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1. STRICKJACKEN UND DER MANTEL DER GESCHICHTE

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Zu den ikonischen Bildern der Deutschen Einheit gehören jene vom Sommer 1990 mit Michail Gorbatschow und Helmut Kohl im Kaukasus. Dort trafen sich die beiden Staatsführer und ihre Delegationen in einer sowjetischen Staatsdatscha. 25 Jahre später erhalte ich von der Präsidentenadministration Wladimir Putins die exklusive Erlaubnis, diesen bis heute streng abgeschirmten Ort zu besichtigen.

Nachdem die Wachmänner meine Personalien überprüft haben, öffnet ein Posten das massive Eisentor, das zum Anwesen führt. Es sind noch einige Hundert Meter Fahrt auf dem asphaltierten Weg durch den Wald und entlang schön angelegter Gärten, bevor die Staatsdatscha auf einer malerischen Lichtung sichtbar wird. „Datscha“ ist eigentlich das falsche Wort, denn der Bau gleicht eher einer Trutzburg in der Größe von etwa drei Einfamilienhäusern. Der sowjetische Geheimdienst ließ das Objekt einst als Feriendomizil für die kommunistische Parteispitze bauen. Es liegt vor dem Ortseingang von Archys, einem kaukasischen Bergdorf, das heute rund 600 Seelen zählt.

Der damalige Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Juri Andropow, reiste eigens aus Moskau an, um das Gebäude zu begutachten und am 6. Oktober 1978 zu eröffnen. Hauswirtin Valentina Schaposchnikowa, die seit Inbetriebnahme und noch 2020 im Alter von 67 Jahren hier arbeitet, erinnert sich: Alles sei damals so geheim gewesen, dass nicht einmal die Hausbediensteten erfuhren, wer hier Urlaub machen oder als Gast kommen würde. Alle hätten eine Erklärung unterschreiben müssen, niemals auch nur ein Wort über die Datscha und die Gäste nach außen dringen zu lassen. Entsprechend hätten sie keine Fragen gestellt, auch nicht im Juli 1990. „Dass Präsident Gorbatschow und Kanzler Kohl kommen, verriet mir ein KGB-Mann erst in letzter Minute“, erzählt Schaposchnikowa und fügt hinzu: „Äußerlich ist hier alles wie seit der Eröffnung 1978: Die Möbel, die gesamte Einrichtung, selbst die Tapeten sind gleich geblieben. Nur untersteht das Gebäude jetzt nicht mehr dem KGB, sondern der Administration des russischen Präsidenten.“1

Helmut Kohl bezeichnete die Regierungsdatscha in seinen Memoiren als „alte Oberförsterei“, in anderen Publikationen ist die Rede von einer „Jagdhütte“, was beides nicht zutrifft. Im Eingangsbereich springt einem zwar ein ausgestopfter Gebirgsbock ins Auge, und auch im kleinen Konferenzraum hängt an der Wand der Kopf eines Ebers – aber das war es auch schon. In dieser Residenz für die Parteielite verbrachte Gorbatschow mit seiner Familie öfter seinen Winterurlaub und feierte ins neue Jahr hinein.

Warum fiel 1990 die Wahl ausgerechnet auf Archys als Ort für solch epochale Verhandlungen mit den Deutschen, warum nicht auf Moskau? Weil es die Heimat Gorbatschows und ein Privileg sei, von einem Russen nach Hause eingeladen zu werden, lautet seit Jahrzehnten die landläufige Erklärung. Tatsächlich aber befindet sich das Dorf in der Republik Karatschai-Tscherkessien. In Archys, rund 20 Kilometer von der Grenze zu Georgien entfernt, leben überwiegend turkstämmige Karatschaier – ein Bergvolk, das in Deutschland so gut wie niemand kennt. Gorbatschows Geburtsort Priwolnoje hingegen liegt gut sieben Autostunden und rund 450 Kilometer nördlich und ist überwiegend von Russen bewohnt. Helmut Kohl und seine Delegation, zu der unter anderen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Finanzminister Theo Waigel und der außenpolitische Kanzler-Berater Horst Teltschik gehörten, bekamen daher in jenen Juli-Tagen 1990 Gorbatschows eigentliche Heimat gar nicht zu Gesicht.

