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Kapitel 2

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Tatsächlich! Als sie den Ortseingang von Löwenherz erreichen, traut Fynn seinen Augen nicht. Bei dem was er sieht, kann es sich einfach nur um seine Heimatstadt handeln. Er ist diese Strecke schon so oft im Auto lang gefahren oder auch mit dem Fahrrad. Die bunten Häuserfassaden, die Bäume am Rande der Straße, der abgegrenzte Radweg, die Straßenschilder und die Ampel ein Stück weiter vorne … alles … einfach alles sieht genau so aus wie in seiner Welt. Fynn weiß nicht was er davon halten soll, denn irgendwie traut er dem Braten nicht. Etwas stört ihn, doch er kann es nicht benennen.

Völlig unterschiedliche Emotionen rasen durch seinen Körper: Verunsicherung, Ungläubigkeit, Nervosität – aber auch Vorfreude und Abenteuerlust. Malik schlendert neben ihm und lächelt ihn an. Ganz selbstverständlich tätschelt er dem Blonden den Hintern.

„Du hast Recht“, stimmt er ihm zu, ohne dass Fynn ein Wort seiner Verwirrung kundgetan hätte. „Alles wirkt wie eine Mogelpackung. Ich werde es dir erklären.“ Sie bleiben kurz stehen. Maliks Hand fährt über Fynns Rücken und bleibt schließlich locker auf seiner Schulter liegen. Mit der anderen macht er eine ausschweifende Bewegung, die die gesamte Kulisse vor ihnen umfasst.

„Zum einen liegt es daran, dass sich deine Augen noch nicht an unser Licht gewöhnt haben. Alles muss dir irgendwie zu hell und „überzeichnet“ vorkommen. Die Farben leuchten intensiver als bei euch.“

Fynn nickt zustimmend.

„Doch das wird sich bald legen“, fährt Malik fort.

„Darf ich in die Stadt fliegen?“, unterbricht Yassin Maliks Erklärung und zieht hoffnungsfroh die Augenbrauen hoch.

„Nein“, antwortet Malik knapp, ohne auch nur in seine Richtung zu blicken. Stattdessen erklärt er weiter.

„Dir wird auffallen, dass die Unterschiede unserer Dimensionen nur marginal sind. So wirst du nicht die selben Menschen hier finden. Es kann jedoch durchaus sein, dass du Leute triffst, die große Ähnlichkeit mit Bekannten in deiner Welt haben. Mach' dich darauf gefasst, dass du trotzdem großes Aufsehen erregen wirst.“

„Ich??“ Fynns erstaunter Blick bringt seine drei Begleiter zum Lachen.

Jetzt tritt auch Valerie näher. Liebevoll legt sie einen Arm um seine Hüfte.

„Dein Nachname“, lacht sie herzlich und lehnt sich gegen den um einiges größeren Mann. „Und deine Augen, mein Lieber!“, erklärt sie weiter. „Niemand in unserer Dimension hat helle Augen. Und deine sind wahrlich …“ Sie hält inne. Ihr scheinen die Worte zu fehlen.

„Sie funkeln wie zwei Saphire“, hilft ihr Malik aus.

„Meeresblau“, ergänzt Yassin schwärmend.

„Sie strahlen wie der Sommerhimmel“, vergleicht Valerie mit warmer Stimme.

Seine drei Begleiter lächeln und mustern Fynn mit leuchtendem Blick. Er senkt verschämt den Kopf.

„Hört auf, ihr Spinner!“, murmelt er verlegen.

„Hör' du lieber auf“, spottet Malik leise, „sonst vernasch' ich dich noch an Ort und Stelle.

„Also“, fährt er mit normaler Stimme fort und bezieht Yassin mit einem Blick in seine Rede ein. „ihr werdet sehr schnell bemerken, dass die Menschen in dieser Dimension anders sind als ihr es vermutet.“

Wie zwei wissbegierige Schüler hängen Yassin und Fynn an seinen Lippen.

Malik verzieht den Mund zu einem arroganten Grinsen. „Hier kennt und respektiert mich jeder. Ich muss daher viel weniger manipulieren als bei euch.“

„Hört, hört ...“, wirft Fynn ironisch ein.

Malik ignoriert ihn. „Du wirst bald merken, dass dir die Freundschaft zu mir gewaltige Vorteile bringen wird ...“, ergänzt er hochmütig. „Und nein … Yassin … du wirst hier nicht die ganze Zeit durch die Gegend flattern wie ein übergroßer Gockel“, erklärt er den um Aufmerksamkeit heischenden und mit beiden Armen herumfuchtelnden Hünen. „Das ist nämlich auch in unserer Dimension nicht üblich!“

„Ooch!!“ Wie ein launisches Kind stapft Yassin einmal mit dem Fuß auf.

