ Unter den gegebenen Umständen klang diess allerdings unfreiwillig recht makaber. Steiner blickte auf seine einfache Armbanduhr, die noch ein DDR-Relikt zu sein schien. „Treffen wir uns morgen zum Mittagessen, in Brno, auf der Festung. Aber passen Sie auf, dass ihnen niemand folgt.“
„Sie haben noch etwas in der Hinterhand?“, fragte Freysing, erneut aufmerksam geworden. Irgendwie wollte Steiner noch nicht recht mit der Sprache heraus.
„Möglicherweise. Aber dazu muss ich mich noch mit jemandem Treffen.“
„Sie wollen mir nicht verraten, mit wem?“
„Der Name würde ihnen nichts sagen. Es ist ein alter Freund von damals. Er war ´89 in der Botschaft, als Genscher in Prag seine Ansprache hielt.“
„Lassen sie mich raten. Hauptverwaltung Aufklärung, Abteilung römisch III, oder so etwas…“
„Denken Sie, was sie wollen“, lächelte Steiner, mehr wissend als er herausließ.
„Und der ist hier? In Brno?“
„Nein. In Prag. Aber bis morgen Mittag bin ich zurück.“ Die tschechische Hauptstadt befindet sich lediglich zwei Autostunden von Brno entfernt.
„Dann zeigen sie mir jetzt mal genau, wo man Holler aufgefunden hat.“
Es hatten sich keine neuen Anhaltspunkte dazu ergeben, wo genau der deutsche Agent ermordet worden war, aber es konnte eben durchaus im Bereich unterhalb der Burg geschehen sein. Allerdings einige Tage vor dem geplanten Treffen mit Steiner, denn Hollers Leiche hatte ja gewisse Zeit im Wasser verbracht.
*
Freysing war nach einer kurzen, aber nicht weiterführenden Uferbesichtigung gemeinsam mit dem früheren Stasi-Major in dessen Wagen, einem älteren grauen Ford Fusion, nach Brno zurückgefahren, wo sich ihre Wege erst einmal trennten. Er überlegte, Hollers Geliebter Irina einen kurzen Besuch abzustatten, traf sie aber zuhause nicht an und kam zu dem Schluss, dass sie wohl ihren Kummer mit Arbeit zu bekämpfen versuchte. Dort, in der Klinik, wollte er nicht unbedingt in Erscheinung treten, zudem besaß er keinerlei Befugnisse der zuständigen Behörden, hier irgendwelche Recherchen anzustellen. Daher begab er sich zur Pension, um den weiteren Bericht für seine Dienststelle zu verfassen. Am Empfang teilte man ihm mit, dass Oberinspektor Blansko auf der Suche nach ihm gewesen sei, und gebeten habe, er möge sich bei ihm melden. Sax tat nichts dergleichen und setzte sich erst einmal im Zimmer an seinen Laptop. Neben einem Bericht sandte er auch eine Anfrage wegen Ex-Major Steiner zur Zentrale, und bekam umgehend die Antworten, nach denen er verlangte. Er sollte somit für das morgige Gespräch mit diesem deutlich besser vorbereitet sein als beim ersten überraschenden Wiedersehen.
Steiner schien die turbulente Wendezeit ohne nennenswerte Nachteile überstanden zu haben und wurde vom BND zunächst als Vertrauensmann im Rahmen der HUMINT-Aktivitäten geführt. Später half er bei der Wiederherstellung und Aufarbeitung der Stasi-Akten in der Gauck-Behörde und konnte sich offenbar auf diese Weise rehabilitieren. Der BND verwendete ihn seinerzeit allerdings auch dazu, die Rekonstruktion gewisser gehäckselter Akten, welche allzu genau auf die Tätigkeit des westdeutschen Geheimdienstes in der DDR hinwiesen, zu verhindern. Später wurde er aufgrund seiner früheren Tätigkeit zum gelegentlichen Ost-Analysten auf Einzelhonorarbasis. Steiner war inzwischen zweimal geschieden und in dritter Ehe mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau verheiratet. Sein gegenwärtiger Wohnsitz befand sich in Pirna. Der Dienst in Berlin stufte ihn intern als lediglich bedingt vertrauenswürdig und nicht mehr aktiv ein. Es gab ein umfangreiches Dossier, wie es von allen Bediensteten angefertigt wird, die in irgendeiner Weise für den Bundesnachrichtendienst tätig sind oder es einst waren.
Das Sicherheitsunternehmen, dessen Namen Steiner Freysing verraten hatte, besaß ebenfalls eine digitale Akte, wenngleich diese auch nicht sehr umfangreich war. Offenbar hatte es bislang keinen Grund für eine genauere auslandsgeheimdienstliche Durchleuchtung gegeben – nur die üblichen sachrelevanten Nachforschungen durch den MAD und den Verfassungsschutz in speziellen Fällen. Gegründet worden war es gegen Ende 1993 als Kapitalgesellschaft in Form der Tochter einer weiteren anonymen Gesellschaft. Die Geldgeber, sämtlich Personen ohne Auffälligkeiten, traten weder besonders in Erscheinung, noch wurde sonst wie bekannt gemacht, aus welcher Quelle die eine Million Deutsche Mark stammte, die für die Etablierung des Unternehmens notwendig war. Lediglich ein aktueller Geschäftsführer wurde genannt, aber dessen Name sagte Freysing nichts. Möglicherweise handelte es sich dabei aber, sollte es nicht mit rechten Dingen zugehen, ohnehin um einen bedeutungslosen Strohmann. Die weiteren Angaben bezogen sich dann auf diejenigen einzelnen Mitarbeiter, die vor Ort in Prag die fraglichen Tätigkeiten an den GNSS-Systemen ausführen sollten. Sie waren besonders intensiv durchleuchtet worden, allerdings ohne dass Auffälligkeiten zu Tage gefördert wurden. Auch deren Namen waren Freysing bislang sämtlich unbekannt. Eine weitere Sackgasse.
Wenn sich allerdings tatsächlich Hinweise auf einen Sabotageakt gegenüber der GNSS-Zentrale konkretisieren würden, dann musste sein Dienst das wissen, und er teilte den Anfangsverdacht dorthin sofort mit. Die Anweisung Stoessners dazu unterschied sich nicht von dem, was er ohnehin vorhatte: Das Gespräch mit Steiner abwarten, dann das Notwendige tun, damit die Dienste nicht ins Licht der Öffentlichkeit gerieten, und schließlich nach Deutschland zurückkehren. Fall erledigt, Akte geschlossen.
Eine ruhige Nacht und einen gemütlichen Vormittag im Pensionszimmer später wollte Sax sich gerade auf den Weg zur Festung Špilberk und dem Treffen mit Steiner begeben, als ihm Blansko und dessen Assistent im Eingangsbereich entgegentraten.
„Ach, Herr Freysing! Das ist ja gut, dass wir sie noch antreffen. Wir befürchteten beinahe schon, sie wären abgereist“, bemerkte Blansko ein wenig süffisant.
„Doch nicht, ohne ihnen vorher Bescheid zu geben“, betonte Sax mit bemühtem Ernst. Insgeheim aber dachte er: Die haben mir gerade noch gefehlt. „Gibt´s denn etwas Neues bezüglich des armen Marius Holler?“, fragte er stattdessen.
„Wir haben gestern sein Zimmer hier durchsucht. Wissen sie bestimmt. Aber nicht viel gefunden. Nicht einmal seinen Laptop!“, sagte der ältere Kriminaler, und bedeutete Freysing, ihnen zum Wagen zu folgen. Der Skoda stand nur wenige Schritte entfernt am Straßenrand im Halteverbot. Ein Motorradpolizist hatte mit seiner Honda XL125V Varadero soeben dahinter angehalten, um dem offensichtlichen Verkehrssünder eine Verwarnung zu schreiben, doch ließ er davon ab, als er Blansko erkannte. Er steckte das spezielle Pad für die Datenerfassung wieder ein, tippte kurz an seinen Helm und fuhr zügig davon.
„Besaß er denn einen?“, fragte Freysing beinahe eine Spur zu dreist.
„Der pokojská(*1) nach, ja. Aber das Gerät ist weg.“
„Sehr schade.“ Das Bedauern in der Stimme des Agenten wirkte eigentlich eine Spur zu übertrieben. Blansko würde sich vielleicht auf die Schippe genommen vorkommen.
„Sie haben keine Idee, was mit dem Gerät passiert sein könnte?“
Freysing schob die Unterlippe überlegend nach vorn, schüttelte dann aber bedeutsam den Kopf und hob die Hände in resignierender Weise: „Leider nein!“. Der inzwischen manipulierte Laptop befand sich derweil im geheimen Zwischendeckel seines Aktenkoffers im Zimmer der Pension, aber es klang nun sehr überzeugend.
Die Beamten komplementierten Sax auf den Rücksitz des Fahrzeuges. Blansko nahm neben ihm Platz, während der jüngere Assistent fuhr – fast konnte man den Eindruck gewinnen, er sei festgenommen. Er sah dezent auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass er nun wohl zu spät zu seiner Verabredung mit Steiner kommen würde. Aber das konnte er den Beamten ja schlecht sagen. Derjenige neben ihm bemerkte aber den eigentlich unauffälligen Blick auf die Zeit.
„Haben Sie vielleicht etwas Bestimmtes vor?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich dachte an das Glockenspiel auf der Festung. Soll sehr schön sein!“
„Ist es. Aber es läutet jede Stunde. Läuft ihnen also nicht davon.“
„Wo fahren wir denn hin?“
„Aufs Revier. Es sind da noch ein paar Fragen aufgetaucht, die wir gerne geklärt hätten.“
„Fragen?“
„Ich habe inzwischen ein paar Nachforschungen über sie betrieben, Freysing.“
„Ah, ja?!“, blieb Sax vorsichtig.