Bei ihren früheren Begegnungen ab 1988 hatten Kohl und Gorbatschow immer wieder ihre prägenden Erinnerungen an die Schrecken und Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs ausgetauscht. Beim Überfall des „Dritten Reichs“ auf die Sowjetunion im Juni 1941 war Michail Gorbatschow zehn, Helmut Kohl elf Jahre alt gewesen. Diese Gemeinsamkeit einer Kindheit im Krieg, wenn auch auf verschiedenen Seiten, verband die beiden ungemein.


1 Sowjetische, jetzt russische Staatsresidenz in Archys/Kaukasus, links unten im Bild: der Gebirgsfluss Bolschoi Selentschuk.

Es ist Gorbatschow, der informell bei seinem Bonn-Besuch 1989 den Vorschlag macht, den Bundeskanzler ins kaukasische Stawropol einzuladen, wohin es den späteren Kreml-Chef nach seinem Studium in Moskau verschlug und wo seine politische Karriere begann. Das Stawropol des einen entspricht gewissermaßen dem Mainz des anderen, wo die Polit-Karriere des Pfälzers Kohl Fahrt aufnahm. Dem Bundeskanzler gefällt dieser Gedanke, weshalb er seinen außenpolitischen Berater Teltschik beauftragt, bei dessen Moskau-Besuch im Mai 1990, als es um dringende deutsche Finanzhilfe für die Sowjetunion geht, Gorbatschow an diesen Vorschlag zu erinnern. Erst zwei Monate später und nur wenige Tage vor der geplanten Moskau-Reise des Bundeskanzlers lässt Gorbatschow Teltschik ausrichten, dass tatsächlich neben Moskau auch Stawropol zum Programm gehören wird. Von Archys aber ist noch keine Rede.2

Die abgeschirmte „KGB-Datscha“ kommt aus mehreren Gründen später noch ins Spiel: zum einen wegen der idealen Bedingungen für eine persönliche Begegnung, die sie den Hauptverhandlungspartnern bietet; dann wegen der landschaftlichen Schönheit ihrer unmittelbaren Umgebung; und schließlich wegen der Abgeschiedenheit und Unerreichbarkeit für unerwünschte Presse. Die meisten Medienvertreter sind ausgeschlossen und dürfen von Moskau und von Stawropol nicht nach Archys weiterreisen. Nur ein handverlesener Journalisten-„Pool“ versorgt die Weltpresse mit Bildern. Informationen über die Verhandlungsergebnisse dringen jedoch vorerst nicht durch. Diese werden der Welt erst nach Abschluss des Treffens im 200 Kilometer entfernten Schelesnowodsk präsentiert.

Nach der Rückkehr von dieser historischen Reise wird Kohl nicht nur von seinen westlichen Verbündeten gefeiert, sondern selbst die innerdeutsche Opposition zollt ihm Respekt. Schnell ist in der Öffentlichkeit die Rede vom „Wunder vom Kaukasus“ und vom „Strickjackentreffen“. Doch was hatte Gorbatschow dazu bewogen, Deutschland die volle Souveränität zurückzugeben? Was hatte sich in der „Datscha“ ereignet?

Nur die beiden Staatschefs waren direkt in der Regierungsdatscha untergebracht, während die Minister und übrigen Delegationsmitglieder in anderen Gebäuden außerhalb des streng bewachten Areals einquartiert waren. Vom Eingangsbereich im Erdgeschoss führt noch heute eine Tür geradewegs in ein überschaubares Verhandlungszimmer mit rundem Tisch. Links vom Flur befindet sich ein Billardzimmer und rechts ein geräumiger Speisesaal. Und genau dort, an einem langen Esstisch, verhandelten beide Seiten über den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR und über die alles entscheidende Frage, ob Gesamtdeutschland Mitglied der NATO werden dürfe oder nicht.

Über eine Treppe – kein Aufzug damals für die beiden Staatsmänner von Welt! – gelangt man in das Obergeschoss, wo Gorbatschow und Kohl direkt nebeneinander in großzügigen Räumlichkeiten untergebracht waren: Sie verfügten jeweils über ein Schlafzimmer, einen Wohnraum und ein großes Tageslichtbad, nicht luxuriös, eher gutbürgerlich. Selbst auf die obligatorischen Personenschützer, die vor den Nachtquartieren von Staats- oder Regierungschefs üblicherweise postiert sind, verzichtete der Gastgeber damals.