Unerwartet geduldig geht Malik auf ihn ein. „Wenn wir wieder mal da draußen spazieren gehen, darfst du fliegen, okay? Aber hier in der Stadt würden die Menschen ausflippen, genau wie bei euch zuhause. Unfälle würden geschehen und die Leute bekämen vor Schreck einen Herzanfall, da du keiner der bekannten Mantikore bist. Mal davon abgesehen, dass auch wir nicht durch die Gegend flattern wie aufgescheuchte Hühner!“

Yassin sieht es schließlich ein und zuckt zustimmend mit den Schultern. „Na gut, ich will ja niemandem schaden!“, lenkt er ein.

„Gut! Dann lasst uns weiter gehen. Habt ihr denn gar keinen Hunger?“ Malik dreht sich um und schlendert weiter. Währenddessen fragt ihm Yassin Löcher in den Bauch.

„Spinn' ich oder benimmt sich Malik hier ganz anders?“, flüstert Fynn Valerie zu. Sie lächelt.

„Du hast Recht“, stimmt sie ihm zu. „Er fühlt sich hier einfach wohler; das wird es sein. Ich selber spüre auch, wie ich mich verändere. Das ist wirklich schwer zu beschreiben. Hier herrscht eine andere … Energie … es fällt mir kein besseres Wort ein. Du wirst es sicher selbst bald spüren. Je länger wir hier sind, umso friedlicher und ruhiger fühlt es sich für dich an. Als würde unsere Welt versuchen, nur das Positive aus den Menschen zu holen. Natürlich sind wir nicht perfekt … doch diese unterschwellige Aggression, die es oft in den Großstädten deiner Dimension gibt – also, überall wo viele Menschen aufeinander treffen – die gibt es hier nicht. Die Menschen sind freundlich und unbedarft, bis auf ...“ Sie beißt sich verlegen auf die Unterlippe. Nein, sie will lieber nicht weiter erzählen. Wenn der Mantikor es nicht tut, steht es ihr erst recht nicht zu. Doch Fynn horcht natürlich auf.

„Was denn, Valerie? Bis auf … wen? Was?“ Fynns Alarmglocken schrillen. Er wusste doch, dass hier irgend etwas nicht stimmt.

Valerie lächelt ihn beschwichtigend an. „Ach, mein lieber Fynn. Es wird schon alles gut werden.“

„Valerie!“, warnt er sie leise. „Mach' mich nicht wahnsinnig und rück' endlich mit der Sprache raus!“

Sie schiebt ihre Hand unter seinen Oberarm und zieht ihn damit noch ein wenig näher zu sich.

„Über irgend etwas müssen die Leute doch reden“, beruhigt sie ihn. „Denn lediglich die Mantikore haben direkten Kontakt zum 'Hohen Rat'. Wir Menschen brauchen eigentlich keine Regierung oder so was. Wir leben miteinander und kommen gut zurecht. Doch der 'Hohe Rat' und die Mantikore haben ebenfalls eine Daseinsberechtigung. Es gibt sie seit Menschengedenken. Niemand würde es wagen, ihr Wirken oder ihre Entscheidungen anzuzweifeln. Es ist … kompliziert. Ich kann dir das nicht in ein paar Sätzen erklären. Sei einfach so wie du bist, dann wird schon alles gut werden, mein Junge!“

„Ich wurde gezeugt, um einmal hierher zu kommen, Valerie. Sie haben Pläne mit mir. Irgendetwas soll mit mir geschehen!“ Ein kalter Schauer läuft ihm über den Rücken. Die Frage nach dem 'Warum' verkneift er sich, denn ihm ist klar, dass Valerie genauso wenig eingeweiht wurde wie er.

Sie tätschelt weiter seinen Arm.

„Auch ich mache mir Sorgen um dich“, gesteht sie, doch ihre Stimme bleibt fest. „Aber eines darfst du nie vergessen: Dein Name ist Fynn Lichtermeer und das bedeutet in dieser Welt … unglaublich viel!“

Mehr kriegt Fynn aus seiner Freundin einfach nicht heraus. Wie kann sie nur annehmen, er würde sich auf seinen ausgefallenen Nachnamen verlassen?! Irgendwie war sie schon immer ein wenig verdreht … aber was soll's?!

Er atmet tief durch. Ja, jetzt spürt er es auch. Er fühlt sich super. Die Sonne scheint und ein laues Lüftchen streicht durch sein Haar. Es sind mindestens 20-23 Grad; sehr sehr angenehm. Auf der Straße herrscht wenig Verkehr und die paar Autos, die herumfahren, sind erstaunlich leise. Die Menschen schlendern, statt zu hasten. Die ganze Szenerie erinnert Fynn an seine Kindheit, als er alles noch mit anderen Augen sah. Die Sonne schien heller, die Vögel zwitscherten unschuldiger und sogar die Menschen waren friedlicher. Das stimmt natürlich nicht, doch als Kind empfindet man seine Umwelt eben anders.

Er streckt sich ein wenig und versucht, das Schild in ungefähr fünfzig Metern Entfernung zu lesen. Es hat auf jeden Fall große Ähnlichkeit mit dem Schild zu Hause. Doch als er näher kommt, lächelt er versonnen.

