Читать книгу "Immer an der Grenze der Verrücktheit" - Ignaz Kirchner - Страница 9
Spiel-süchtig
Оглавление1971 wird Ignaz Kirchner ans Stadttheater Bonn engagiert, wo der ehemalige Oberspielleiter von Bonn und Bochum, der Regisseur und Schauspieler Hans-Joachim Heyse, Generalintendant geworden war. Die erste Produktion dort ist Kaspar von Peter Handke. Kirchner spielt den dritten von insgesamt fünf Kaspar-Darstellern. Thema des Stückes ist die Manipulierbarkeit des Menschen durch Sprache. Kaspar findet zunächst durch Sprache seine Individualität und wird dann von den Einsagern zu einer Massenexistenz umprogrammiert. Alle sagen dasselbe, Kaspar hat seine Individualität wieder verloren. Regie führt Andreas Gerstenberg. Es bleibt die einzig interessante Premiere in diesem Jahr. Nach drei weiteren Produktionen verlässt Kirchner das Haus.
Vielleicht bin ich besonders geschult in Bezug auf die Sprache, aber ich höre auch genau hin. Und zwar nicht nur, was gesagt wird, sondern auch wie etwas gesagt wird. Lügner kann man sofort erkennen. Die Komplimente in hoher Tonlage sind alle gelogen, alle: »Herrlich, wunderbar, ein so schöner Abend«. Man hört es sofort, auch ob es nur verlegen oder gelogen ist. Außerdem kommt es immer noch darauf an, wer welchen Satz sagt.
In Peter Handkes Kaspar geht es aber nicht nur um Sprache. Mich haben dabei auch die Geräusche interessiert. Er wird nicht nur durch Sprache manipuliert, er wird auch gestört durch die grauenhaftesten Geräusche, die die anderen mit Gabeln und Messern auf Porzellan machen. Und da habe ich Glas gegessen.
Ich hatte die Biografie von Ernst Rowohlt gelesen, die sehr amüsant geschrieben ist. Rowohlt ging als junger Mensch Ende der Zwanziger nach Berlin und wollte einen Verlag gründen. Die Schriftsteller saßen alle im Romanischen Café, am Nebentisch zum Beispiel Else Lasker-Schüler, und er dachte, die kennen mich gar nicht, ich weiß gar nicht, wie ich an die herankomme – und dann aß er in dem Café ein Glas. Er biss einfach ab, was er auch auf zwei Seiten beschrieben hat und ich zunächst nicht glaubte. Er schreibt, dass man Glas fest beißen muss, auf den Backenzähnen sehr gut kauen, weil es aus Sand besteht. Da machte ich das zu Hause bei mir nach, und es ging. Dieses Glasessen half mir bei dieser Kaspar-Inszenierung. Ich war ja Anfänger, machte Geräusche, die aber dem Regisseur nicht gefielen. Er meinte: »Du musst ein Geräusch machen, das wirklich unangenehm ist.«
Da schlug ich vor: »Ich hätte eins. Hat die Requisite ein Glas?«
Dann aß ich das.
»Hören Sie auf!!«
Sagte ich: »Jetzt haben Sie doch ein unangenehmes Geräusch.«
Mir hat das Glasessen auch in anderen Situationen geholfen. Weil ich früher noch ein viel unverschämteres Maul hatte als heute, habe ich in gewissen Gefahrensituationen Glas gegessen, also abgebissen, habe gekaut und gesagt: »Ist irgendwas?« Da wurden die Menschen schnell ganz still. Aber wirklich ganz, ganz still wurden die Leute. Es hat so gewirkt wie bei Rowohlt. Der hat die Schriftsteller aus dem Café hinterher alle als Autoren gehabt.
Ein Jahr später spielte ich in Brechts Der kaukasische Kreidekreis. Bei diesem Stück übte ich Intensität. Ich hatte eine fast stumme Rolle in einer Panzeruniform, hatte ziemlich wenig zu tun und bemühte mich, in den vielleicht zehn Minuten, die ich da stand, eine starke Intensität auszustrahlen. Es ist ja blöd, langweilig zu stehen, also machte ich Übungen.
