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Tauwetter
ОглавлениеDie sogenannte Tauwetter-Periode war nicht nur verbunden mit Wiedergutmachungsversuchen gegenüber den Stalin-Opfern, sondern auch mit einer Lockerung der Zensur und mit gewissen neuen künstlerischen und literarischen Freiheiten. Die Epochenbezeichnung ‚Tauwetter‘, auf Russisch Ottepel, geht zurück auf den gleichnamigen Kurzroman des russisch-jüdischen Schriftstellers Ilja Ehrenbug (1891–1967). Dieses Werk war gleichermaßen in der Sowjetunion wie im Westen ein großer Erfolg. Es erschien 1954 zunächst in der Zeitschrift Snamja und zwei Jahre später in Buchform. Stalins Namen erwähnt Ehrenburg darin zwar nicht, doch erstmals in der Sowjetliteratur finden die Ärzteverschwörung und die Verbannung in Arbeitslager Erwähnung. Zudem lässt dieser Roman dem Leser Raum für Hoffnung auf eine bessere Zukunft, obwohl er von der offiziellen sowjetischen Literaturkritik als zu düster kritisiert, ja geschmäht wurde.
‚Tauwetter‘ als Bezeichnung für eine liberalere Epoche war in der russischen Geschichte allerdings nicht neu. So führt der Slawist Reinhard Lauer unter Berufung auf die wissenschaftlichen Ergebnisse von Peter Thiergen aus: „Schon einmal, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach dem Tod von Nikolaus I., war der sich abzeichnende Klimawechsel im politischen und geistigen Leben mit der gleichen Vokabel benannt worden.“24 Die Tauwetter-Epoche ab Mitte der 1950er-Jahre war es jedoch, die den jungen Gorbatschow, wie auch den späteren Gorbatschow im Kreml und seine Politik entscheidend prägte. Sie wird häufig als Blaupause für Gorbatschows Perestroika (Umgestaltung) und von Glasnost (Offenheit) bezeichnet, was jedoch nur zu einem geringen Teil zutrifft. Richtig ist jedoch, dass die Entstalinisierung, die damals begann und erst nach Chruschtschows Sturz 1964 von dessen Nachfolger Leonid Breschnew gestoppt wurde, unter Gorbatschow mehr als zwanzig Jahre später wieder aufgenommen wurde. Allerdings ging Gorbatschow sehr viel intensiver und großflächiger vor, wobei sich schon die Liberalisierung nach Stalins Tod nicht nur auf die inneren Verhältnisse der Sowjetunion beschränkte und bereits punktuell zur Entspannung mit dem Westen führte.
Nach Lesart Moskaus repräsentierte die Bundesrepublik damals den einstigen Aggressor und trug allein die Schuld am Zweiten Weltkrieg, während man in der DDR eine antifaschistische Bastion und einen Verbündeten sah. Und eben diese Bundesrepublik nahm jetzt, zehn Jahre nach Kriegsende, mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf. Auf Einladung der sowjetischen Regierung reiste Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 8. bis 14. September 1955 nach Moskau. Diese Aufnahme diplomatischer Beziehungen war gekoppelt an die Freilassung der verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen und der Verschleppten, die sich in der sowjetischen Besatzungszone oder in der neu gegründeten DDR tatsächlich oder vermeintlich aufgelehnt hatten. 20 000 solcher Zivilisten waren von sowjetischen Militärtribunalen abgeurteilt und in sowjetische Arbeitslager deportiert worden. Die Zahl der Kriegsgefangenen lag bei 9 626, weshalb ihre Rückführung als „Rückkehr der letzten 10 000“ in die deutsche Nachkriegsgeschichte einging.
Auch der junge Gorbatschow konnte den Adenauer-Besuch verfolgen, weil die sowjetischen Medien offen darüber berichteten. Selbst die deutschen Kriegsgefangenen und Verschleppten – oder zumindest ein Teil von ihnen – erfuhren erlaubterweise in den Arbeitslagern über das Radio davon. Bei der Ankunft auf dem Moskauer Flughafen sagte Adenauer: „Ich hoffe sehr, dass der erste Kontakt, den wir mit unserer Anwesenheit in Moskau aufnehmen, die Herstellung normaler, guter Beziehungen einleitet.“25 Fast unvorstellbar, dass sogar die Nationalhymne des einstigen Aggressors und Feindes auf dem Flugplatz gespielt und im sowjetischen Radio übertragen wurde.