Welche Diskrepanz: Einerseits die weltberühmten Archys-Aufnahmen an der Uferböschung des reißenden Flusses Bolschoi Selentschuk, wohin Gorbatschow und Kohl hinabgestiegen waren, oder die Fernsehbilder von einer Sitzgruppe aus Baumstümpfen, wo die beiden Staatsmänner mit ihrer jeweiligen Entourage Entspanntheit und Leichtigkeit zur Schau stellten. Andererseits: der immense politische, der wirtschaftliche und vor allem der nicht zu unterschätzende moralische Druck, der auf dem Kreml-Chef lastet. Nach fünf Jahren als Führer der Sowjetunion steht sein Land wirtschaftlich und politisch am Abgrund. Zusätzlich werfen ihm die sogenannten sowjetischen Patrioten vor, die territorialen Errungenschaften des Zweiten Weltkriegs, die mit dem Blut der Veteraninnen und Veteranen erkämpft worden sind, leichtfertig preiszugeben. 1990 leben noch viele Veteranen, zudem hat fast jede sowjetische Familie als Folge des deutschen Angriffskriegs ein Opfer zu beklagen. Und dennoch herrscht unter der Bevölkerung auch viel Verständnis für die deutsche Sehnsucht nach Wiedervereinigung.

Helmut Kohls Dienstreise nach Moskau, Stawropol, Archys und Schelesnowodsk Mitte Juli 1990 wird die wichtigste in seinen 16 Jahren als Bundeskanzler. Er spürt den Zeitdruck: Wenn überhaupt, kann er die Einheit nur unter Dach und Fach bringen, solange Gorbatschow am Ruder ist. Und würde der Kreml die DDR vom östlichen Verteidigungsbündnis in die NATO ziehen lassen? Ohne diese Zustimmung aus Moskau würden auch die USA bei der Einheit nicht mitspielen. Tatsächlich will und braucht Gorbatschow die politische Nähe des Kanzlers, braucht unbedingt wirtschaftliche und finanzielle Hilfe für die schon zu diesem Zeitpunkt kollabierende und implodierende Sowjetunion. Doch es wäre zu simpel und verzerrend, in dieser finanziellen Notlage die entscheidende Voraussetzung für die politischen Zugeständnisse des Kremls zu sehen.

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2 Gorbatschow und Kohl am Bolschoi Selentschuk am 15. Juli 1990

Wirtschaftlich am Abgrund und gefangen in der Planwirtschaft – wie sich das im Alltag ausnahm, erlebte ich im Juni 1990 bei meiner ersten Reise nach Moskau. Als ich damals eines der Geschäfte auf dem Kusnetski Most nahe der Lubjanka, der berüchtigten KGB-Zentrale, betrat, konnte ich es nicht fassen: Im ganzen Laden nur leere Regale, keine Ware, nichts! Folgerichtig war ich auch der einzige Kunde, doch die Kassiererin hinter der manuellen Kasse musterte mich nur seelenruhig und dachte sich ihren Teil. Ich stellte mich höflich als Besucher aus Deutschland vor und wagte die naheliegende Frage, warum die Kasse überhaupt besetzt bleibe, wo es doch keinen einzigen Artikel zu kaufen gab: „Nun, das ist halt meine Arbeit“, erwiderte die Frau eher teilnahmslos. Der deprimierende Gedanke, dass jemand mindestens acht Stunden lang in einem leeren Laden sinnlos vor einer Kasse sitzt, prägte sich mir ein, dabei war diese Frau sicher nur ein Sandkorn in der durch die Planwirtschaft verursachten sowjetischen Wüstenei.

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Im Juli 1990 ging es in Archys für Gorbatschow in erster Linie darum, kurzfristig Hilfe von außen für seine Misere im Innern zu bekommen und mit der Bundesrepublik einen langfristigen wirtschaftlichen Partner zu gewinnen. Angesichts des kolossalen Drucks, dem er von verschiedenen Seiten ausgesetzt war, ist es erstaunlich und bewundernswert zugleich, mit welcher Ruhe Gorbatschow agierte. Doch an fehlendem Selbstbewusstsein hat er nach eigener Darstellung nie gelitten, im Gegenteil. „Ich war oft einfach zu selbstsicher“, räumte er lange nach seinem Ausscheiden aus dem Amt ein.3