„Wir kennen Sie hier!“, stellte Blansko fest.
„Erzählen Sie mehr. Manchmal kenne ich mich nämlich selbst nicht mehr.“
„Nicht so bescheiden. Es gibt ein paar interessante Aufzeichnungen bei unserem Inlandsgeheimdienst. Nach dessen Unterlagen sind sie hier in den späteren Neunzigern ein paar Mal unterwegs gewesen.“
„Bin ich das?“, fragte er scheinheilig, nun allerdings etwas besorgt.
Er druckste noch eine Weile herum, während sie bereits die Station der Kripo erreichten, und er von Blansko und dessen Assistenten schließlich in das Verhörzimmer geleitet wurde, dass er bereits vom Sonntag her kannte.
„Ich sage ihnen jetzt einmal, was ich glaube. Dieser Holler, der arbeitete für ihre Botschaft in Prag, und wenn unser Ministerium recht hat, dann befasste er sich nicht allein mit Außenhandel.“
„Sondern?“
„Spionage. Sie spionieren bei uns, wir spionieren bei Ihnen. Niemand redet darüber und lässt die anderen ihre Arbeit tun, solange es nicht ans Eingemachte geht. Erleichtert uns allen das Leben… und, nicht zuletzt, sind wir ja seit ein paar Jahren alle gute Freunde“, spielte er im Nachsatz auf den EU-Beitritt Tschechiens an.
„Holler ein Spion, für Deutschland?“, gab sich Sax ungläubig.
„Ja. Und Sie sind auch einer. Ich weiß nicht, warum genau man sie hergeschickt hat, aber wahrscheinlich hat es etwas mit Hollers Ableben zu tun. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie beauftragt sind, herauszufinden, was passiert ist.“
„Bis Sie am Sonntag auftauchten, wusste ich nicht einmal, dass Holler tot ist.“
„Aber er wurde vermisst.“
„Und das sollte für mich größerer Anlass zur Sorge sein?“
„Vielleicht war es das am Anfang nicht. Ich kann die Gedankengänge ihrer Dienstherren in Berlin nicht erraten. Aber spätestens jetzt ist eine Situation eingetreten, die Unseresgleichen beunruhigt.“
„Unseresgleichen?“
„Ich habe früher selber mal für den Verein gearbeitet. Hier bei uns. Lange her. Ich weiß aber, wie das Eichhörnchen läuft, also machen Sie mir nichts vor.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte Freysing, nun leicht besorgt. Konnte die Begriffswahl Blanskos, die stark auf die Burg anspielte, wirklich Zufall sein?
„Entweder, Sie kooperieren mit uns, oder sie fahren nach Hause. Einen Störfaktor bei meinen Ermittlungen kann ich nicht gebrauchen.“
„Schön. Ich helfe Ihnen gern, wo ich kann. Was wollen sie denn wissen?“
„Womit Holler genau beschäftigt war.“
„Sie wissen, dass ich ihnen das nicht sagen dürfte, wenn Sie Recht hätten mit ihrer Vermutung über ihn, oder über mich, und ich darüber etwas wüsste.“
„Das alte Spiel, ja. Aber so kommen wir nicht weiter. Wir sollten kooperieren. In ihrem und in unserem Interesse!“
Freysing überlegte kurz. Dann sagte er: „Ich weiß, dass Holler irgendetwas beunruhigt hat in Bezug auf den Umzug der Zentrale des GNSS-Projektes nach Prag. Das ist aber auch schon alles.“ Irgendetwas musste er Blansko geben, um ihn sich selbst fortan vom Leibe zu halten. Und kein Wort von Kisci!
„GNSS?“, zeigte sich dieser sogleich erstaunt.
„Das europäische GPS.“
„Darüber weiß ich nichts.“
„Dann informieren Sie sich. Weiter kann ich ihnen nicht helfen, denn mehr habe ich auch nicht.“
„Und diese Irina, wie passt die da hinein?“
„Sie ist nach meinem Kenntnisstand genau das, was sie wohl auch bei Ihnen ausgesagt hat.“
„Hollers Geliebte.“
„Ja.“
„Na schön, mit der werden wir uns heute auch noch einmal unterhalten.“
„Und wie geht es jetzt weiter?“
„Wie gesagt, ich wünsche keine Störungen meiner Ermittlungen. Und Leute ihres Schlages besitzen die Angewohnheit, die Dinge eher zu vertuschen, als sie ans Tageslicht zu bringen.“
„Ich habe durchaus ein Interesse daran, herauszufinden, wer Marius Holler auf dem Gewissen hat.“
„Ja, aber wenn das, was Sie herausfinden, ihnen oder ihren Auftraggebern nicht schmeckt, werden sie es für sich behalten. Das ist der Sinn von Organisationen wie der ihren.“
Wie Recht er doch hatte! „Was erwarten Sie von mir?“
„Das Sie mich unverzüglich informieren, wenn Sie etwas herausfinden.“
„Das kann ich ihnen keinesfalls versprechen.“
„Behinderung der Polizeiarbeit ist in diesem Lande kein Kavaliersdelikt!“, sagte Blansko mit plötzlicher Strenge. „Von jetzt an wird ihnen mein Assistent hier nicht mehr von der Seite weichen. Sollten sie sich daneben benehmen, sind Sie draußen. Und sollten sie ihn abzuhängen versuchen, sind Sie auch draußen. Haben wir uns verstanden?“
Freysing nickte resignierend. Einen Aufpasser konnte er gewiss nicht gebrauchen, wenn er sich doch mit Steiner würde treffen können. Er hoffte, dass der Ex-Stasi noch einmal Kontakt zu ihm aufnahm, nun, da die heutige Verabredung platzte. Die vereinbarte Uhrzeit war inzwischen deutlich vorüber.
„Gut. Dann unterhalten wir uns jetzt einmal ernsthaft über den Laptop Hollers.“
Freysing besaß verständlich keine Lust, darüber besondere Auskunft zu erteilen.
*
Während Steiner im Café auf der Festung vergeblich nach Sax Ausschau hielt, musste der Agent sich weiter mit den Beamten der Kripo auseinandersetzen. Der ehemalige Stasi-Mann wartete derweil, dann speisend und zeitunglesend, länger als eine Stunde, doch als niemand erschien, und er auch mit einem Telefonat Freysing im Hotel nicht erreichte, verließ er kopfschüttelnd und enttäuscht die Gastronomie.
Er ging zu Fuß hinunter in die Innenstadt, wo er den Ford am Straßenrand geparkt hatte. Es war ein sonniger Tag, und Steiners Gedanken kreisten um seine junge dritte Frau in Pirna, an seine Kinder aus erster Ehe, und das Glück, welches er letzten Endes doch in seinem Leben gehabt hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen fasste er in die Tasche seiner Anzugjacke und förderte den Autoschlüssel hervor.
Die Kugel traf ihn im Hinterkopf, gerade als er beinahe neben seinem Fahrzeug angekommen war und die Tür mit der Fernbedienung am Schlüssel entriegelte. Der Schuss blieb im allgemeinen Lärm der Straße unhörbar, vielleicht auch, weil er aus einer schallgedämpften Waffe abgefeuert wurde. Es war nicht auszumachen, woher er erfolgt war, noch war der Schütze zu entdecken. Steiner stürzte, bereits tot, zwei Schritte unkontrolliert vorwärts gegen seinen Wagen, um dort sofort zusammenzu-brechen. Eine größere Blutlache begann sich sogleich neben seinem zerborstenen Schädel auf dem Asphalt zu bilden. Ein paar fette Tauben in der Nähe stoben auf.
Einige Passanten, die das Zusammenbrechen des Mannes mitbekamen, reagierten erstaunt, aber zunächst gleichgültig unverständig. Erst ein älterer grauhaariger Mann, der vorüberkam, ging die erforderlichen Schritte auf den Darniederliegenden zu und beugte sich herab. Er selbst hatte vielleicht in der Armee gedient und erkannte sofort, dass es sich um eine Schusswunde handelte, daher brauchte er auch den Puls von Steiner nicht erst zu fühlen, um festzustellen, dass dieser tot war.
Einige weitere Schaulustige gesellten sich dazu, und binnen der nächsten Minuten mochte die Stelle von etwa zwanzig Menschen verschiedenen Geschlechts und unterschiedlicher Altersstufen umringt sein. Ein Streifenpolizist zu Fuß drängelte sich vorbei und sah herunter auf den leblosen Körper. Der Passant, der neben diesem kniete, richtete sich gerade wieder auf und blickte den Uniformierten sorgenvoll an.
„Der Mann ist tot. Er wurde erschossen!“, stellte er fest.
„Und das wissen Sie so genau?“ antwortete der Beamte, sah dann aber die Lache des Blutes, die sich rasch vergrößert hatte. Es war ein sehr junger Polizist, geradewegs von der Akademie in den Außeneinsatz gelangt, der noch nie mit einem schwerwiegenderem Delikt als einem versuchten Autodiebstahl leibhaftig in Berührung gekommen war. Das hier überstieg ohne Zweifel seine Kompetenzen.
„Ja. Das ist offensichtlich! Rufen Sie besser ihre Kollegen von der Kriminalpolizei!“, riet ihm der Ersthelfer, und der Beamte kam zum Schluss, dass dies wohl wirklich das Beste sei. Ihm blieb ebenso wie den Gaffern verborgen, dass der freundliche Fremde mit den grauen Haaren den Toten innerhalb kurzer Zeit durchsucht und etwas von sehr geringer Größe aus dessen Besitz bei sich selber eingesteckt hatte.
