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Vom reitenden Postboten zum Musterschüler
ОглавлениеNachdem die deutschen Besatzer aus Priwolnoje abgezogen waren, kehrte allmählich das alte Leben ins Dorf zurück, auch der Schulbetrieb, der mit der deutschen Besatzung ein Ende gefunden hatte, wurde wieder aufgenommen. Hier klafft eine bisher unentdeckte Lücke im Lebenslauf von Michail Gorbatschow: In seinen weit mehr als 1 000 Seiten umfassenden Memoiren ist zwar zutreffend die Rede davon, dass er zwei Jahre nicht zur Schule gegangen sei. Dass die anderen Schüler seines Jahrgangs jedoch bereits 1943 und nicht wie er erst 1944 das Lernen wieder aufnahmen, wird darin nicht erwähnt. Seine einstige Klassenkameradin Raissa Kopejkina (geb. Litowtschenka) berichtet, dass Michail Gorbatschow nach dem Abzug der Deutschen zunächst als Postbote arbeitete, während sie und die anderen Gleichaltrigen wieder zur Schule gingen. Entsprechend schloss er erst 1950 die zehnte Klasse ab, sie dagegen schon 1949.24 Mit dem Pferd der Kolchose machte sich Michail fortan in die Kreisstadt Molotowskoje auf (heute Krasnogwardejskoje), wo er die Post entgegennahm, die er nach der Rückkehr in sein Dorf verteilte.
Der Heranwachsende hatte einfach keine Lust auf die Schule. Sein Vater kämpfte 1943 noch an verschiedenen Fronten, hatte somit keinen direkten Zugriff auf ihn, und die Mutter machte ihm keinen besonderen Druck. Sie selbst war schließlich überhaupt nicht zur Schule gegangen und hielt vier absolvierte Schuljahre daher wohl für ausreichend. Doch Sergej Gorbatschow ließ nicht locker: „Vater schrieb von der Front: ‚Michail, du musst verstehen …‘ und ‚Ich bitte dich …‘ Und meiner Mutter schrieb er: ,Alles, was sich verkaufen lässt: bitte verkaufen und dann alle Schulbücher anschaffen. Michail muss zurück in die Schule!‘“25 Doch auch die sonst so resolute Mutter konnte sich gegenüber ihrem jungen Teenager-Sohn nicht durchsetzen. Er hatte ja nicht mal anständiges Schuhwerk zum Anziehen. Michail Gorbatschow erklärt diese Entwicklungsphase so: „Ich hatte zwei Jahre Freiheit genossen und wollte nicht mehr an die Schule denken. Es gab aber noch Großvater Pantelej. Er war der wichtigste Mensch bei uns. Und er hat seinen Beitrag geleistet, indem er sagte: ,Mischa, man muss in die Schule gehen!‘ Und wenn dieser Großvater etwas sagte, hörten ihm alle zu. Immer, ein Leben lang.“26
Und noch eine Respektsperson im Dorf wirkte auf ihn ein: Jefim Gordejewitsch Litowtschenko, der Vater seiner Mitschülerin Raissa. Er war wie Michails Großvater Pantelej Vorsitzender einer Kolchose. Litowtschenko sagte mehrfach zu ihm: „Michail, lass das mit der Post! Wirf die Tasche weg! Geh wieder zur Schule!“ Viele Jahre später, als er schon politisch Karriere machte, bedankte sich Michail Gorbatschow ausdrücklich und öffentlich bei Litowtschenko. Auf einer Versammlung im benachbarten Dorf Pregradnoje trat Gorbatschow als Redner auf und erblickte unter den Zuhörern auch Litowtschenko, den er mit den Worten würdigte: „Dank Jefim Gordejewitsch habe ich die Posttasche liegen lassen, ging wieder zur Schule und erhielt somit meine Ausbildung. Dank ihm wurde ich zu dem, der ich jetzt bin.“27 Das mag wohl auch dem Moment geschuldet gewesen sein, doch tatsächlich hat Litowtschenko wohl eine wichtige Rolle neben Vater und Großvater gespielt.28