Adenauer schafft den Durchbruch nach zähen Verhandlungen, was nach dem unvorstellbaren Leid, das durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion verursacht worden war, einem starken Friedenssignal gleichkam. Zwar waren bereits bis 1955 rund zwei Millionen deutsche Gefangene von der Sowjetunion freigelassen worden. Doch die verbliebenen rund 10 000 Wehrmachtsoldaten, darunter auch SS-Männer, sowie die verschleppten Zivilisten waren eine Art Pfand gewesen, ein Druckmittel, das politisch im richtigen Moment genutzt werden sollte.
Der junge Parteifunktionär Gorbatschow hat der Jugend nicht nur die aktuelle Parteilinie und die gelegentlichen Wendungen in innenpolitischen und außenpolitischen Fragen nahezubringen, sondern auch herauszufinden, was sie denkt, was sie bedrückt, welche Erwartungen sie an die Gebietsführung hat. Daher ist er viel unterwegs, vor allem auf den Dörfern. Seine Berufsbezeichnung, die im Russischen „Propagandist und Agitator“ heißt, verzerrt im Deutschen etwas das Bild seiner frühen Tätigkeit. In erster Linie sind seine Begegnungen mit der Jugend Erkundungsreisen, bei denen Probleme erörtert werden, sei es die offiziell im sozialistischen System nicht existierende Arbeitslosigkeit, sei es das Fehlen von Freizeiteinrichtungen oder überhaupt von lokalen Begegnungsstätten. Denn tatsächlich war Arbeitslosigkeit ein Thema. Selbst Gorbatschows Frau Raissa fand lange keine Stelle als Philosophie-Dozentin. Ihr blieb daher zunächst nichts anderes übrig, als in der Gebietsbibliothek in der Abteilung für ausländische Literatur zu arbeiten.
Gorbatschow machte sich mit Feuereifer an seine Aufgabe und wollte seine Altersgenossen natürlich im Geiste des Kommunismus mobilisieren. Daher rief er in Stawropol einen Diskussionsklub der Jugend ins Leben. „Das Interesse war so gewaltig, dass wir von Mal zu Mal größere Veranstaltungsräume finden mussten. Die Menschen begannen aufzuwachen. Gefühle der Einengung und der Angst verloren sich.“26 Nach einem Jahr als „Propagandist und Agitator“ stieg Gorbatschow 1956 zum Ersten Sekretär des Stadtkomitees des Partei-Jugendverbandes Komsomol auf. Das war ein einschneidendes Jahr, politisch und privat.
Nikita Chruschtschow beginnt auf dem inzwischen historischen XX. Parteitag der KPdSU damit, seinen Vorgänger Stalin als Verbrecher zu entlarven, nachdem der sowjetischen Bevölkerung jahrzehntelang eingetrichtert worden ist, er sei der größte, der weiseste, der gütigste, der gerechteste, der genialste Staatslenker auf Erden. Diesem Stalin-Kult setzt Chruschtschow in einer Geheimrede, die nicht lange geheim bleiben sollte, ein Ende. Viele Sowjetbürger, sogar Opfer der Verfolgungen, haben bis dahin tatsächlich an den Velikij Voschd geglaubt, an den „Großen Führer“, wie er sich nennen ließ. Auch Michail Gorbatschow und Raissa Titarenko waren aufgewachsen mit der Losung: „Danke Genosse Stalin für unsere glückliche Kindheit.“
Insofern war die Entstalinisierung auf dem Parteitag von 1956 für die meisten Parteimitglieder, aber auch für große Teile der Bevölkerung ein Schock. Stalin war es gelungen, dass die unübersehbaren Repressionen gegen die eigene Bevölkerung nicht – oder nur in geringem Maße – mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Ähnliches hatte im Zusammenhang mit Hitler und dem Holocaust in Deutschland stattgefunden, wo es aus vieler Munde hieß: „Der Führer hat’s nicht gewusst. Und wenn er davon erfahren hätte, dann …“ Entsprechend war der XX. Parteitag ebenfalls für Gorbatschow „ein Schock“, wie er bekennt. „Aber das war nicht etwas, was ich als Verlust der Orientierung empfand. Ich habe es nicht als Zusammenbruch, sondern als Chance und Beginn von etwas Neuem wahrgenommen. Als neue, riesige Möglichkeit für die Zukunft.“27