*
Oberinspektor Blansko nahm den Telefonhörer, kaum nachdem der veraltete Apparat zweimal geklingelt hatte. Freysing saß ihm gegenüber auf dem Besucherstuhl, während der Assistent die ganze Zeit über in der Nähe der Tür in seinem Rücken stand. Eine ungemütliche Situation!
Der Beamte am Schreibtisch hörte aufmerksam zu, was ihm mitgeteilt wurde, sprach nur einsilbig, blickte dabei Freysing mehrfach kurz an, meinte schließlich das er sich darum kümmern werde und legte anschließend sehr behutsam wieder auf. Dann wandte er seine gesamte Aufmerksamkeit dem Deutschen zu. Dieser registrierte sofort, dass etwas sehr ernstes geschehen sein musste.
„Wir haben noch einen Mord!“, stellt er fest, aber wartete vergeblich auf eine besondere Reaktion bei Sax. Dieser hob lediglich die Augenbrauen.
„Noch einen Mord?“
„Ja. In der Zámečnická, ganz in der Nähe des Freiheitsplatzes.“
„Na, da habe ich ja Glück, dass ich hier bei Ihnen sitze“, reagierte Sax mit beinahe schwarzem Humor. Gleichwohl hatte er ein ungutes Gefühl.
„Womöglich mehr, als sie denken.“, entgegnete Blansko ernst. „Es handelt sich nämlich erneut um einen ihrer Landsleute. Ein Mann namens Steiner. Wolfgang Steiner. Aus Pirna. Sie kennen Ihn nicht zufällig?“
Sax musste unauffällig schlucken. „Sagt mir erstmal nichts“, behauptete er so ruhig wie möglich, während in seinem Kopf viele Gedanken zu kreisen begannen.
„Wir haben seine Telefonnummer ebenfalls bei Marius Holler gefunden, aber ich hatte ihn telefonisch in Deutschland nicht erreichen können, nur dessen Frau. Sie wusste nicht, wo er sich aufhielt. - Jetzt wissen wir es!“, führte Blansko aus.
„Der Name sagt mir wirklich nichts!“, bekräftigte Freysing, nun wieder innerlich gefasster. Die Lüge kam ihm aalglatt und glaubwürdig über die Lippen.
Es gab sicher keine Möglichkeit, ihn mit Steiner in Verbindung zu bringen. Das Treffen auf „Burg Eichhörnchen“ konnte doch niemand beobachtet haben – oder? Da war immerhin die scheinbar zufällige Erwähnung Blanskos, und das Gelände der Burg wurde weitläufig videoüberwacht. Was auch immer so wichtig gewesen sein mochte, das ihm der Ex-Stasi heute hatte sagen wollen – es reichte aus, diesen zu töten. Am hellichten Tag auf offener Straße! Offenbar war irgendwer irgendwo sehr aufgescheucht worden durch Hollers Nachforschungen. Jemand musste sich dringend um diese Sicherheitsfirma in Prag kümmern!
„Zwei gewaltsame Todesfälle, die miteinander in Verbindung stehen, und das innerhalb weniger Tage. Sie kannten Holler. Ich glaube, dass sie wesentlich mehr wissen, als Sie mir weißmachen wollen!“. Blansko nickte seinem Assistenten zu, der sofort die Verhörstube verließ, um den Wagen vorzufahren.
„Wollen Sie mich jetzt verhaften?“, fragte Sax misstrauisch. Die Tschechische Polizei konnte immer noch sehr restriktiv sein, auch wenn die Zeiten von damals vorbei waren. Aber bezüglich des Mordes an Steiner war er immerhin definitiv entlastet.
„Nein. Aber sie kommen mit. Zum Tatort. Ich möchte, dass Sie sich den Toten ansehen. Vielleicht erkennen Sie ihn ja doch.“
Als Sie zu der Stelle gelangten, an welcher Steiner erschossen worden war, hatten die Kollegen von Blansko diese bereits weiträumig abgesperrt und die Schaulustigen zurückgedrängt. Diese standen jetzt in größerer Zahl jenseits eines Absperrbandes und versuchten, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen, die ihrer direkten Sicht entzogen neben dem Fahrzeug lag und inzwischen mit einer grauen Plane zugedeckt war. Außer den Spurensicherern in ihren Ganzkörperanzügen befanden sich nur wenige weitere Menschen innerhalb des polizeilich gesicherten Bereichs, einer davon war jener Passant, der als erster zu dem Toten hingetreten war und nun einem Beamten in Zivil das wenige sagte, was er beitragen wollte. Dieser machte eifrig über jedes Detail Notizen. Sax warf lediglich einen kurzen Blick auf beide.
Der Oberinspektor zeigte den Ausweis mit seiner Dienstmarke, um samt Assistent und Freysing unter dem Flatterband hindurch die wenigen Meter bis zu dem Toten zu gelangen. Dort beugte er sich herab und nahm die Plane ein Stück weit beiseite.
Es sah hässlich aus. Die Kugel war nicht durch den Schädel hindurchgegangen, sondern schien im Inneren explodiert zu sein. Das Gesicht blieb ohne jegliche Verletzung, aber das Hirn war völlig zerstört. Der Tod musste immerhin sofort eingetreten sein.
„Nein!“, schüttelte Sax den Kopf, während er sich angewidert abwandte. „Der Mann ist mir völlig unbekannt“, log er erneut, ohne dabei rot zu werden.
Blansko sah ihn beinahe durchdringend an, konnte ihm aber das Gegenteil nicht beweisen. „Na schön.“
„Und jetzt?“
„Mein Assistent bringt Sie zur Pension“, sagte der Beamte nachdenklich. „Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Sie dieses Land zügig verlassen. Ich glaube zwar nicht, dass sie mit dem Tod von Marius Holler direkt etwas zu tun haben. Aber irgendwie stehen Sie mit der Angelegenheit tiefer in Verbindung. Ihre Anwesenheit ist, so fürchte ich, nicht länger hilfreich für unsere weiteren Ermittlungen.“
Freysing hatte etwas in dieser Richtung befürchtet, konnte sich aber kaum offen wiedersetzen. Er war in diesem Land lediglich Gast ohne jegliche Befugnis, und wenn die Behörden zu dem Schluss kamen, dass sie ihn hier nicht mehr haben wollten, würde er abreisen müssen, EU und Reisefreiheit hin oder her.
Der Assistent fuhr ihn allein im Skoda zurück zur Pension. Als er dort sein Zimmer betrat – glücklicherweise ohne seinen Aufpasser, der unten am Eingang wartete – traf ihn fast der Schlag. Seine gesamte Unterkunft war völlig durcheinandergebracht, alles lag wild herum und er stellte sofort fest, dass nicht nur sein eigener IPad verschwunden war, sondern auch der Laptop Hollers. Der doppelte Boden der Aktentasche war offenbar schnell gefunden und fachmännisch aufgeschlitzt worden. Das Fernglas mit dem Chip von Kisci war hingegen noch vorhanden, ebenso wie seine Pistole. Sax ordnete und packte eilig seine herumliegenden Sachen, bis nichts mehr im Zimmer auf die fremde Durchsuchung und den Diebstahl hindeutete.
Hollers Rechner war bereinigt, und auch um sein eigenes Gerät machte er sich keine besonderen Sorgen. Sobald jemand versuchte, das Passwort zu hacken, würde eine spezielle Säurepatrone im Inneren die Speicherplatte es unbrauchbar machen. In Deutschland konnte er schnell einen neuen erhalten. Aber die Tatsache allein, dass man sich dessen bemächtigt hatte, deutete erneut sehr darauf hin, dass er den Hintergründen bereits nahe war.
Er ging nachdenklich mit seinem Gepäck hinunter und zahlte an der Rezeption die Rechnung. Weder dort noch gegenüber dem Assistenten Blanskos, der sich leicht ungehalten über die längere Wartezeit für das Packen seines unfreiwilligen Schützlings mokierte, teilte er etwas von den beseitigten Zuständen oder gar den Verlusten mit. Der Mann fuhr ihn zum Flughafen, wo er sorgsam darauf achtete, dass sich Freysing auf den nächsten Flug nach München eincheckte. Dann wünschte er ihm eine Gute Reise und verschwand.
Freysing wartete eine Viertelstunde, während derer er über verschlüsselte Leitung mittels IPhone kurz mit der Zentrale in Berlin telefonierte und diese auf jene fragwürdige Sicherheitsfirma ansetzte, die Steiner ihm genannt hatte.
Stoessner am anderen Ende der Verbindung hielt das alles, wie befürchtet, ohne weitere Auskünfte des Informanten für sehr vage, zeigte sich aber äußerst beunruhigt über den weiteren Mord. Der Generalmajor informierte Sax, mit Prag sprechen und alles Notwendige in die Wege leiten zu wollen. Manchmal, so waren sich beide einig, hilft ja ein Stich ins Wespennest. Sax konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Stich bereits längst durch den verblichenen Holler erfolgt sei.
Nach dem Gespräch deponierte er sein Gepäck in der Aufbewahrung, verließ dann das Flughafengebäude und ließ sich von einem Taxi einmal mehr zur Kollárova bringen. Er war in großer Sorge. Wenn in Brno jemand zuerst den BND-Mann aus Prag und dann dessen Kontakt beseitigte, dann konnte auch Irina in Gefahr sein - falls sie mehr wusste, als sie bislang zugegeben hatte. Davon ging Sax nicht unbedingt aus, obwohl sie sehr eng mit Holler zusammen gewesen war, aber die Gegenseite musste in dieser Beziehung nicht unbedingt zum gleichen Schluss kommen. Um Kisci machte er sich nicht ganz so viele Gedanken.