Blickt man auf die Ereignisse rund um sein Sommer-Treffen mit der deutschen Seite, stockt einem der Atem. Alltäglich schlugen allein in der ersten Juli-Woche umwälzende Nachrichten ein. Das Nachkriegsgefüge, der Kalte Krieg, alles, was sich bis dahin politisch mit der Sowjetunion und dem Block-Denken verband, schien obsolet, und es wurde von Ost und West eine neue Zeit ausgerufen: eine Zeit der Kooperation und sogar der Freundschaft. Die NATO selbst erklärte auf ihrem Gipfel am 5. und 6. Juli 1990 in London nicht nur die Block-Konfrontation für beendet, sondern kündigte auch eine neue Militärstrategie an sowie „neue Streitkräftepläne, die den revolutionären Veränderungen in Europa“ Rechnung tragen sollten.4 US-Präsident George H. W. Bush erklärte feierlich in London: „Ich bin froh, verkünden zu können, dass meine Kollegen und ich mit einer umfangreichen Umgestaltung der NATO begonnen haben – und wir betrachten dies als einen historischen Wendepunkt. Die Londoner Deklaration gestaltet das Verhältnis zu unseren früheren Gegnern neu. Den Regierungen, die uns im Kalten Krieg gegenüberstanden, reicht unser Bündnis die Hand zur Freundschaft.“5

Vertreter der Sowjetunion konnten daher davon ausgehen, dass sich die NATO von einem militärischen hin zu einem politischen Bündnis wandelte. Alle Staats- und Regierungschefs des Warschauer Pakts, des östlichen Militärbündnisses, wurden nicht nur persönlich in die Brüsseler NATO-Zentrale eingeladen, sondern es wurde ihnen auch die Möglichkeit gegeben, ständige diplomatische Verbindungen mit der NATO aufzunehmen. Dieses Angebot erging natürlich auch an die Sowjetunion, natürlich auch an Gorbatschow. Seine Zugeständnisse an die Deutschen hinsichtlich der militärischen und finanziellen Details sind unbedingt auch vor diesem Hintergrund zu erklären und nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Bedürftigkeit seines Landes in jener Phase. Grundsätzlich stand den Deutschen aber laut Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) das Recht zu, die Bündniswahl frei zu treffen; die Sowjetunion hatte da genauso wenig wie jeder andere Staat ein Mitsprache- oder gar Blockaderecht. Allerdings basierte die Schlussakte auf dem Prinzip der Selbstverpflichtung, sie hatte keinen verbindlichen Vertragscharakter.

Vor diesem Hintergrund fand 1990 die Kaukasus-Reise statt, die einem eng getakteten Zeitplan folgte. Am Samstag, den 14. Juli, landeten die Deutschen vom Flughafen Köln/Bonn kommend am späten Abend in Moskau, wo am nächsten Morgen die ersten Gespräche im Gästehaus des Außenministeriums begannen. Außer den beiden Dolmetschern Andreas Weiß und Iwan Kurpakow nahmen neben Gorbatschow und Kohl nur die beiden Berater Horst Teltschik und Anatoli Tschernajew daran teil. Bei der Begrüßung fiel der berühmte Ausdruck vom „Mantel der Geschichte“ oder, was später medial entsprechend zurechtgebogen wurde, wie Helmut Kohl in seinen Memoiren festhielt:

Gorbatschow begrüßte mich mit den Worten, die Erde sei rund und ich flöge ständig um sie herum. Mein Bedarf an Reisen sei gedeckt, erwiderte ich, aber es handle sich jetzt um historisch bedeutsame Jahre, und solche Jahre kämen und gingen, deshalb müsse man die Chance nutzen. Wenn man nicht handle, seien sie vorbei, meinte ich und führte Bismarck an mit dem Satz: „Man kann nicht selber etwas schaffen. Man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels fassen – das ist alles“ – die Medien machten daraus dann den viel zitierten „Mantel der Geschichte“.6

Gorbatschow erwiderte, er kenne den Bismarck-Spruch nicht, fände die Aussage aber interessant und richtig. Während des fast zweistündigen Gesprächs versicherte Gorbatschow ruhig, das vereinte Deutschland könne Mitglied der NATO sein, und laut Protokoll wiederholte er diese sensationelle Aussage sogar. In der anschließenden Pressekonferenz in Moskau wich er jedoch aus und ruderte etwas zurück, indem er – darauf angesprochen – erklärte: „Alles fließt“.7