Sie alle versuchten, ihn wieder zum Schulbesuch zu bewegen, und auch seine Mutter Maria tat, wie sie ihr Mann geheißen hatte. Der erste Versuch der Wiedereingliederung in die Schule ging jedoch mächtig schief. Noch vor Unterrichtsende ging Michail Gorbatschow einfach heim und warf das einzige Buch weg, das er besaß. Die Mutter weinte, gab jedoch nicht auf, sondern ging aufs Ganze. Sie verkaufte oder tauschte Gegenstände aus dem Hausstand und kam abends gleich mit mehreren Büchern zurück. Und ihr Coup gelang: Michail begann zu lesen, verschlang die Lektüre förmlich bis tief in die Nacht und entschied endlich, am nächsten Morgen doch wieder zur Schule zu gehen. Und die Begeisterung für die Lektüre blieb. In der winzigen Dorfbibliothek lieh er sich ein Buch von Wissarion Grigorjewisch Belinski aus. „Es wurde zu meiner Bibel. Ich war begeistert, las es immer wieder und hatte es stets bei mir“, schrieb Gorbatschow in seinen Erinnerungen von 1995 – immer noch voller Euphorie.29
Belinski war ein russischer Philosoph und ein bedeutender Literaturkritiker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seinem romantischen Drama Dmitri Kalinin übte er Kritik an der Leibeigenschaft, was ihn in Konflikt mit dem Zarenregime brachte. Als Literaturkritiker verhalf Belinski unter anderen Fjodor Dostojewski zum literarischen Durchbruch, indem er dessen ersten Roman Arme Leute überaus positiv besprach. Über diesen Sammelband von Belinski aus der Priwolnojer Dorfbibliothek kam Gorbatschow rasch zu den Großen der russischen Literatur und verschlang die Werke von Alexander Puschkin und Michail Lermontow.
Lermontow eckte wie auch Belinski bei der Obrigkeit an und wurde zeitweise in den Kaukasus verbannt. Sein Roman Ein Held unserer Zeit scheint Gorbatschow, der auch viele seiner Verse auswendig kannte, besonders beeindruckt zu haben. Darin schildert der Dichter die Situation der gebildeten und freiheitlich denkenden Jugend seiner Zeit, die aufgrund des Stillstands unter dem Zaren unzufrieden war. Aus einer viel späteren Literatengeneration gefiel Gorbatschow insbesondere der sowjetische Futurist Wladimir Majakowski. All dieser Lesestoff bot viel Inspiration für einen Heranwachsenden in der nordkaukasischen Provinz und später auch Anlass für Gespräche in seiner Ehe mit Raissa.
Hunger, Terrorjahre und den Krieg hatte Michail Gorbatschow inzwischen hinter sich, ein Übermaß an Lebenserfahrung für den inzwischen 14-Jährigen. Entsprechend wankten erstmals die kindlichen Vorstellungen vom späteren Berufsleben: „Ich wollte Matrose sein. Ich glaube, es lag an den Uniformen, die mir sehr gefallen haben. Aber was konnte ein Junge aus der tiefen, fernen Provinz schon wissen? In unserem Dorf gibt es ein Flüsschen, den Jegorlyk. Er speist sich aus dem Kuban-Strom, der hat genug Wasser. Aber der Jegorlyk trocknete im Sommer immer aus. Und ich beschloss also, Matrose zu werden!“30 Doch es sollte anders kommen.