Unschlüssig, was er genau mit ihr anstellen sollte, falls er Irina tatsächlich antraf, klingelte er an deren Haustüre, kaum dass das Taxi, welches ihn hergebracht hatte, wieder abgefahren war. Er bekam nicht mit, dass auf derselben Straßenseite, aber ein Stück weiter hinunter, in einem älteren blauen Audi 100 die schwarz behandschuhten Finger einer Person zum Klappfach der Armatur fassten, dieses öffneten, eine Pistole mit Schalldämpfer herausnahmen und sie geschickt schussbereit machten. Dann verschwand die Waffe unter dem leichten Sommermantel, den sie trug, und die Klappe wurde geschlossen.
Sax drückte abermals auf den Knopf.
„Wer ist denn da?“, fragte diesmal eine sehr wache Stimme aus der Gegensprech-anlage, während er diesen noch bediente.
„Ich bin´s. Günter.“
„Na, Sie kommen gerade recht…“ – gab Irina von sich und drückte die Türe von oben auf, sodass er hineingelangen und die Treppenstufen schnell hochsteigen konnte.
Die Person im Audi war derweil rasch ausgestiegen, hatte die Wagentür sanft zugedrückt und hetzte den Bürgersteig entlang zur Haustüre, um diese mit einem schweren Schuh gerade noch am Zufallen zu hindern und hiernach in den Hausflur zu gelangen. Irina ließ Freysing oben ein und schloss die Wohnungstür, während sie noch leise zu hören vermeinten, daß die Haustür unten, etwas verspätet, ins Schloss schnappte.
Der Agent blieb im Rahmen der Tür zum Wohnzimmer stehen und starrte auf die Einrichtung. Die Wohnung der Frau war schon beim letzten Mal unaufgeräumt gewesen, aber wie zuvor in seinem Pensionszimmer, wirkte auch hier jetzt alles extrem durcheinandergebracht. Sogar das erotische Poster hing nicht mehr gerade an der Wand.
„Ich bin gerade erst heimgekommen, und habe das hier vorgefunden!“, sagte Irina schnell, dabei den Kopf schüttelnd. „Vloupání špína pásy! - verdammte Einbrecherdrecksbanden…“
„Ich glaube nicht, dass das gewöhnliche Einbrecher waren!“, entgegnete Freysing, aber täschelte der Frau dabei mit einer Hand beruhigend den Oberarm. Er spürte dabei muskulöse Festigkeit, aber wenig besonderen Umfang. An der Wohnungstür waren keine massiven Einbruchspuren sichtbar. Sein geschulter Blick erkannte, dass halbwegs Profis am Werk gewesen sein mussten, die keinen Winkel ausgelassen hatten. Wenn Holler bei Irina irgendetwas verstreckt haben sollte, dann war es von ihnen wahrscheinlich auch gefunden worden.
„Wenn nicht Einbrecher, wer denn sonst?“, fragte sie, und sie gingen hinein.
„Diejenigen, die Marius umgebracht haben, sind vielleicht noch für einen weiteren Mord verantwortlich. Und Sie haben auch mein Zimmer in der Pension durchsucht. Diese Leute versuchen, etwas zu finden. Möglicherweise war es ja hier.“
„Oh mein Gott! Wo bin ich denn da hineingeraten!“, brachte sie hervor. „Am Besten ist es, ich rufe die Polizei.“
„Glauben Sie mir, das wollen Sie nicht wirklich!“, mahnte er jedoch.
„Sondern?“
„Sagen Sie mir lieber, was Sie wissen. Ich kann mir vorstellen, dass Marius hier irgendetwas deponiert hat. Etwas von großer Wichtigkeit.“
„Aber ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass wir uns vor seinem Tod nicht mehr getroffen haben.“
„Ja, das haben Sie gesagt. Aber war es auch die Wahrheit?“
„Es ist dasselbe, was ich der Polizei gesagt habe“, antwortete sie ausweichend. Sie wusste mehr, davon war Sax jetzt überzeugt.
In diesem Augenblick läutete die Türglocke. Sax, dem es beinahe wie ein kleines Deja-vu erschien, legte diesmal schnell einen Finger über die Lippen und bedeutete Irina damit, zu schweigen. Sie blickte ihn irritiert an, während der Mehrklang bereits ein weiteres Mal zu hören war.
„Erwarten Sie Gäste?“, fragte Sax leise. Sie schüttelte verneinend den Kopf.
Er dachte daran, dass es möglicherweise einmal mehr Blansko mit seinem Assistenten sein mochte, der von sich gegeben hatte, Irina noch einmal aufsuchen zu wollen. Denen wollte er jetzt eigentlich nicht begegnen. Nach dem Mord an Steiner konnte es allerdings auch jemand ganz anderes sein. Seine Pistole befand sich im Gepäck am Flughafen, und er glaubte kaum, dass Irina im Besitz einer Schusswaffe war. Er bedeutete ihr, tiefer in das Wohnzimmer hinein zu gehen, dann schlich er selbst mit wenigen Schritten durch den kurzen Flur zur hinausführenden Tür. Gerade, als er die Gegensprechanlage betätigen wollte, hörte er ein kurzes Hüsteln jenseits des dünnen Holzes. Der oder die Besucher waren bereits hier oben!
„Ja, Bitte?“, fragte Sax, dabei dicht neben dem Eingang stehend, ohne diesen zu öffnen.
„Die Post. Eine Eilzustellung für Frau Nohydlouhý!“, sagte die Stimme auf der anderen Seite. Es war der Sprache nach ein Einheimischer – aber wie kam er hier herauf? Freysing blieb vorsichtig.
„Legen Sie es vor die Tür. Ich bin nicht angezogen, und Irina schläft!“, behauptete er rasch und sagte es so, als stünde er direkt hinter dem Holz. Er beugte sich weit herüber und blickte sehr kurz durch den Türspion. Der Mann davor trug nicht die blaue Uniform der tschechischen Post, sondern einen vorn offen stehenden Sommermantel mit leichter Kleidung darunter, und in einer Hand einen Gegenstand, der weder Brief noch Päckchen war. Durch das Okular wirkte er verzerrt, aber Sax erkannte, dass er nicht besonders kräftig gebaut war, ein einigermaßen schmales Gesicht besaß und lange dunkle ungepflegte Haare, die beidseitig herab gekämmt tief bis über den Hals reichten, sich vorne aber unnatürlich weit über die Stirn zurückgezogen hatten.
„Geht nicht. Ich benötige eine Signatur auf dem Pad…!“, behauptete die ungepflegte Erscheinung gerade. Freysing riss mitten im Satz die Tür auf und schlug sogleich ansatzlos mit aller Kraft zu. Er traf den Arm des Gegners, sodass dieser die Pistole, die der geübte Agent durch den Spion hindurch erblickt hatte, fallen ließ und ihr Besitzer deren Bewegung mit den Augen folgte. Diesen überraschenden Moment ausnutzend, setzte Sax mit zwei harten Schlägen in dessen Bauch und auf das Kinn nach, sodass der Fremde einen Schritt zurück taumelte und auf den Hosenboden umstürzte. Es war ein einziger flüssiger Angriff.
Der Agent nahm einen der kleineren tönernen Blumentöpfe, die auf den Schemeln in der Nähe standen, und schlug diesen seitlich gegen den Kopf des Mannes, der daraufhin zusammenbrach und vollends die Besinnung verlor. Der Topf ging dabei zu Bruch und dessen Scherben verteilten sich auf dem Steinboden. Die Reste samt der Pflanze, die er noch in der Hand hielt, legte er achtlos zurück auf den Schemel.
Einen Augenblick lang wartete Freysing besorgt. Hinter den anderen Türen der Etage blieb es jedoch still. Irgendwo lief ein Fernseher. Eine männliche Stimme darin sagte gerade laut in Landessprache: „Du elender Hund, nun hast du bekommen, was du verdienst!“ Freysing lächelte. Niemand von den näheren Hausbewohnern war durch den abrupten, kurzen Lärm aufmerksam geworden.
Sax las die Pistole vom Boden auf, steckte sie hinten in seinen Hosengürtel, dann fasste er den gerade eben Bewusstlosen mit beiden Händen am Mantelaufschlag und schleifte ihn rückwärts ganz in Irinas Wohnung hinein. Sein Gegner stöhnte leise, erwachte aber noch nicht wieder. Sax verschloss sorgfältig die Wohnungstür von Innen und blickte in das erschrockene Gesicht der jungen Frau, die wie erstarrt und mit einem Handrücken vor dem Mund auf dem Sofa saß, gegenwärtig nicht einmal eines Schreies fähig.
„Wer ist das?“, stieß sie hervor, nachdem sie sich fasste. „Und was haben Sie mit ihm gemacht?“, fragte sie, immer noch erschrocken.
„Ein Halunke. Aber ich hab´ ihm eine gepflanzt!“, stellte Sax trocken fest.
„Hat er nicht gesagt, er sei von der Post?“
Der Mann am Boden gab bereits wieder Geräusche von sich, brabbelte etwas, blieb aber noch außer Gefecht.
„Ja, hat er, aber das, was er ihnen zustellen wollte, war äußerst ungesund.“
Sax nahm die Pistole aus dem Gürtel und zeigte sie ihr. Dann ließ der das Magazin herausgleiten und drückte eine Patrone in seine Handfläche. Sie war an dem eigentlich spitzen Ende manuell deutlich abgeflacht worden. Ein klassisches Dum-Dum-Geschoss! Durchaus möglich, dass ein solches Steiner getötet hatte.