Wie treu Gorbatschow damals gegenüber dem System und der neuen Führung war, zeigte sich auch daran, dass er im Herbst 1956 die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn für berechtigt hielt, wo sowjetische Panzer gegen eine Bevölkerung vorgingen, die den Sozialismus nicht als Segen der Menschheit ansah, sondern Freiheit wollte. Die Niederschlagung des Aufstandes sei notwendig gewesen, so Gorbatschows damalige Sicht, weil der Westen danach strebte, „das Rad der Geschichte zurückzudrehen, wogegen wir uns wehrten.“28 Glaubt man seiner retrospektiven Darstellung aus den 1990er-Jahren, kamen ihm aber schon kurz nach dem Ungarn-Aufstand Zweifel an der Richtigkeit der Niederschlagung. Zahlreiche sowjetische Publikationen seien damals mit der klaren Absicht verfasst und unter die Leute gebracht worden, die Ereignisse in Ungarn als die notwendige Verteidigung gegen die Konterrevolution darzustellen. Gerade die Vielzahl der Publikationen habe bei ihm jedoch das Gegenteil bewirkt und Zweifel genährt.
So oder so hätte sich ein 25-jähriger, aufstrebender Komsomol-Funktionär wie Gorbatschow ohnehin nicht gegen die Parteilinie stellen, ja nicht einmal vorsichtige Zweifel äußern können. Im Statut des Jugendverbandes war als wichtigste Aufgabe niedergelegt, „junge Menschen im Geiste des Kommunismus zu erziehen“ und sie zur „aktiven Unterstützung der Partei“ anzuleiten.29 Insofern blieb Gorbatschow ein „Hundertprozentiger“, musste es bleiben, um seine Position nicht zu gefährden. Ob er diese Haltung nur gezwungenermaßen nach außen hin zeigte oder aber nach wie vor verinnerlicht hatte, ist nicht mehr zu beurteilen.
Privat kündigte sich 1956 ein hoch erfreuliches Ereignis an: Raissa war erneut schwanger. Nach der medizinisch erforderlichen Abtreibung zwei Jahre zuvor mischte sich in die Freude allerdings auch die große Sorge und Angst, ob alles gut gehen würde. Diesmal verlief alles normal: In der Nacht vom 6. Januar 1957 gebar sie daheim Tochter Irina. Das junge Paar war überglücklich. Das freudige Familienereignis trug auch dazu bei, das Verhältnis zwischen Gorbatschows Mutter und Raissa deutlich zu verbessern. Maria Pantelejewna war Großmutter geworden und fortan milder gestimmt. Doch wie sollte die Kleinfamilie weiterhin in einem Elf-Quadratmeter-Zimmer wohnen? „Dank der Anstrengungen von Michail Sergejewitschs Kollegen bekamen wir im selben Jahr eine staatliche Wohnung“, erzählte Raissa 1991.30 Es handelte sich um zwei Zimmer in einer Kommunalka, einer riesigen Gemeinschaftswohnung, die sich in einem mehrstöckigen Gebäude befand. Diese bestand aus insgesamt acht Zimmern mit einer gemeinsamen Küche und einem gemeinsamen Bad. Sowjetischer geht es nicht mehr.
Michail und Raissa lernten das raue Leben des real existierenden Sozialismus jetzt auch von dieser Seite kennen. Sie wussten also später auf dem Gipfel der Macht, wovon sie sprachen, wenn in der Politik die Rede „vom Leben der Menschen“ war. In der Kommunalka wohnte ein Alkoholiker mit seiner Mutter, ein Mechaniker einer Bekleidungsfabrik, ein Gasschweißer, ein Oberst im Ruhestand – alle mit Familie. Und vier Single-Frauen. „Das war ein Staat mit seinen ungeschriebenen, aber klaren Gesetzen für alle. Hier arbeiteten und liebten wir, gingen aneinander vorbei. Wir tranken auf Russisch, stritten auf Russisch und vertrugen uns auf Russisch, spielten abends Domino, feierten gemeinsam Geburtstage“,31 erinnerte sich Raissa, die drei Jahre mit Mann Michail und der kleinen Irina in der Kommunalka lebte.