Kommt hier ein (vermeintliches) Wesensmerkmal des Politikers Gorbatschows zutage, das ihm nicht nur seine Gegner im eigenen Lande, sondern auch einige westliche Politiker und Kommentatoren während und nach seiner Amtszeit vorhielten? Dass er wankelmütig, zaudernd und ohne klare Linie sei? In Wirtschaftsfragen traf dies sicherlich zu, weil er davon wenig verstand. Angesichts der Komplexität der Probleme und der sich zum Teil explosiv gegenüberstehenden innersowjetischen Interessen- und Machtkonstellationen, die Gorbatschow im Blick haben musste, ist dieser Vorwurf in der NATO-Frage jedoch nicht berechtigt, zumal auch die westlichen Siegermächte nach dem Mauerfall erst ihre Positionen finden mussten. In Moskau demonstrierten zeitgleich zum Kohl-Besuch Hunderttausende gegen den sowjetischen Zentralstaat an sich. Die deutsche Delegation bekam allerdings von diesen Massenprotesten nichts mit, da sie vom Gästehaus des Außenministeriums, einige Kilometer vom Kreml entfernt, direkt zum Regierungsflughafen gebracht wurde.

Die Flugzeit in das rund 1500 Kilometer südlich gelegene Stawropol im Nordkaukasus betrug etwa zwei Stunden. Hier hatte 1955 die Parteikarriere des 24-jährigen Gorbatschow begonnen. Stawropol war für die beiden Delegationen ein eher flüchtiger Aufenthalt mit drei Programmpunkten; verhandelt haben beide Seiten hier überhaupt nicht. Angesichts der Tatsache, dass Stawropol zwischen August 1942 und Januar 1943 unter deutscher Besatzung stand und ein Großteil der Bevölkerung damals vor der anrückenden Wehrmacht geflohen war, hatte der Besuch der deutschen Regierungsspitze aber einen hohen Symbolwert, der die uneingeschränkte Versöhnungsbereitschaft der sowjetischen Führung unterstreichen sollte. Am Ehrenmal für die Kriegstoten hielten Gorbatschow und Kohl inne – umringt von Hunderten Bürgern, darunter viele Veteranen.

Hans Klein, mitgereister Sprecher der Bundesregierung und Bundesminister für besondere Aufgaben, notierte dazu: „Ein Sprecher der Veteranen, die zu dieser Kranzniederlegung gekommen sind, appelliert an Kohl und Gorbatschow, alles zu tun, damit Deutsche und Russen Partner würden und nie wieder Leid übereinander brächten. Jetzt ist dem Kanzler die Rührung anzumerken. Die alten Kriegsteilnehmer sind ohne Jacke, im kurzärmeligen Hemd, aber mit Orden und Auszeichnungen auf der Brust erschienen.“8 Dann erklimmen Gorbatschow, sein Außenmister Eduard Schewardnadse und andere Mitglieder der sowjetischen Führung gemeinsam mit Kohl, Genscher und Waigel die Tribüne des wuchtigen Lenin-Denkmals mitten auf dem zentralen Platz von Stawropol, um von dort der Menge zu huldigen wie sonst die Parteiführung anlässlich der Paraden zum 1. Mai oder zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Der Journalisten-Tross folgte ihnen auf Schritt und Tritt, aber inhaltlich gab es noch sehr wenig zu berichten.

Lenin, immer wieder Lenin. Sein Porträt hing auch noch in Gorbatschows altem Büro, das er den Deutschen im Haus der Sowjets von Stawropol zeigte. „Hier hat alles angefangen“,9 erläuterte damals der Kreml-Chef. Um anschließend in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje und zu den Orten seiner Kindheit und Jugend zu gelangen, hätten die Delegationen jetzt gut 160 Kilometer nördlich reisen müssen. Sie flogen aber mit mehreren Hubschraubern in die entgegengesetzte Richtung, nach Archys, rund 300 Kilometer südlich von Stawropol.

Auf dem Weg dorthin legten sie einen kurzen Zwischenstopp auf dem Acker einer Kolchose im Dorf Iwanowskoje ein, wo die beiden Staatsmänner mit den Dorfbewohnern in Kontakt kamen, einen Mähdrescher bestiegen und ein Stück gemeinsam fuhren. Der westdeutsche Botschafter in Moskau, Klaus Blech, hielt alles mit seiner V-8-Videokamera fest und kam somit in Besitz eines einzigartigen Filmdokuments, waren die Möglichkeiten der Medienvertreter während dieser historischen Kaukasus-Reise doch äußerst eingeschränkt. Botschafter Blech erinnerte sich: „Der Flug nach Archys – ob das große Historie würde, wussten wir nicht, aber dass es spannend werden würde, das war klar.“10 Noch vor der Dämmerung an jenem Sonntag, dem 15. Juli 1990, landeten Gorbatschow, Kohl und die Delegationen schließlich auf dem Hubschrauberplatz vor der Staatsdatscha.