9. Mai 1945 – der Große Vaterländische Krieg ist zu Ende. Vater Sergej, der fast vier Jahre erbitterte Kämpfe an zahlreichen Fronten in Ost- und Mitteleuropa überlebt hat, ist noch kurz vor Kriegsende in der Nähe der slowakischen Stadt Kosice schwer verwundet worden, als deutsche Jagdbomber vom Typ Messerschmitt seine Stellung angriffen. Basierend auf den Schilderungen seines Vaters gibt Michail Gorbatschow das Drama wieder:
Jemand schrie: „Hinlegen! – Und ich warf mich hin auf den Boden“, sagte er. Doch das linke Bein ragte etwas empor. Dann kam die Explosion, und er wurde getroffen. Ein Splitter ging durch das Fleisch des linken Beins, 12 Zentimeter lang, aber der Knochen blieb unversehrt. Er kam zunächst in ein Frontspital, danach nach Krakau. Und so kam seine ganze Geschichte an der Front zu einem Ende. Seine Genesung nahm viel Zeit in Anspruch.“31
Als Sergej Gorbatschow wieder halbwegs auf die Beine kam und nach Priwolnoje zurückkehren konnte, fand er ein verändertes Dorf vor. Verlassene und heruntergekommene Hütten, noch mehr Armut als vorher, viele Witwen und Waisen. Ende 1945 nahm er seine alte Arbeit als Mechaniker und Mähdrescherfahrer in der Maschinen-Traktoren-Station wieder auf. Sie liegt außerhalb von Priwolnoje, der Weg dorthin ist noch 2015 selbst für einen Geländewagen recht mühsam. Moderne Erntefahrzeuge stehen hier heute in Reih und Glied, eine riesige Halle dient als Getreidespeicher. In dieser vormaligen Kolchose verdiente einst der junge Michail sein erstes Geld als Helfer seines Vaters. Der hatte ihn nach der Rückkehr von der Front und seiner Genesung zur Seite genommen und zu ihm gesagt: „Mischa, du bist jetzt groß genug. Ich habe mit dir etwas Wichtiges zu besprechen. Du siehst ja, es ist alles zerstört. Es fehlt an allem. Keine Kleidung, keine Schuhe. Man muss Geld verdienen. Und das geht nur, wenn man arbeiten geht.“32
Michail Gorbatschow redet mit Stolz von seinem Vater, er sei ein hochgeschätzter Mähdrescherfahrer gewesen, die Arbeit mit ihm habe großen Spaß gemacht und bald schon seien sie wie Freunde gewesen.
In der neunten Klasse, das war 1948, hatten wir die erste Nachkriegsernte. […] Die davor waren schlecht. Der Boden war ja überwuchert, keine Düngemittel, kaum landwirtschaftliches Gerät. 1948 gab es Staubstürme. Vater war äußerst verstimmt, dass man wieder Pech hatte. Wieder eine Dürre. Einmal sagte er an einem Sonntag zu mir: „Wir werden in die Steppe fahren und sehen, was mit dem Getreide auf dem Feld passiert.“ Und dann sind wir losgefahren. Das Gewächs wurde vom Wind ausgepeitscht bis […] zur Wurzel. Vater war höchst beunruhigt. Ich verstand das damals alles noch nicht. Erstaunlicherweise setzte aber zwei oder drei Tage nach unserer Fahrt in die Steppe Regen ein. Ein ruhiger Regen, kein Sturzregen. […] Vier Tage regnete es rund um die Uhr, und alles begann zu wachsen! Das Getreide, das Kraut. Und die Menschen erwachten wieder zum Leben.33
5 Gorbatschows Vater Sergej um 1950
Michails Leben bewegte sich nun in drei verschiedenen Welten: In der Schule, auf dem Feld und im zaghaften Privatleben, das damals schon nach dem fast obligatorischen Eintritt in den kommunistischen Jugendverband Komsomol im Herbst 1948 auch politisch war. Die pubertäre Trotzphase hatte er längst hinter sich gelassen und war zu einem Musterschüler aufgestiegen. Er begeisterte sich für Geschichte und Literatur, und die Fächer Mathematik und Physik zogen ihn ebenso an. Als Fremdsprache lernte er Deutsch. Das Wort „Ordnung“ hat sich ihm offensichtlich besonders eingeprägt, denn er warf es Jahrzehnte später als Weltpolitiker gern bei Gesprächen oder Interviews mit Deutschen gelegentlich ein. Sport dagegen lag ihm weniger. In Priwolnoje konnten Schüler nur bis zur achten Klasse die Schule besuchen. Die neunte und zehnte absolvierten sie in der Kreisstadt, falls die Eltern oder Kriegswitwen das Geld dafür aufzubringen vermochten.
In dieser Phase bekamen Sergej Gorbatschow und seine Ehefrau Maria noch mal Nachwuchs: Am 7. September 1947 wird Alexander geboren. Michail hat nun einen 16 Jahre jüngeren Bruder, was der sowjetischen Öffentlichkeit noch in den ersten Jahren der Perestroika nicht bekannt war. So tabuisiert waren selbst banale biografische Angaben über hohe Parteifunktionäre in der von fast manischer Geheimniskrämerei durchdrungenen Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges.