Es waren schwierige Jahre der Enge und der Armut. Und doch fielen sie in eine Zeit der Euphorie und Aufbruchsstimmung im Land. Eine entscheidende Ursache dafür waren die sowjetischen Erfolge in der Raumfahrt. Der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 war ein Schock für den Westen, insbesondere für die USA. Wie konnte es sein, dass ein Land mit Planwirtschaft solch eine wissenschaftliche Pionierleistung vollbrachte?
„Gott, was haben wir damals gejubelt und triumphiert“, beschreibt Raissa Gorbatschowa das kollektive Gefühl.32 Und ihr Mann Michail: „Das hat auch mich bewegt und nicht nur mich, sondern eine Vielzahl von Menschen. Wir waren damals sehr aufrichtige Anhänger der Politik Chruschtschows.“33 Vor allem in den USA breitete sich ein Bedrohungsgefühl aus, was zunächst zu Veränderungen in der Bildungspolitik führte und zu einer beträchtlichen Steigerung der Forschungsausgaben, natürlich auch im Bereich der Rüstung: Die Gründung der NASA 1958 kann als direkte Folge des sowjetischen Sputnik-Erfolgs angesehen werden. Zweifellos war die sowjetische Bevölkerung und ihre politische Führung zu diesem Zeitpunkt überzeugt, der Sozialismus/Kommunismus sei dem westlichen System tatsächlich überlegen und die eigene Propaganda spiegele nur die Wirklichkeit.
In einen wahrhaften Siegestaumel geriet das Land, als der Kosmonaut Juri Gagarin am 12. April 1961 mit dem Raumschiff Wostok 1 als erster Mensch ins Weltall flog und die Welt umrundete. „Pojechali!“, auf geht’s, waren seine legendären Worte unmittelbar vor dem Abflug, was sich jedem Kind und jedem Erwachsenen in der Sowjetunion und in den Nachfolgestaaten eingeprägt hat. Das Ereignis hatte eine einigende Wirkung und schuf einen „sowjetischen“ Nationalstolz. Die Namensgebung Wostok (Osten) für das Raumschiff war vor dem Hintergrund des Kalten Krieges selbstverständlich ideologisch.
Nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Völker hatte Stalin nach Sibirien und anderswo deportieren lassen, darunter Karatschaier, Kalmücken und Krimtataren. Diese Völker holte Chruschtschow ab 1957 zurück in ihre angestammten Regionen und sorgte für ihre Rehabilitierung. Doch all diese Menschen mussten nun auch irgendwo unterkommen. Viele von ihnen stammten aus der Region Stawropol, wo der Wohnraum schon zuvor knapp gewesen war. Dem Komsomol-Mann Gorbatschow fiel die Aufgabe zu, das Netz von kommunistischen Jugendorganisationen auszubauen, um ausgerechnet den Kindern dieser Rückkehrer die Ideen Lenins nahezubringen. Doch vom Kommunismus und von allem, was damit zusammenhing, hatten die Deportierten mehr als genug.
Im April 1958 stieg Gorbatschow erneut innerhalb des Komsomol auf: Er wechselte von der Stadtebene auf die Regionsebene, zunächst als Zweiter und ab März 1961 als Erster Sekretär. In dieser Zeit bekamen er und seine Frau endlich auch die erste richtige Wohnung zugeteilt: 38 Quadratmeter, zwei Zimmer, eine eigene Küche und ein eigenes Bad. Es ging aufwärts, endlich auch beruflich für Raissa, die eine Stelle als Philosophie-Dozentin am Institut für Medizin antrat. Raissa Gorbatschowa zählte auf, zu welchen verschiedenen Themenfeldern sie Vorlesungen hielt: Werke oder Theorien von Hegel, Lenin, Kant, soziologische Konzepte und die Rolle von Persönlichkeiten für den Lauf der Geschichte. Ihre Dissertationsschrift von 1967 hatte hingegen unserem Verständnis nach ein eindeutig soziologisches Thema: Herausbildung neuer Merkmale der Lebensweise der Kolchosbauern auf der Grundlage soziologischer Forschungen in der Region Stawropol. Der Begriff ‚Philosophie‘ war in der Sowjetunion sehr weit gefasst. Selbst Lenin galt damals als Philosoph und Denker, natürlich als ein ganz großer.