Kurz nachdem sie ihre Zimmer bezogen hatten, ließ Gorbatschow anfragen, ob Kohl vor dem Abendessen noch an die frische Luft gehen wolle, was dieser zusagte. Die beiden Staatsmänner wechselten in legere Kleidung: Kohl trug nun eine dunkelblaue Strickjacke, Gorbatschow einen dunkelblauen Pullover. In Begleitung ihrer Minister, Gorbatschows Ehefrau Raissa und einer Handvoll sowjetischer und deutscher Journalisten, welche KGB-Sicherheitsleute erst nicht in die Nähe der Delegationen hatten durchlassen wollen, brachen sie auf – anders als später kolportiert jedoch nicht zu einer Wanderung mit Rast,11 sondern lediglich zum hinter dem Haus gelegenen Fluss Bolschoi Selentschuk und zu jener unweit am Ufer gelegenen Sitzgruppe aus Baumstümpfen. Als Gorbatschow recht wagemutig die steile und ungesicherte Böschung zum reißenden Fluss hinunterstieg, eilte sein persönlicher Leibwächter Wladimir Medwedew hinterher. Kohl, dem Gorbatschow bedeutete, er möge ihm folgen, schlug die helfende Hand des Leibwächters beim Hinunterklettern aus, und auch die ausgestreckte Hand Gorbatschows war an dieser Stelle nicht nötig.

Zurück auf sicherem Boden nahmen sie Platz an der Sitzgruppe und dem Tisch aus Baumstümpfen, wohin der Gastgeber auch Genscher bat. Diese Bilder einer vertrauensvollen Zusammenkunft gingen um die Welt, vor allem auch in die ganze Sowjetunion; seinen Bürgern wollte Gorbatschow zeigen, dass das Verhältnis zu den Deutschen ein fundamental neues war, das nichts mehr mit der dunklen Vergangenheit zu tun hatte. An Letztere erinnerte Gorbatschow den Bundeskanzler nichtsdestotrotz bei den offiziellen Gesprächen dieser Reise: „Wir können unsere Vergangenheit nicht vergessen. Jede unserer Familien wurde seinerzeit vom Unheil heimgesucht. Es gilt aber heute, sich Europa zuzuwenden und den Weg der Zusammenarbeit mit der großen deutschen Nation einzuschlagen.“12 Natürlich hing der Schatten dieser Vergangenheit auch über den Verhandlungen in Archys, denn der „Große Vaterländische Krieg“, wie er in der Sowjetunion genannt wird, lag gerade einmal 45 Jahre zurück.

Die hölzerne Sitzgruppe wurde Jahre später abgebaut, nach Deutschland abtransportiert und ersetzt durch eine Nachbildung. Das Original dient als Exponat im Bonner Haus der Geschichte. Auch Gorbatschows Pullover und Kohls Strickjacke sind dort ausgestellt, ebenso wie ein sowjetischer Panzer des Typs T-34, mit dem noch am 17. Juni 1953 der Aufstand der DDR-Bürger gegen das SED-Regime blutig niedergeschlagen worden war.

Als die Film- und Fotoaufnahmen vom trauten Beisammensein am schlichten Holztisch gemacht waren, lud Gorbatschow die Deutschen zum Abendessen in die Staatsdatscha ein. Hauswirtin Valentina Schaposchnikowa hätte die Bewirtung allein nicht geschafft. Fünf Köche aus Moskau waren daher eingeflogen worden, um in der auch heute noch erstaunlich einfach eingerichteten Küche ans Werk zu gehen. Hinter dem Speisesaal und einer düsteren Kammer gelegen, unterscheidet sie sich wohl kaum von anderen Küchen in den umliegenden Bergen.