„Oh, mein Gott!“, hörte er, während er es tat, von ihr. „Sie meinen, er wollte mich umbringen?“, fragte sie ungläubig.
Er sagte nichts dazu, sondern schob das Magazin wieder hinein. Dann kniete er neben dem mordlustigen Kerl nieder und durchsuchte ihn oberflächlich. Weitere Waffen förderte er nicht zutage, allerdings einen unlängst abgelaufenen tschechischen Ausweis.
„Ondrej Zbytečný“, las er vor. „Sagt ihnen der Name etwas?“ Irina schüttelte den Kopf. Es sah ehrlich aus. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Der Führerschein, den er bei ihm fand, lautete ebenfalls auf diesen Namen, und beide Plastikkärtchen wirkten echt. Die Wohnadresse lag in einem kleinen Ort etwa sechzig Kilometer östlich von Prag. Ansonsten trug er nichts bei sich, was auf seine Herkunft schließen ließ, nur den üblichen Krempel, und einen kleinen Schlüsselbund. Kein Profi! Ein Profi hätte niemals einen Ausweis dabei, jedenfalls keinen echten.
Der Mann rührte sich erneut. Sax gab ihm zwei, drei leichte Schläge mit der freien Hand auf eine Wange, sodass er die Augen aufschlug, und sogleich auf die Pistole starrte, die der Agent ihm vor das Gesicht hielt. Er stieß einen mehrsilbigen Fluch auf Tschechisch aus, welchen nicht einmal Sax kannte, und wollte einen Arm bewegen, aber der Agent schlug diesen hart mit dem Seinen zur Seite und setzte ihm drohend die Waffe an den Hals.
„Keine überflüssige Bewegung!“, forderte er ihn in der Landessprache auf. „Und nun ´raus damit: Wer schickt dich?“
Der Mann fluchte nur erneut, diesmal kürzer, wandte dann den Kopf zur Seite, ohne sich um die Pistole an seinem Hals zu scheren und spuckte verächtlich aus. Die Stelle am Kinn, an der ihn Sax´ Faust getroffen hatte, begann bereits leicht anzuschwellen.
„Ich bin kein sehr geduldiger Mensch!“, gab der Agent mit Schärfe in der Stimme zu bedenken, und packte ihn am wohl schmerzenden Kinn, um dessen Gesicht nach vorn zu richten. Eine Mischung aus Angst und Trotz lag in den Augen des verhinderten Killers. „Warum wolltest du Irina umbringen?“, fügte Sax hinzu.
Zbytečný´s Augen blickten kurz in die Richtung der Frau.
„Umbringen? Ich hatte nicht den Auftrag, die da umzubringen.“
„Sondern?“
„Sie!“
„Mich?“
„Ja.“
„Weshalb?“
„Leute wie ich fragen nicht nach den Gründen. Wir tun es einfach.“
„Und Irina?“
„Kollateralschaden. Sie wissen doch sicher, wie sowas läuft.“
„Wer gab dir den Auftrag?“. Der Mann antwortete nicht gleich und Sax musste ihm mit einer drohenden Gebärde klar machen, wie wichtig ihm die Auskunft war.
„Weiß ich nicht. Kam über Telefon. Ich sollte warten, bis Sie hier auftauchen, und dann…“ – er ließ den Rest aus. Aber es roch nach einer Lüge.
„Und warum hast du es nicht gleich unten auf der Straße erledigt?“
„Sie waren einfach zu schnell. Ich habe Sie erst im letzten Moment kommen sehen. Da gingen sie bereits ins Haus.“
„Derjenige, der dich beauftragt hat, war also sicher, dass ich hierher kommen würde?“
„Keine Ahnung, Mann!“
Sax erhob sich vorsichtig, hielt aber die Pistole deutlich auf den Liegenden gerichtet, sodass dieser es nicht wagte, eine hastige Bewegung zu unternehmen.
„Mantel ausziehen. Aber schön liegenbleiben dabei!“
Der Mann tat wie geheißen und schälte sich mühsam am Boden aus dem Kleidungsstück. Sax nahm ihn mit einer Hand entgegen, schnappte dann den lose in den Schlaufen hängenden Stoffgürtel und zog ihn geschickt heraus, ohne dabei die Waffe ablegen zu müssen.
„Und jetzt? Was haben Sie mit mir vor?“
„Was denken Sie wohl? Du wolltest mich umbringen. Würde es dich sehr verwundern, wenn ich jetzt mit dir dasselbe vor hätte? - Umdrehen!“
Der Mann, nun doch deutlich ängstlicher, rollte langsam auf dem Fußboden herum.
„Hände auf den Rücken! Kopf unten halten!“, befahl Sax. Er kniete nieder, legte die Waffe auf den Boden neben sich und band dem Mann, der keine Gegenwehr wagte, gekonnt die Handgelenke mit dem Gürtel aus dem Mantel zusammen. Dann nahm er die Pistole wieder auf, und half dem Gefesselten, sich zu erheben. Er wusste, dass einen echten Profi eine solche Fesselung nicht hindern würde, ihn trotzdem anzugreifen, aber dieser hier war keiner, sondern ein drittklassiger Mörder.
Wer auch immer Zbytečný auf ihn angesetzt haben mochte, verfügte wohl nicht über bessere Ressourcen. Vielleicht hatte er Steiner getötet. Er glaubte aber nicht, dass Holler auf dessen Konto ging. Die Morde waren zu unterschiedlich in der Ausführung. Da hatte noch jemand anderes seine Hand im Spiel!
„Packen Sie ein paar Sachen zusammen!“, wies Freysing nun Irina an, die dem Ganzen immer noch recht fassungslos gegenübersaß. „Kennen Sie jemanden, bei dem sie für ein paar Wochen wohnen können.“
Sie nickte und wollte zu einer ausführlichen Antwort ansetzen, aber er bedeutete ihr zu schweigen, da Zbytečný diese mithören würde.
„Aber meine Arbeit!“, gab sie dann von sich.
„Was ist ihnen wichtiger? Ihr Job, oder ihr Leben?“
„Aber er wollte doch Sie umbringen, nicht mich!“, reklamierte sie.
„Glauben Sie ihm das?“
Sie sagte nichts weiter, sondern trat zu einem hohen, schmalen Schrank, um sich daraus eine kleine Reisetasche zu besorgen, in welche sie alles an Kleidung hineinstopfte, was sie in der Eile greifen konnte. Dann holte sie aus dem Bad noch ihre Toilettensachen. Der Reißverschluss ging nur mühsam zu. Sax war geneigt zu glauben, dass diejenigen, die Irinas Wohnung durchsucht hatten, vielleicht nicht fündig geworden waren, und jemanden zur Beobachtung zurückgelassen hatten.
„Los jetzt!“, befahl Sax. Es war hell draußen, aber er wollte keine Zeit verlieren. Womöglich würde man Zbytečný vermissen, wenn er sich nicht irgendwo meldete.
Er hängte ihm den Mantel derart über die Schultern, dass die Händefesselung nicht mehr erkennbar war. So konnte es gehen! Sie verließen gemeinsam die Wohnung. Sax hielt die Pistole schussbereit unter seiner leichten Anzugjacke verborgen.
Im Treppenhaus begegnete ihnen zunächst niemand, aber am Hauseingang hielt ihnen eine freundliche kleine ältere Dame mit Kopftuch sogar die Tür auf, und Irina lächelte sie an, obwohl es zu Lächeln gerade eigentlich nicht ihre Stimmung war.
„Ich fahre für ein paar Tage weg!“, sagte sie zu ihr.
„Soll ich mich um ihre Wohnung kümmern solange?“, fragte die Dame etwas misstrauisch in Hinsicht auf die beiden Männer.
„Nicht nötig. So ewig bleibe ich nicht!“. Sie wollte der hilfsbereiten Hausbewohnerin augenscheinlich den Anblick der verwüsteten Einrichtung ersparen.
Dann traten sie weiter hinaus auf die Straße. Freysing sah sich um. Im Augenblick herrschte sehr wenig Betrieb, es war Nachmittag, und der Feierabendverkehr hatte noch nicht richtig eingesetzt. In der Nebenstraße war es einigermaßen ruhig, der Betrieb herrschte eher in den angrenzenden Geschäften und einem kleinen Café an der Ecke.
„Du hast ein Auto hier?“, fragte Sax und stieß den Gefesselten kurz an.
„Da vorne. Der blaue Audi“, gab dieser sofort zu.
Sax blickte dorthin und erinnerte sich, das Fahrzeug auch bereits bei seinem Eintreffen dort bemerkt zu haben, aber da hatte er dem Umstand keine weitere Bedeutung zugemessen. Er schalt sich selbst innerlich für die Unaufmerksamkeit. Der Schlüsselbund, den er Zbytečný abgenommen hatte, besaß einen Anhänger mit dem Markenlogo. Es war ein alter Wagen mit einem rein mechanischen Schloss, und es sollte stimmen. Zu dritt gingen sie den Bürgersteig entlang zu dem Fahrzeug.
Er drückte Irina den Schlüsselbund in die Hand. „Machen Sie mal den Kofferraum auf!“, forderte er, und sie tat wie geheißen.
Sie wollte ihre Tasche hineinstellen, aber er schüttelte den Kopf. Da gerade niemand sonst in der Nähe war, nahm er blitzschnell die Waffe hervor und hieb dem erfolglosen Killer damit auf den Hinterkopf. Er gab keinerlei Geräusch von sich und sackte nach vorn halb über die Kante des Kofferraums. Sax steckte die Waffe sofort seitwärts vorn unter der Jacke in seinen Gürtel und half mit beiden Händen nach, Zbytečný ganz im Wagen verschwinden zu lassen. Schnell schlug er den Deckel zu, bevor ein näherkommender Passant oder Gäste aus dem Café schräg gegenüber davon noch etwas mitbekommen konnten.