Bis zu ihrer Anstellung 1961 hatte die fleißige und ehrgeizige Raissa in Stawropol beruflich nicht Fuß fassen können. Aufgrund der noch niedrigen Karrierestufe ihres Mannes war auch auf Protektion und Beziehungen nicht zu hoffen gewesen. „Der berufliche Schmerz“ sei lange groß gewesen, bekannte sie. Auch sei es bei der Stellenvergabe oft nicht um Qualifikation gegangen; einige Dozenten seien schlicht „unfähig“ gewesen, und es habe niemanden gekümmert, dass die Studenten mit den Vorlesungen unzufrieden gewesen seien. Freie Stellen in den Instituten seien in der Regel intern vergeben worden. Sie selbst habe zunächst, wenn überhaupt, nur befristet oder als Aushilfe gearbeitet. „Vier Jahre lang hatte ich keine feste Arbeit.“34 Sich nach der Geburt ihrer Tochter ausschließlich um die Familie zu kümmern, kam für Raissa nicht infrage, was nicht nur mit der beschränkten finanziellen Situation zusammenhing:
Die Arbeit war für mich nicht nur das Gehalt. Sie war etwas, ohne das ich mein Leben als arm und unvollkommen angesehen hätte. Die Vorlesungen, die Seminare, die wissenschaftstheoretischen Konferenzen, die Versammlungen und das intellektuelle Ringen auf fachlicher Ebene – wie viel Kraft, Zeit, seelische Anspannung und sogar schlaflose Nächte hat es gefordert. Doch all das gab mir selbst sehr viel. Es gab mir eine mit nichts zu vergleichende innere Befriedigung.35
Ohne eine Kinderfrau, ohne Krippe, ohne Kindergarten und ohne das gelegentliche Einspringen von Gorbatschows Mutter hätte sie der Doppelbelastung vermutlich nicht standgehalten. Auch ihr Ehemann Michail versuchte, es sich so einzurichten, dass er bei Engpässen zur Stelle war.
Wie sehr sich das sowjetische Bildungssystem und das Verhältnis von Dozenten zu Studenten im Vergleich zum Westen unterschied, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Lehrenden und Lernenden auch privat viel zusammen waren. Und überall wurde diskutiert:
[…] im Wohnheim, auf der Kolchose, wo wir – Dozenten und Studenten – hinfuhren zur Mais-, Wein- und Kartoffelernte! Ja, sogar bei mir in der Wohnung waren meine Studenten. Wir redeten über alles: Über neue Theateraufführungen, neue Filme, über das Lehrinstitut, über das Leben in der Region und im Land. Bis zur Heiserkeit. Und natürlich über den Sinn des Lebens. Die Blumen, die ich in meinem Leben von den Studenten bekommen habe, die Briefe von längst selbstständigen und Familie habenden und sogar schon in die Jahre gekommenen Menschen sind meine wertvollsten Geschenke. Und genauso viel bedeuten mir ihre strengen, aber gerechten Beurteilungen, die sowohl mich selbst als auch meine Arbeit betreffen.36
Während Raissa Gorbatschowa sich mit vollem Engagement ihrer Lehrtätigkeit widmete und darin aufging, erklomm ihr Mann im März 1961 die letzte Stufe im Komsomol: Er wurde Erster Sekretär des Regionskomitees und durfte im selben Jahr zum ersten Mal in den Moskauer Kreml. Als einer der Delegierten seiner Region nahm er am XXII. Parteitag der KPdSU teil und erlebte dort aus nächster Nähe zwei wichtige Momente der sowjetischen Geschichte.