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Eine Generation später stoße ich 2016 bei der Spurensuche im Dorf Priwolnoje mit meinem Kamerateam unerwartet auf Relikte, die aus heutiger Sicht in völlig überflüssiger, fast komischer Weise wie ein Staatsgeheimnis gehütet wurden. Das in den 1970er-Jahren gebaute Steinhaus der Gorbatschows ist verwaist, und vor dem Eingang wucherte es mannshoch. Ein angrenzender Schuppen, vielleicht auch eine ehemalige Behausung oder Anliegerwohnung, ist offen zugänglich. Die Neugierde treibt uns hinein, und wir finden in einem Regal alte Hefte mit Schulnoten. Datiert sind sie auf das Jahr 1961. Sie gehörten Gorbatschows Bruder Alexander, der 2001 an Krebs verstarb. Einen Augenblick überlege ich, die Hefte nach Moskau mitzunehmen, um sie der Gorbatschow-Stiftung zu übergeben. Kamera-Mann Dmitri meint jedoch, es sei besser, alles so zu belassen, wie es ist. Ich stimme ihm zu.
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Alexander Sergejewitsch Gorbatschow, so sieht es sein Bruder Michail, hatte eine leichtere Kindheit und Jugend als er selbst. „Das wirkte sich auf seinen Charakter und seine Einstellung zum Leben aus. Mir behagte das nicht sonderlich, und ich versuchte, ihn meinen Lebensvorstellungen anzupassen“, räumt er in seinen Memoiren ein. „Doch Saschka [Koseform für Alexander – I.L.] ist sich selbst treu geblieben.“34
In den ersten Lebensjahren von Alexander haben die Eltern mit finanziellen Sorgen zu kämpfen, da vor allem Vater Sergej seinem Sohn Michail eine gute Ausbildung ermöglichen möchte. Alles wurde dafür getan, dass Michail die Oberschule in Molotowskoje besuchen konnte. Diese Stadt mit ihren zahlreichen Namen spiegelt bestens die wechselvolle Zeit der Stalin-Ära und der Terror-Jahre wider.
Molotowskoje, die Ende der 1940er-Jahre, als Michail Gorbatschow dort hinzog, etwa 10 000 Einwohner zählte, hieß ursprünglich Medweschje. 1935 verfügte Stalin, sie solle Jewdokimowskoje heißen – zu Ehren seines Mitstreiters Jefim Jewdokimow. Dieser war ein brutaler Verfolger der Bauern und organisierte zuvor im Russischen Bürgerkrieg Massenerschießungen auf der Krim. Vor allem aber war er ein enger Vertrauter vom Moskauer Geheimdienstchef Jeschow, der Stalins Großen Terror und die sogenannten „Großen Säuberungen“ landesweit umsetzte. 1938 fiel Jewdokimow jedoch bei Stalin in Ungnade und entsprechend wurde Jewdokimowskoje in Molotowskoje umbenannt – jetzt also zu Ehren von Wjatscheslaw Molotow. Und damit nicht genug: 1957 verfügte der neue Kreml-Chef Chruschtschow, Molotowskoje solle fortan Krasnogwardejskoje heißen – ein Name zu Ehren aller Rotgardisten. Der Grund für diese neuerliche Umbenennung war, dass Molotow einer Dreier-Gruppe angehörte, die Chruschtschow stürzen wollte.
Gorbatschow war 17 Jahre alt, als er in der Spät-Stalin-Ära in diese Kreisstadt zog, wo der Vater einen Schlafplatz für ihn gemietet hatte. Am Wochenende ging er oft die 20 Kilometer zu Fuß zu seinen Eltern und 20 wieder zurück, um Lebensmittel zu holen. Dennoch war das Leben freier, niemand kontrollierte mehr seine Hausaufgaben.