„Steigen Sie vorn ein. Ich fahre! Die Tasche können Sie auf den Rücksitz stellen!“
Irina war viel zu aufgeregt und eingeschüchtert, um hiergegen Protest zu erheben. Eine halbe Minute später befanden sie sich auf dem Weg aus der Stadt hinaus.
*
Kaum waren sie aus der Umgebung des Häuserblocks entschwunden, als der Polizei-Skoda mit Blansko und dessem Assistenten an Bord um die Ecke bog. Sie hielten am Straßenrand jenseits eines schmalen Grasstreifens direkt vor dem Eingang an und stiegen aus. Dann klingelten sie bei Irina und wiederholten es energischer, nachdem ihnen niemand öffnete.
„In der Klinik sagten sie doch, sie habe bereits Feierabend?“, versicherte sich der Oberinspektor. Sein Assistent nickte. „Vielleicht ist sie ja noch einkaufen?“, bemerkte er. Blansko zeigte jedoch Ungeduld und klingelte bei mehreren anderen Hausbewohnern gleichzeitig. Einige Sekunden später wurde ihnen von verschiedenen Wohnungen her geöffnet. Sie traten ein und gingen die Treppen hinauf. Dort, wo ihnen Neugierige entgegen traten, zeigten sie ihre Dienstmarken.
Vor Irinas geschlossener Wohnungstür blieben sie stehen. Blansko klopfte mehrfach fest mit der Faust dagegen.
„Aufmachen, Polizei!“, rief er laut, und lauschte vergebens auf Antwort. Drinnen war es absolut still. Sein Blick fiel für einen Moment auf die Scherben im Flur, die von dem zerdepperten Blumentopf herrührten, und er besah sich die Pflanzenreste auf dem Schemel. Doch er wurde sogleich davon abgelenkt.
„Die Nohydlouhý ist für ein paar Tage weg!“, sagte eine Stimme. Sie gehörte zu jener älteren Dame, welche Irina und ihren Begleitern die Haustür aufgehalten hatte.
„Allein?“
„Nein. Zwei Männer waren bei ihr.“
„Zwei Männer? Kannten sie die?“
„Nein. Noch nie vorher gesehen. Aber Irina wirkte etwas ängstlich, auch wenn sie sich Mühe gab, sich das nicht anmerken zu lassen.“
„Wie sahen sie aus?“
Sie beschrieb zuerst Zbytečný, der ihr nicht ganz geheuer vorgekommen war und eine deutliche Blessur am Kinn hatte. Außerdem waren ihr dessen ungepflegte Haare aufgefallen, und der merkwürdig getragene Sommermantel. Sie schaute gern Krimis im TV. „Ist etwas mit Irina?“, fragte sie dann.
„Und der andere?“, fuhr Blansko unbeirrt fort, ohne Auskunft zu erteilen.
„Groß, nicht ganz zwei Meter, denke ich, und dunkelblond. Um Mitte vierzig, würde ich sagen, vielleicht etwas jünger. Mit einem Dreitagebart.“
„Deutscher?“, wurde Blansko aufmerksam.
„Weiß nicht. Er hat nicht gesprochen. Sie gingen zu einem geparkten Wagen.“
Er blickte seinen Assistenten an. „Haben Sie gesehen, wie Freysing in das Flugzeug nach München gestiegen ist?“, fragte er diesen, erwartete aber nicht wirklich eine positive Antwort, denn die Angaben der Frau waren schon recht zutreffend auf den Deutschen.
„Ich habe ihn beobachtet, bis er durch die Kontrolle ist. Dann bin ich gegangen.“
„Ich möchte wetten, er ist zurückgekommen!“, stellte Blansko fest. „Der Beschreibung nach könnte er es sein, und er ist der einzige von den gegenwärtig bekannten Beteiligten, auf den sie passt.“
„Was will der denn noch hier?“
„Er weiß definitiv mehr, als er uns bisher gesagt hat.“ Blansko wandte sich wieder an die alte Frau. Es war ein kleines, eher schüchternes Persönchen, die auf gar keinen Fall Ärger mit der Polizei wollte. Das nutzte er aus.
„Was war das für ein Wagen, zu dem sie gegangen sind? Marke? Baujahr?“
„Weiß nicht. Alt. Ein ausländisches Modell. Kleine, blaue Limousine.“
„Besitzen sie einen Schlüssel für die Wohnung hier?“, fragte Blansko weiter.
„Ja, schon, für Notfälle…“
„Das ist einer! Holen sie ihn!“, befahl der Beamte, keinen Widerspruch duldend.
Zwei Minuten später standen sie dem Chaos in Irinas Behausung gegenüber. Die einbezogene Nachbarin war entsetzt, während die Kriminalpolizisten es mit geübtem Blick emotionslos zur Kenntnis nahmen.
„Die beiden Männer haben hier etwas gesucht, schätze ich“, begann er irrig seine weiteren Überlegungen, während er ebenso vorsichtig wie ergebnislos in den herumliegenden Sachen stocherte, um vielleicht zufällig irgendetwas von Bedeutung zu entdecken.
„Und was?“, wollte sein Assistent wissen.
„Etwas, das möglicherweise einen Hinweis auf Hollers Tod geben könnte.“
„Und was tun wir jetzt?“
„Fahndung nach Irina Nohydlouhý und Günter Freysing. Phantombild von dem zweiten Mann und Fahndung dann auch nach ihm. Verdacht auf Kidnapping.“
„Kidnapping?“
„Unsere Zeugin hier sagte doch aus, die Nohydlouhý habe ängstlich gewirkt.“
Der Assistent nickte daraufhin nur noch kurz, zog sein Handy hervor und telefonierte umständlich mit der Zentrale. Daher nahm Blansko es ihm unwirsch ab und wurde energischer. Am anderen Ende der Verbindung kam man sehr schnell seiner Aufforderung nach. Binnen kürzester Zeit war die Suche eingeleitet. Nach zwei Männern und einer Frau, in einer älteren blauen Limousine.
*
Freysing saß am Steuer des Audi und reizte die höchstzulässige Geschwindigkeit, den einheimischen Fahrern vor ihm angepasst, mehr als aus. Der Wagen besaß eine Automatik, und so brauchte er nicht viel zu tun.
„Nun erzählen Sie mal!“, forderte er unterwegs, während sie die Straße nach Süden nahmen, Richtung Pohořelice, in dessen Nähe nach Irinas weiteren Angaben deren ältere Schwester wohnte, bei der sie unterkommen wollte. Sie saß leicht zitternd unangeschnallt auf dem Beifahrersitz und lutschte nervös an ihren langen Fingernägeln.
„Was meinen Sie?“, fragte sie.
„Der Mann ist nicht gekommen, um mich umzubringen, auch wenn er es behauptet hat. Der wollte Sie töten!“
Er bedeutete ihr, den größeren Briefumschlag zu öffnen, der beim Einsteigen auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, und den sie jetzt auf dem Schoß hielt. Er war nicht verklebt. Sie fasste mit zwei Fingern und Daumen hinein und zog eine Fotografie hervor. Es war eine von ihr selbst, gemacht mit einem Teleobjektiv, direkt vor ihrer Arbeitsstelle. Der Eingang der Klinik war im Hintergrund zu erkennen. Freysing hatte, ohne vorher selbst in den Umschlag zu sehen, richtig getippt.
„Aber…“, begann sie, doch ein Blick von ihm zeigte ihr an, dass sie besser nicht länger schwieg. Außerdem wirkte in ihr deutliche Angst. Marius´ Bekannter neben ihr hatte bewiesen, dass er gewalttätig werden konnte, und sie war mit ihm mehr oder weniger allein. Und dann der gefesselte Mann im Kofferraum. Es war sämtlich sehr furchteinflößend!
„Woher ich das wusste? - Berufserfahrung.“
Sie sah ihn fragend an, und er antwortete ihr, um sie gesprächiger zu stimmen.
„Ich arbeite für dieselbe Dienststelle wie Marius. Ich denke, Sie wissen sehr genau, womit er im Großen und Ganzen wirklich beschäftigt war. Also?“
Sie überlegte. „Ich weiß nicht, ob es mit allem zusammenhängt.“, begann sie dann zögernd. „Marius und ich…“, sie unterbrach sich, und unwillkürlich standen ihr leichte Tränen in den Augen, als sie an ihren toten Geliebten dachte.
„Ja?“
„Er und ich, wir wollten ein neues Leben zusammen anfangen.“
„Midlife-Crisis, bei Marius?“, fragte er skeptisch, aber sie ging nicht weiter darauf ein.