Während des Abendessens der beiden Delegationen waren keine Verhandlungen vorgesehen. Gorbatschow erzählte die eine oder andere Anekdote und vergaß nicht, Helmut Kohl anerkennend zum Fußballweltmeistertitel zu gratulieren. Am Sonntag zuvor, dem 8. Juli, war die DFB-Elf mit ihrem Teamchef Franz Beckenbauer und Kapitän Lothar Matthäus in Rom gegen Argentinien als Final-Sieger vom Platz gegangen. Der Bundeskanzler war live dabei gewesen.

Mit armenischem Cognac in der Hand hob Gorbatschow zu einem Trinkspruch an: ein Hoch auf Deutschland, das in jenen Tagen nicht nur politisch, sondern auch sportlich im Fokus der Weltöffentlichkeit stand. Dass Fußball etwas Völkerverbindendes hat, mag eine Binsenweisheit sein, hier in Archys diente er tatsächlich der Auflockerung und Entspannung. Kohl notierte in seinen Memoiren, Gorbatschow habe seinen Schilderungen über den Verlauf des Endspiels interessiert gelauscht und Zwischenfragen gestellt.

Zudem erzählte Gorbatschow von seiner Kindheit während des stalinschen Terrors in den 1930er-Jahren und von der deutschen Besatzung seines Dorfes Priwolnoje. Jener Mann, der in der Bundesrepublik das „Gorbi-Fieber“ auslöste, lenkte das Tischgespräch auch auf den Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der zwei Tage zuvor zu Ende gegangen war und noch mal offenbart hatte, dass die Sowjetunion inzwischen nicht nur ein tief zerrissenes Land war, sondern auseinanderzufallen drohte. Einen Ausweg aus der Krise sah Gorbatschow, wie er auch den kommunistischen Delegierten beim Parteitag vorgetragen hatte, im „Übergang zur Marktwirtschaft“ – eine mit der Ideologie der Kommunistischen Partei nicht zu vereinbarende Position, die dem jahrzehntelangen Wettern gegen den westlichen Klassenfeind diametral entgegenstand. Verkehrte Welt, meinten die einen, Pragmatismus, meinten die anderen.

In Archys trafen sich Gorbatschow und Kohl nach dem Abendessen gegen 23 Uhr separat zu einem kurzen Gespräch, um die Verhandlungen des folgenden Tages vorzubereiten. Die uneingeschränkte NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands, der Gorbatschow am Vormittag in Moskau noch zugestimmt hatte, war laut Kohl zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht final gebilligt. Als Kohl nun in Archys erneut darauf zurückkam, habe Gorbatschow jedoch nur geschwiegen.13

Versuchte Gorbatschow den Preis hochzutreiben? War er sich seiner Position doch nicht sicher? Oder wurde er von Kohl missverstanden? Letzterer rief nach dem Gespräch mit Gorbatschow seine Leute zusammen, um die Verhandlungspunkte durchzugehen. Es sollte dabei auch um die Abzugsmodalitäten für das sowjetische Militär aus der DDR gehen – und somit nicht zuletzt um Geld. Am Ende eines sehr langen Tages zog sich der Bundeskanzler auf sein Zimmer zurück. Seine Anspannung und seine Gedanken am Vorabend der historischen Wegmarke beschrieb Kohl wie folgt: „Es war schon nach Mitternacht, als ich auf den Balkon der Datscha trat, über mir ein wunderschöner Sternenhimmel und vor mir die dunkle Silhouette des Kaukasus. Vieles ging mir durch den Kopf, vor allem fragte ich mich, was der morgige Tag wohl bringen würde. Es stand für uns Deutsche so viel auf dem Spiel.“14

Valentin Falin, langjähriger Deutschlandberater Gorbatschows und in den 1970er-Jahren sowjetischer Botschafter in Bonn, hatte am Vorabend der Kaukasus-Reise, an der er selbst nicht teilnahm, noch einen fast verzweifelten Versuch unternommen, seinen Chef in einem Telefonat von weitgehenden Zugeständnissen abzubringen:

Ich sagte zu Gorbatschow, es gehe jetzt nicht nur um das Schicksal der DDR und des Warschauer Paktes, sondern auch um das unseres Landes. Wenn das alles so kommt, verlieren wir unsere strategischen Positionen und verlieren das, was im Großen Vaterländischen Krieg erkämpft wurde. Er hörte mir zu, unterbrach mich nicht und sagte zum Schluss: „Ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun. Aber ich glaube, der Zug ist schon abgefahren.“15