In seinem Heimatdorf wohnte Nadezhda Jefimowna Litowtschenka (1933–2007), Schwester seiner Klassenkameradin Raissa und Tochter des Kolchos-Vorsitzenden Jefim Litowtschenko. Mit ihr hatte er nach Aussage von Raissa seine erste Romanze überhaupt.35 Michail und ihre inzwischen verstorbene Schwester Nadezhda hätten damals Fotos ausgetauscht und seien eine Zeit lang ein Paar gewesen. Doch sehr verliebt war Michail Gorbatschow offenbar nicht, der den Erzählungen seiner Klassenkameradin über das Verhältnis mit ihrer Schwester zwar nicht widerspricht, allerdings bekennt, er könne sich nicht mehr recht erinnern.36
Ganz anders verhielt es sich im Fall von Julia Karagodina. Sie hatte es dem jungen Gorbatschow wirklich angetan. Die beiden lernten sich in der weiterführenden Schule in Molotowskoje kennen, als er eines Tages zu einer Schüler-Theatergruppe ging. Einer sowjetischen Zeitschrift erzählte Julia Karagodina 1991 aus jener Zeit Ende der 1940er-Jahre und von ihrem ersten Eindruck: „Es war nicht so, dass er mir anfangs nicht gefallen hätte, doch er schien irgendwie übermäßig energisch, resolut zu sein. Ich nahm aber sein besonderes Interesse an mir wahr. Damals war ich in der zehnten Klasse und Michail in der neunten. Außerdem hatte ich schon einen Freund, der später auch mein Mann wurde: – Wolodja [Koseform für Wladimir – I.L.] Tschernyschew.“37
Diese Laien-Theatergruppe war erfolgreich und hatte zahlreiche Auftritte in der Kreisstadt und in den umliegenden Dörfern. Anerkennung, Applaus und Blumen waren ihr sicher. Zum Repertoire gehörte Lermontows Maskerade, im Original ein Versdrama in vier Akten; außerdem führte die Gruppe das Märchenspiel Snegurotschka auf, zu Deutsch: Schneemädchen. Dieses Stück von Alexander Ostrowski, einem der bekanntesten russischen Dramatiker des 19. Jahrhunderts, hat nichts von unserem Schneewittchen. Im russischen Märchenspiel verliebt sich das Schneemädchen, Tochter von Väterchen Frost und der Frühlingsgöttin, in einen Jüngling, den sie heiraten will. Julia Karagodina spielte die Hauptrolle, den Jüngling mimte Michail Gorbatschow. Dass die beiden in ihren jeweiligen Schulklassen zu den Besten gehörten, brachte sie ebenfalls einander näher. Julia Karagodina erklärt im Zeitschrifteninterview für damalige sowjetische Verhältnisse ziemlich offen: „Wir hatten natürlich nicht so eine Beziehung wie das heute bei jungen Leuten üblich ist. Sie verstehen, wovon ich rede. Damals war alles anders. Sich nur leicht zu berühren oder sich zu streifen, war schon etwas ganz Besonderes. Unsere Freundschaft habe ich als etwas wirklich Großes und Reines in Erinnerung.“38
Auch wie resolut Michail Gorbatschow gegenüber den Lehrern und der Schuldirektorin sein konnte, schildert Julia Karagodina eindrücklich: „Er war wahrscheinlich der Einzige unter uns Schülern, der es wagte, den Lehrern auch mal zu widersprechen. Ich wusste, dass er von seinem Platz aufstehen und der Geschichtslehrerin sagen konnte: ‚Sie liegen falsch. Die Fakten sind diese und jene.‘“39
Lang währte das Verhältnis zwischen Julia und Michail nicht: Da sie ein Jahr früher als er die Schule beendete, verließ sie die Kreisstadt. Einige Male besuchte er sie noch. Michail mochte verliebt gewesen sein, doch in der damaligen Zeit hätte er, um eine feste Beziehung einzugehen, zumindest eine Heiratsabsicht haben, wenn auch noch kein Heiratsversprechen abgeben müssen. Diese Absicht hatte er offensichtlich nicht, zumindest erinnert sich Julia: „Er war unentschlossen. Aber wir passten wahrscheinlich auch nicht wirklich zusammen.“40 So blieb sie bei ihrem Freund Wolodja und heiratete ihn einige Jahre später.
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Die damalige Schule heißt jetzt Gymnasium Nr. 1, und die Direktorin Oxana Akulowa ist stolz auf ihren berühmten Absolventen. Sie nimmt sich Zeit für Erläuterungen und eine kleine Führung. Am 30. April 2000 sei Michail Gorbatschow als Präsident a. D. zur Einweihung einer Gedenktafel gekommen, die darüber informiert, dass er hier von 1948 bis 1950 zur Schule ging. 2001 sei er wiedergekommen, dieses Mal mit seinem Freund Hans-Dietrich Genscher, der sich ebenfalls in das Gästebuch der Schule eintrug. Er schrieb: „Glück und Frieden den Schülerinnen und Schülern dieser Schule und ihren Lehrern.“41 Anders als nach dem historischen „Strickjackentreffen“ in Archys mehr als zehn Jahre zuvor, war Genscher nun tatsächlich in die Heimatregion Gorbatschows gekommen, wo er auch das Geburtsdorf seines russischen Freundes besuchte.