„Vielleicht…“ – sie lächelte beinahe etwas verschmitzt. „Aber dafür brauchten wir Geld. Das Leben ist nicht billig.“
„Mehr Geld, als Sie und Marius zusammen verdienten, nehme ich an. Wo wollten sie denn hin?“
„An die Adria. Eine kleine Insel. Das war schon länger mein Traum!“
Er überlegte, was diese neue Erkenntnis bedeutete. „Und es gab auch eine Idee, wie Sie zu diesem Geld kommen konnten?“, hakte er nach. „Das Spesenkonto von Marius hätte für ein gemeinsames süßes Leben kaum ausgereicht. Und ihr Gehalt auch nicht. Wo sollte das Geld denn herkommen?“
„Sie wissen, wo genau ich arbeite?“
„Sie sagten, in einer Klinik für plastische Chirurgie. Krankenschwester?“
„Nein, ich bin dort in der Verwaltung, beim Chef. Mitte des Jahres kam man dort auf die Idee, die alten Behandlungsakten zu vernichten, also alles, was älter als zwanzig Jahre war. So lange sind wir verpflichtet, diese mindestens aufzubewahren. Aus rechtlichen und Versicherungsgründen, wissen sie…“
„Und ihre Aufgabe war es, diese Akten zu vernichten“, riet Freysing, halb unterbrechend. „Und weiter?“
„Ich war neugierig und blätterte in den Pausen darin. Ein paar Mal nahm ich dann Akten mit nach Hause und las sie genauer durch. Was ich darin entdeckte, war sehr interessant. Ich erzählte Marius davon, und er war meiner Meinung.“
„Und was war das ach so interessante?“
„Damals haben sich eine Reihe von Leuten neue Gesichter zugelegt.“
„Damals?“
„In der Zeit des Umbruchs. Leute, die vorher in osteuropäischen Staaten gearbeitet haben und in oder nach der Zeit des großen Umbruchs auf politische oder strafrechtliche Verfolgung gefasst sein mussten.“
„Auch aus der DDR?“, wurde Freysing nun hellhörig.
„DDR?“
„Deutsche Demokratische Republik. Naja, sie waren da ja noch kaum geboren…“
Sie nickte jedoch. „Aus der DDR, aus Ungarn, aus Polen, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus unserem eigenen Land – sie kamen von überall her. Die Klinik war damals noch sehr jung und konnte die Einnahmen sicher sehr gut gebrauchen. Ein dunkles Kapitel.“ Sie blickte ihn an und fügte hinzu, so als wolle sie nicht als Dummerchen gelten: „Ich habe in der Schule sehr viel über jene Zeit gelernt!“
„Neue Visage, neue Identität, neues Leben. Diese Menschen haben sich ihrer Verantwortung entzogen und sind untergetaucht“, stellte Freysing unbeirrt fest.
„So ist es gewesen. Genau“, bestätigte sie.
„Und Sie haben die alten Akten ausgegraben“, nickte Freysing, der ahnte, was jetzt kam. Zumindest ein wenig.
„Ich fand Bilder. Unzählige Bilder von Menschen, wie sie damals ausgesehen hatten, vor und dann nach der OP. Sie glauben gar nicht, wie viele das waren! Marius hielt es für eine gute Idee, eine Reihe dieser Akten zu scannen und herauszufinden, wo sich diese Leute alle heutzutage aufhalten. Dazu besaß er wohl Möglichkeiten.“
„Einige von ihnen dürften inzwischen das Zeitliche gesegnet haben.“
„Einige, ja, aber längst nicht alle. Die meisten von ihnen leben noch. Und sie sitzen teilweise in verantwortungsvollen Positionen, in denen sie sehr gut verdienen.“
„Davon wollten sie etwas abbekommen.“
„Marius muss ohne mein Wissen damit angefangen haben, weitere Recherchen zu betreiben, und vielleicht auch schon, mit diesen Leuten Kontakt aufzunehmen.“
„Um sie zu erpressen“, stellte Freysing klar. „Und womöglich deswegen ist er jetzt tot.“
Sie schluchzte heftig, als sie daran erinnert wurde. „Ja. Möglich. Es ist grausam!“
Freysing dachte darüber nach. Marius Holler war für den BND tätig gewesen. Er hatte in Prag etwas herausgefunden, das GNSS betraf, und dessen Kontakt Steiner in der Angelegenheit war nun umgebracht worden. Eine Spur. Gleichzeitig hatte er, mit oder ohne Irinas konkretes Wissen, jedoch mit den von ihr beschafften Akten, Leute ausfindig gemacht und dann zu erpressen versucht, die nach den sogenannten friedlichen Revolutionen in Osteuropa untergetaucht waren. Eine andere Spur.
Hing beides irgendwie zusammen, oder waren dies wieder einmal zwei völlig verschiedene Ansätze, die unterschiedlichen Gruppierungen Motive für extreme Vorgehensweisen lieferten? Und zu welcher Gruppierung gehörte Zbytečný?
Natürlich waren die von Irina zur Vernichtung vorgesehenen Akten auch für den BND selbst sehr interessant. Hatte Holler Irina nur benutzt und ein mehrfaches Spiel getrieben, ohne seine Vorgesetzten davon zu informieren? In Prag wusste man angeblich davon zumindest wohl eher nichts, sonst hätte man ihn informiert, als er dort eintraf. Möglicherweise würde er das nie erfahren, aber er wollte es von Berlin aus zumindest noch einmal genauer nachprüfen lassen.
„Und die Akten?“
„Ich besaß zuletzt nur zwei Akten bei mir zuhause. Die sind weg. Und auch mein Laptop mit den gescannten Dokumenten ist weg. Alles futsch. Die Einbrecher müssen es mitgenommen haben“, versicherte sie glaubhaft.
„Ich denke weiterhin nicht, dass das zufällige Einbrecher waren. Die wussten ganz genau, wonach sie gesucht haben. Aber möglicherweise kann uns unser Freund da hinten im Kofferraum weitere Auskünfte erteilen.“
„Damit will ich nichts zu tun haben“, stellte Irina klar, und schluckte.
„Ich setze Sie bei ihrer Schwester ab. Bleiben sie für ein paar Tage dort. Ich sorge dafür, dass diese Woche noch jemand dort hinkommt und sich um Sie kümmert.“
Mit ihrem Wissen über Holler durfte sie auf keinen Fall zu Blansko laufen – das würde die Integrität der BND-Arbeit in Prag weiter verletzen. Ein BND-Agent, der Leute erpresste… - das ging gar nicht! Jedenfalls nicht auf eigene Rechnung!
„Gibt es weitere Kopien von den gescannten Unterlagen?“
„Marius besaß einen USB-Stick. Da war auch alles drauf, was ich hatte.“
Der Stick war nicht bei den Sachen gewesen, die man bei ihm fand, und auch auf dem jetzt gestohlenen Laptop Hollers hatte Sax nichts dazu gefunden gehabt.
Sie erreichten Přibice mit seinen eingeschossigen bunten Häuschen wenig später, und Sax setzte Irina dort ab. Dann fuhr er schnell weiter, ohne abzuwarten, bis die Schwester von Hollers Geliebter die Tür öffnete.
*
Freysing steuerte den Audi zu einem nahen Ufer des flachen Vrkoč-Sees, an welchem um diese Uhrzeit nicht unbedingt mit vielen Spaziergängern zu rechnen war. Von weitem erblickte er ein halbes Dutzend Netzfischer, die gerade ihr an langen Stangen befestigtes Arbeitsgerät von kleinen Booten her einholten. Sie befanden sich zu weit entfernt und würden nicht sehen können, was genau Sax hier trieb.
Er stoppte den Wagen, stellte den Motor aus, zog den Zündschlüssel ab, stieg aus, und ging um den Wagen herum. Dort öffnete er den Kofferraum und ließ Zbytečný aussteigen, was diesem wegen der nach hinten gefesselten Hände äußerst schwer fiel. Aber es gelang ihm – die vorgehaltene Pistole war ein überzeugendes Instrument der Motivation. Der Mantel blieb zurück.
„Hinknien!“, befahl Sax dann, hinter ihm stehend. Der von der Fahrt derangierte Mann erstarrte, und der Agent musste es wiederholen, damit Folge geleistet wurde.
„Wollen Sie mich jetzt umbringen?“, fragte Zbytečný mit zittriger Stimme und warf einen äußerst besorgten Blick über die Schulter hinweg auf die Waffe in Freysings Hand.
„Ich wollte es schon in Brno, aber nicht in Gegenwart der Frau“, gab Sax so bestimmt wie möglich von sich, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er es ernst meinte. Er hielt den Lauf mit dem Schalldämpfer mit ausgestrecktem Arm an den Hinterkopf des Tschechen. Der fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
„Warten Sie…“, brachte er mit trockenem Hals hervor.
„Du hattest deine Chance!“ - Sax entsicherte die Waffe mit einem hörbaren Klicken. Eine Patrone befand sich noch im Lauf, er musste nicht erst durchladen.
„Dirschau“, sagte Zbytečný daher schnell, von Todesangst geplagt. „Der Mann, der mich beauftragt hat, nennt sich Koslowski, heißt aber in Wirklichkeit Dirschau!“
„Dirschau? Ein Deutscher? Und das hat er dir einfach so gesagt, ja?“ Freysing glaubte, sich an den Namen zu erinnern, aber es musste, wie Steiner, ein Name in seiner weit zurückliegenden Vergangenheit sein. Doch so sehr er im Moment auch überlegte, er kam nicht darauf. Allerdings: So selten war der Name nun auch wieder nicht.
„In meinem Job ist es besser, seinen Auftraggeber zu kennen. Es war nicht das erste Mal, und nicht schwer über meine Kontakte herauszubekommen, wer er ist.“
„Was weißt du über ihn?“
„Nur, dass er sich gegenwärtig in Prag aufhält.“
Prag. Immer wieder Prag! Sax überlegte. Steiner hatte von Prag gesprochen, und darüber, dass dort diese Firma aus Ex-Stasi-Mitarbeitern für die Sicherheit bei der Einrichtung der GNSS-Systeme zuständig sei. Gehörte Dirschau, alias Koslowski, dazu?
Fünfundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit, und sicher war inzwischen viel Gras über die Vergangenheit einiger Leute gewachsen. Dirschau. Das war einer von ihnen. Es fiel Sax nun doch wieder ein: Dirschau war der Name eines Hauptmannes in der Leipziger Bezirksvertretung der Staatssicherheit gewesen. Damals, 1989. Er erinnerte sich an ein Verhör in seiner Studentenzeit, während der Wende, und an einiges mehr. Hing es aber auch mit den Akten Irinas zusammen?