Das habe ich auch beibehalten, weil ich beim Zusehen festgestellt habe, dass einige meinen, die Intensität sei nur bei dem, der gerade spricht. Absolut nicht, und deshalb habe ich auch immer die Schauspieler beobachtet, die nicht sprechen, denn da kann man ihre Intensität erkennen. Daher kostet Theaterspielen so viel Kraft. Ich muss mit allen Sinnen aufmerksam sein und auf alles reagieren und nicht erst, wenn ich dran bin, wenn ich rede. Intensität wird vom Schauspieler erzeugt, das kommt zu der Aura, die er sowieso hat, hinzu. Zwei Anmerkungen stehen in meinen Textbüchern immer drin: DENKEN !!!, mit drei oder sieben Ausrufezeichen, und ZEIT !!!, mit drei oder sieben Ausrufezeichen. Gerade bei schnellen Passagen muss man sich Zeit lassen. Man darf nur so schnell sprechen, wie man denken kann, sonst ist es »Gemache«, das auch der Zuschauer nicht versteht. Wenn man schneller redet, als man denken kann – was geht, wenn man es übt –, ist das Virtuosität. Manchmal ist das gefordert, wie bei der Commedia dell’Arte. Das wirkliche Problem ist allerdings, dass oft gar nicht gedacht wird.
In Bonn hatte ich einen Vertrag für drei Jahre, ging aber nach einem Jahr. Ich hatte dorthin gewollt, weil der Oberspielleiter von Bochum, Hans-Joachim Heyse, dort war, von dem ich mir tolles, aufgewecktes Theater erwartet hatte. Aber als er den Posten hatte, wurde er langweilig und satt. Das wollte ich nicht. Ich ging ans Staatstheater Kassel, denn dort arbeitete Peter Löffler, ein Schweizer, der am Zürcher Schauspielhaus rausgeschmissen worden war, weil er ein Stück von Edward Bond, Early Morning, gemacht hatte, was ein Skandal wurde.
Kassel war, als es die Mauer noch gab, die furchtbarste aller deutschen Städte. Als ich dort weg wollte, sollte ich ans Hamburger Schauspielhaus engagiert werden, aber Löffler sagte: »Du kannst hier nicht weg, du spielst hier eine Riesenrolle.« Als ich Schauspieldirektor Dieter Giesing in Hamburg abgesagt hatte, meinte Löffler plötzlich: »Es tut mir leid, ich habe dich mit einem anderen verwechselt, Kern statt Kirchner. Ich gebe dir aber privat Geld, du kriegst eine Gagenerhöhung.«
Da sagte ich: »Ich will die Gagenerhöhung nicht, aber jetzt lassen Sie mich weg. Hamburg ist schon vorbei, da spielt jemand anderer meine Rolle.«
Ich bin von Kassel weggegangen, ohne ein neues Engagement zu haben. Aber Gott sei Dank hatte ich dann das Glück, nach Berlin zu Hübner zu kommen. Es hatte alles seinen Sinn.
So ist das generell im Leben. Sie können sich bemühen, Sie können sich anstrengen, Sie können arbeiten, aber zu all dem gehört noch eine Portion Glück. Das Glück ist ein Vogerl, aber bei mir war es der Start mit der Rolle des Knaben Simon bei meinem Namensvetter Alfred Kirchner in Bochum und die Tatsache, dass es eine deutsche Erstaufführung war. Daher bekam ich sofort viel Aufmerksamkeit. Und da ich so gute Kritiken hatte, musste ich nie mehr vorsprechen. Ich glaube, heute reist keiner mehr herum und schaut sich junge Schauspieler an, denn das hat ja Claus Peymann schon nicht mehr gemacht. Als ich bei ihm in Stuttgart engagiert war, empfahl ich ihm zwei Schauspieler. Ich hatte auf einer Bühne in einem Zelt eine Aufführung gesehen, in der spielte ein Mann eine kleine Rolle, der mich ungeheuer beeindruckte. Daher sagte ich Peymann, dass ich mir an seiner Stelle den holen würde, der sei ein wahnsinniger Typ. Heute ist er ein Star: Karl Markovics. Peymann hat ihn nicht geholt. Für diese Reise hatte er keine Zeit. Dann sah ich noch einmal in Freiburg einen jungen Schauspieler in einer Andrea-Breth-Inszenierung. Aber Peymann sagte: »Das schaffe ich nicht. In Freiburg ist ja gar kein Flughafen.« Der Schauspieler hieß Jürgen Rohe und ging später nach Bochum. Aber Peymann hat trotzdem eine gute Hand gehabt.