„Café Bohnen“ liest er und staunt. Na, da würde sich Mika aber wundern, grinst Fynn in sich hinein und beschließt, einen Blick ins Innere zu wagen. Vielleicht sieht dem blonden Kellner ja hier auch jemand ähnlich. Das wäre der Hammer!


Doch leider wird Fynns Vorfreude enttäuscht. Im Vorbeigehen erhascht sein Blick lediglich einige Gäste, die an den Tischen sitzen und Kaffee trinken. Im Hintergrund erkennt er eine junge Frau mit langen Haaren, die gerade an einer monströs großen Kaffeemaschine herumhantiert. Kein Mika, kein Wiedererkennungseffekt in welcher Form auch immer. Die Inneneinrichtung ähnelt so gar nicht dem 'Café Bohne' und die Gäste wirken irgendwie anders. Enttäuscht zieht Fynn eine Schnute. Was hatte er gedacht? Eine originalgetreue Reproduktion seiner Welt? Oder dass sie DOCH einfach nur nach Hause kommen würden? Der kurze Moment, in dem die Vier an diesem Café vorbeigehen, öffnet ihm endgültig die Augen. Es ist wirklich so! Seine Heimat ist weit weit weg … unerreichbar für ihn. Außerdem kann er nicht einfach in einen Zug steigen und nach Hause fahren! Die brutale Wirklichkeit zeigt ihr wahres Gesicht.

Yassin scheint die Verwirrung seines besten Freundes zu spüren. Er schiebt sich neben Fynn und legt einen seiner starken Arme um dessen Schultern.

„Erschreckend, was?“, murmelt er beipflichtend. „Aber wir haben ja noch uns, Mann! Wir beide, wir wissen, dass unser Zuhause woanders ist. Unsere gemeinsamen Erinnerungen kann uns keiner nehmen!“ Mit sanftem Druck zieht er Fynn noch etwas näher an sich heran.

Dieser bedankt sich mit einem beklommenen Lächeln.

„Ja, du hast Recht, Yassin! Ich bin so froh, dass du mitgekommen bist! Ohne dich wäre das alles kaum zu ertragen!“

Während sie sich leise unterhalten, folgen sie Malik den bekannten und gleichzeitig neuen Wegen in Richtung der kleinen Altstadt von Löwenherz. Lediglich an einigen Häuserfassaden erkennen sie, dass sie sich nicht in ihrer Welt befinden. Sie wurden anders gestaltet. Entweder hatte man eine andere Fassadenfarbe gewählt oder es wurden andere Fenster und Türen eingebaut.

Das Zentrum des Marktplatzes von Loewenherz bildet ein aus alten Bruchsteinen gemauerter Brunnen, der mit aus Gusseisen geschmiedeten Rosenranken und einigen Tauben verziert ist. Fynn bleibt abrupt stehen und verschränkt nachdenklich die Arme vor der Brust. Auch dieser Brunnen hier wurde wie ein mittelalterliches Zeitzeichen gemauert, doch als zusätzliche Verzierung wurden ein Lamm und ein Löwe gewählt. Das Lamm liegt zusammengekauert mit eingeknickten Vorderläufen vor dem großen Raubtier. Der riesige Löwe baut sich mit wild flatternder Mähne halb vor ihm auf. Bei seinem lautlosen Brüllen blitzen die langen Reißzähne dem Betrachter gefährlich entgegen. Beschützt oder bedroht er das wehrlose Tier? So richtig ist das nicht zu deuten.

Zuhause nennen die Einheimischen ihren Brunnen gerne „Friedensbrunnen“. Irgendwie will diese Bezeichnung hier nicht so recht passen.

„Wir nennen ihn den 'Löwenbrunnen'“, erklärt Valerie automatisch. „Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir euer Brunnen besser“, ergänzt sie lächelnd. „Er ist viel filigraner gearbeitet.“

„Und er wirkt friedlicher“, brummt Fynn zustimmend.

„Was haltet ihr davon, wenn wir zu 'Resi' gehen?“, unterbricht Malik ihre Gedanken.

„'Bei Resi' heißt hier auch so?“, fragt Yassin begeistert.

Malik nickt. „Allerdings kann man dort auch ganz gut essen und es gibt einige Fremdenzimmer. Ganz gemütlich da. Dort können wir fürs erste unser Lager aufschlagen. Was meint ihr?“

Natürlich sind Fynn und Yassin Feuer und Flamme. Jetzt marschieren sie schon ein wenig schneller. Es dauert nicht lange und ihre vermeintliche Lieblingskneipe ist in Sicht. Die Kneipe in ihrer Dimension befindet sich in einem schon recht verfallen wirkenden Altbau. Doch bei diesem Gebäude hier wurde die Fassade liebevoll restauriert und neben der Eingangstüre hängt ein beleuchteter Glaskasten mit der Speisekarte. Fynn lässt seinen Blick darüber schweifen. Hört sich doch gar nicht so schlecht an. Sein Magen knurrt zustimmend.

Malik Mantikor: Die andere Welt

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