„Dein Auftrag lautete, Irina umzubringen, nicht mich. Ich habe das Bild im Umschlag gesehen. Warum will Dirschau-Koslowski deren Tod?“
„Das hat er mir nicht gesagt.“
Irina hatte eingestanden, dass sie zusammen mit Holler ein faules Ding hatte durchziehen wollen, um mit ihm ein gemeinsames Leben an der Adria zu genießen. Die Hintergrund-Informationen für die geplante Erpressung stammten von ihr. Gut, darum mussten sich die Kollegen kümmern, und auch in Prag aufräumen. Und Irina schützen. Die Zentrale war bereits über Prag informiert, nun würde er wegen allem Weiteren noch ein paar konkrete Angaben machen können. Was ihn selbst betraf, endete das Engagement an dieser Stelle. Die Polizeit hatte ihn mit im Visier, und alles Folgende mussten andere aus dem Dienst übernehmen.
Freysing nahm die Waffe, die schwer in der Hand wog, einen winzigen Moment lang etwas herunter, zielte dann aber sofort wieder auf Zbytečný´s Kopf. „Ist das alles?“, fragte er schmallippig.
„Ja. Mehr weiß ich wirklich nicht. Lassen Sie mich bitte laufen!“
„Warum sollte ich das tun. Du bist ein Mörder, und Irina wäre mit Sicherheit nicht dein erstes oder letztes Opfer gewesen.“
Zbytečný erwiderte nichts. Es war die Wahrheit. Er hatte bereits einige weitere Menschen auf dem Gewissen, und nie war deshalb so etwas wie Reue über ihn gekommen, auch wenn er die Gesichter seiner Opfer manchmal in der Nacht erschreckend lebendig vor sich sah. Zum Auftragsmörder wurde niemand geboren, auch er nicht. Es waren die Umstände seines Lebens gewesen, die ihn dazu machten. Jedenfalls versuchte er, sich selbst damit zu beruhigen und Berechtigung für sein mörderisches Handeln zu finden. Er flehte, und in seinen Augen standen gar leichte Tränen.
Sax schlug ihm unvermittelt mit der Waffe auf den Kopf, sodass er bewusstlos im Schlick des Seeufers zusammenbrach und liegen blieb. Der Agent entlud die Waffe und steckte sie ihm in den Gürtel, nachdem er seine eigenen Fingerabdrücke sorgsam abgewischt hatte, dann rief er über die Auskunft mit dem IPhone bei der nächsten Polizeidienststelle an. Mit Sicherheit würde Zbytečný kein gänzlich unbeschriebenes Blatt sein. Hauptsache, er war aus dem Verkehr gezogen.
Der Agent machte sich eilig aus dem Staube. Erst wollte er mit dem Audi einfach über die Grenze nach Österreich gelangen, aber bereits von weitem erkannte er, dass der Übergang kurz hinter Mikulov heute offenbar besonders gut bewacht und scharf kontrolliert wurde. Eine kurze Schlange an wartenden Fahrzeugen bildete sich bereits unmittelbar davor auf der tschechischen Seite. Sax bezog das irrtümlich nicht unbedingt auf sich, aber kehrte trotzdem sicherheitshalber um. Er ließ den Wagen in der zuvor bereits durchfahrenen Ortschaft stehen. Den Umschlag mit Irinas Foto nahm er mit. Als vorerst letzte nachvollziehbare Spur erwarb er am Bahnhof eine Fahrkarte für den nächsten Regionalzug nach Břeclav.
*
Oberinspektor Blansko hatte die weitere Jagd nach den beiden Männern und der Frau von der Leitstelle aus verfolgt. An der nächsten Straßenecke von Irinas Wohnung aus waren sie von einer Verkehrskamera aufgenommen worden. Die Fahrtrichtung war Süden, und so veranlasste er, dass die Beamten an der Grenze nach Österreich informiert wurden. Dorthin würde Freysing nicht entkommen können.
Der Verdacht, dass der deutsche Agent dorthin fahren wollte, bestätigte sich, als es etwa zwei Stunden später einen Anruf von der Polizeidienststelle in Pohořelice gab. Sie hatten selbst einen anonymen Anruf erhalten und wenig später einen Mann namens Zbytečný gefunden – bewusstlos, aber am Leben. Der Beschreibung nach wurde er nicht nur von Blansko gesucht, sondern stand ohnehin auf der Fahndungsliste. Freysing war offenbar in der Gegend gewesen, und wenig später fand die Polizei auch den Audi in Mikulov. Sie konnte ermitteln, dass der Gesuchte mit dem Zug weitergefahren war. Von der Frau hingegen fehlte jede Spur.
Blansko befürchtete zunächst Schlimmes, aber aus irgendeinem Grunde schätzte er Freysing nicht wirklich als Mörder ein. Nicht ganz astrein, aber kein Mörder. Zbytečný hingegen war ohne Zweifel einer, und wenn Freysing diesen gefesselt der Polizei auf dem Präsentierteller servierte, konnte der Mann so falsch nicht sein. Trotzdem, er wollte nun sehr dringend erneut mit ihm sprechen. Aber wohin war er verschwunden?
Bald fanden sie heraus, dass Freysing in Břeclav einen Leihwagen genommen hatte, aber in welcher Richtung er hiernach weiter fuhr, ließ sich so schnell nicht ermitteln. Die Spur schien kalt und die weitere Fahndung blieb ergebnislos.
Die Deutsche Botschaft war involviert. Blansko wählte eine Nummer in Prag und ließ sich mit einem hohen Beamten im Außenministerium verbinden, den er persönlich von früher her gut kannte. Er war hin und her gerissen: Das Weitere überstieg womöglich seine Kompetenzen. Zwar war er keiner, den so etwas an Ermittlungen hinderte, aber nur ein wenig später schienen seine Vorgesetzten zu mauern, und er wurde mit anderen Fällen beschäftigt.
Niemand wollte Probleme in dieser Angelegenheit. Alles wurde fein unter den diplomatischen Teppich gekehrt, und die Spione auf beiden Seiten durften weiterhin ihrer Arbeit nachgehen. Keine Berichte, keine Skandale. Das Leben konnte so einfach sein, und zwei Monate später wurde Oberinspektor Blansko einmal mehr für seine hervorragende Polizeiarbeit befördert. Ohnehin stand er kurz vor der Rente.
Als Sax sehr viel später einmal davon erfuhr, musste er unwillkürlich breit grinsen.
Das bewährte System hatte wieder einmal funktioniert.
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Freysing befand sich jedoch, als Blansko noch mit Prag telefonierte, im Eurocity Vindobona auf dem Weg nach Wien. Er war in Brno eingestiegen, nachdem er am Flughafen sein Gepäck abgeholt hatte. Das Ticket kaufte er erst im Zug. Als er über die Videoüberwachung des Fernbahnhofes identifiziert wurde, hatte er gerade schon die Grenze nach Österreich passiert. Eine weitere Verfolgung fand nicht mehr statt.
Brno war Geschichte, die Daten, die Holler besessen hatte, wohl verloren. Sax informierte die Zentrale so schnell wie möglich, noch während der Zugfahrt, von den letzten Vorkommnissen. Das Weitere lag nun nicht mehr in seinen Händen.
In Prag kümmerte man sich bereits um die Sicherheit der Anlagen in der GNSS-Zentrale und versuchte, mehr über den Ex-Stasi-Mitarbeiter Dirschau heraus-zufinden, welcher wohl irgendwie mit der Sicherheitsfirma zu tun hatte und in deren Unterlagen als „Koslowski“ geführt wurde. Dieser war jedoch untergetaucht.
Von Wien aus nahm Sax den Spätflieger nach München. Als er endlich kurz vor Mitternacht bei seinem Unterschleißheimer Häuschen ankam, das er zu jener Zeit dort noch privat unter dem Decknamen Gernot Flöter bewohnte, war er entspannt und ausgeruht. Er beschloss, an die Holler-Angelegenheit keine großen Gedanken mehr zu verschwenden.
Viel mehr beschäftigte ihn hier schon die Einladung zur Hochzeit seiner alten Freundin Susanne mit einem ostdeutschen Wirtschaftsindustriellen, die in Kürze stattfinden sollte. Aber das war dann ein ganz anderer und spezieller Fall, der ihn über die gesamte nächste Zeit in Anspruch nehmen sollte.
So geriet ihm das, was in der Tschechei geschehen war, erst einmal aus dem Sinn. Fall erledigt.
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Ungefähr zwei Monate später, am 18. November 2014, nur wenige Tage nach jener von den Medien vielbeachteten Landung der ESA-Sonde Philae auf dem Kometen Tschurjumow-Gerassimenko im Rahmen der einigermaßen geglückten zehnjährigen Rosetta-Mission, explodierte eine VEGA-Rakete kurz nach dem Start vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou (Französisch Guayana), mit dem Satteliten „Spectator“ an Bord.
Es schien zu der Zeit keinen Zusammenhang mit den beiden Morden in Brno, den weiteren inzwischen durch die zuständigen Dienststellen verfolgten Vorkommnissen in Prag, oder mit gar noch ferner zurück liegenden Ereignissen zu geben.
Die Folge des teuren Zwischenfalls war eine umfangreiche Suchaktion im Westatlantik, nahe der karibischen See, an welcher sich mehrere Nationen beteiligten. Während die christliche Welt die Adventszeit erlebte, gelang es, erste Trümmerteile etwas mehr als 200 Seemeilen vor der Küste genauer zu orten und diese schließlich auch mittels eines äußerst speziellen Bergungsschiffes der DEMTAG aus Deutschland zu heben.
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