Zum einen ließ Kreml-Chef Nikita Chruschtschow ein neues Parteiprogramm verabschieden, das den Sowjetbürgern eine paradiesische Zukunft versprach. Ihm waren die zweifellos sensationellen und imponierenden Erfolge in der Raumfahrt, mit denen die Sowjetunion die USA überholt hatte, offenbar zu Kopf gestiegen. So besagte das neue Parteiprogramm, dass die Sowjetunion 1970 die USA wirtschaftlich überholen werde und die Sowjetbürger 1980 nicht mehr im Sozialismus als einer Vorstufe des Kommunismus leben werden, sondern im Kommunismus selbst. Die SED-Führung im „Bruderstaat“ DDR feierte dies am 1. November 1961 auf der Titelseite ihres Zentralorgans Neues Deutschland und in großen Lettern: „Ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte. Das grandiose Programm zum Aufbau des Kommunismus beschlossen.“ Einige Tage zuvor hatten die deutschen Genossen geschrieben: „Die Verwirklichung dieses Programms bedeutet den Anbruch der glücklichsten Ära in der Menschheitsgeschichte.“37
Das Parteiprogramm, dieses Opus magnum der Chruschtschow-Führung, wurde im sowjetischen Fernsehen in voller Länge vorgelesen, sage und schreibe fünf Stunden lang. Die Euphorie Chruschtschows, die dahinterstand, scheint echt gewesen zu sein. Er glaubte offensichtlich wirklich, was er da sagte und verabschieden ließ. Und so ging es auch dem 30-jährigen Gorbatschow, der damals nach eigenem Bekunden ein „aufrechter Anhänger“ des Parteichefs war und entsprechend gefesselt im Kreml lauschte.
Das zweite wichtige Moment auf diesem historischen Parteitag war, dass Chruschtschow nochmals gegen seinen Vorgänger ausholte und damit versuchte, die Entstalinisierung zu forcieren. Die Frage allerdings, wo er selbst und seine Genossen in der Führungsriege in der damaligen Zeit gewesen waren, beantwortete er nicht. Alle hatten sie zu Stalins Lebzeiten den Terror und das millionenfache Unrecht mitgetragen. Wer sich dagegen stellte oder auch nur den Anschein erweckte, wurde umgebracht. In Anbetracht dieser unmittelbaren und permanenten Bedrohung in Stalins Reich, sind moralische Urteile schwerlich zu fällen. Es sei denn, man hätte die Möglichkeit gehabt, rechtzeitig und unverdächtig aus dem Führungskreis freiwillig auszusteigen, den Stalin nach und nach etabliert hatte.
Hatten ab 1956 die Rehabilitierungen der Opfer im Vordergrund gestanden sowie die Wiedergutmachungsversuche, so sorgte Chruschtschow jetzt dafür, dass Stalin aus dem öffentlichen Leben zunehmend verschwand. Denkmäler ließ er beseitigen und zahlreiche Städte umbenennen. Aus der Vielzahl seien hier nur die drei wichtigsten genannt: Stalingrad hieß ab jetzt Wolgograd; die ostukrainische Stadt Stalino bekam den Namen Donezk; und die Hauptstadt der tadschikischen Sowjetrepublik wurde umbenannt von Stalinabad in Duschanbe.
Sogar Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch – eine Novelle über den menschenverachtenden Alltag eines Gefangenen in einem sowjetischen Arbeitslager – durfte 1962 erscheinen. Die größte Symbolik hatte aber Chruschtschows Entscheidung, Stalins Leichnam umzubetten. Nach seinem Tod 1953 hatte er den größten Ehrenplatz im Mausoleum auf dem Roten Platz bekommen – neben dem Staatsgründer Lenin. Sogar die Schrift über dem Haupteingang lautete „Lenin Stalin“. Am Abend des 31. Oktober 1961 jedoch, nachdem der Parteitag geendet hatte, ließ Chruschtschow den einbalsamierten Leichnam Stalins in einen Sarg legen und an der Kreml-Mauer beerdigen. Acht Jahre lang war es nur ein einfaches Grab, bis Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew 1969 dort eine Büste anbringen ließ.