Am nächsten Morgen – es war Montag, der 16. Juli 1990 – erschienen Gorbatschow und Kohl beide in Strickjacken, was dem legendären Treffen seinen Namen gab. Die deutsche Seite war mit zehn Männern vertreten: Kohl, Genscher, Waigel, Regierungssprecher Klein, Kanzler-Berater Teltschik, Botschafter Blech, Staatsminister im Außenministerium Dieter Kastrup, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium Gert Haller, Kohls Büroleiter Walter Neuer und Dolmetscher Andreas Weiß. Auf sowjetischer Seite waren es sieben: Gorbatschow, Außenminister Eduard Schewardnadse, Finanzexperte und Vize-Regierungschef Stjepan Sitarjan, Europa-Abteilungsleiter im Außenministerium Juli Kwizinski, Botschafter in Bonn Wladislaw Terechow, Gorbatschows Pressesprecher Arkadi Maslennikow und Dolmetscher Iwan Kurpakow.

Kohl bringt zunächst den schon beim Gespräch in Moskau in Aussicht gestellten „Großen Vertrag“ ins Spiel, der eine umfassende, langfristige und vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik vorsieht. In Archys herrscht insofern eine wechselseitige Abhängigkeit, als sich die Staatsmänner gegenseitig zum Erfolg verhelfen könnten. Gorbatschow sieht die Chance, sich bei seinen entglittenen, ja außer Kontrolle geratenen Reformversuchen Luft zu verschaffen. Und Kohl will unbedingt die deutsche Einheit verwirklichen, einen politischen Lebenstraum vieler Deutscher, der auch ein Ende der Teilung Europas bedeuten würde.

Fast vier Stunden ringen sie miteinander, doch am Ende steht die volle Souveränität Gesamtdeutschlands als Ergebnis fest. Für den Abzug der sowjetischen Truppen von deutschem Boden vereinbaren sie einen Zeitraum von drei bis vier Jahren. Gorbatschow hatte ursprünglich einen Übergangszeitraum von fünf bis sieben Jahren gefordert, denn immerhin müssen mehr als eine halbe Million Soldaten, Offiziere und Angehörige in die Heimat zurückgebracht werden. Hinzu kommen die schweren Waffen und sonstiges militärisches Gerät. Beschlossene Sache ist jetzt auch die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, wobei auf dem Gebiet der DDR die Stationierung von NATO-Truppen tabu ist, solange die sowjetischen noch nicht abgezogen sind.

Die Bundeswehr wird – auch als Zeichen an die sowjetische Bevölkerung – deutlich verkleinert. Gorbatschow ist es wichtig, dass in das Dokument die Formulierung aufgenommen wird, Deutschland habe freie Militärbündniswahl, und dass das Wort NATO nicht erwähnt wird. Wäre Gorbatschow ein schwacher Staatslenker gewesen, hätte er dem Widerstand der Hardliner in der sowjetischen Politik nachgegeben. Doch er setzte um, was er für richtig hielt. Von seinen Kritikern im eigenen Land blieben allerdings ohnehin viele in Deckung, hielten sich mit Vorwürfen zurück, denn die deutsche Frage war angesichts der kolossalen innenpolitischen Probleme ein Randthema. Und auch die Weltpresse erfährt zunächst kein Wort von der historischen Einigung. Selbst, als sich die beiden Staatsmänner nach dem Ende ihrer Gespräche vor der Staatsdatscha zeigten, äußerten sie sich vor der kleinen Schar der Pressevertreter nicht inhaltlich. Für Gorbatschow jedoch wurde „Archys zu einem einzigartigen Symbol der deutschen Wiedervereinigung auf sowjetischem Boden. In jener wunderbaren Umgebung besiegelten wir die deutsche Einheit.“16

Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges mit vielen Millionen Opfern und unendlichem Leid – ziehen ihre Staatslenker jetzt nicht nur einen Schlussstrich unter die schmerzliche Vergangenheit, sondern rufen eine Zeit der Partnerschaft, der gegenseitigen Hilfe und des Friedens aus. Denn für die beiden Kriegskinder war, wie Helmut Kohl schrieb, „Friede nicht nur ein Wort, sondern ein existenzielles Grundbedürfnis.“17

Gorbatschow sucht nach dem Ende der offiziellen Verhandlungen zunächst die Nähe seiner Frau. Sie machen einen kurzen Spaziergang auf dem Gelände der Staatsdatscha. Er muss seiner Frau von den Ergebnissen berichtet haben, denn wenig später, als sie sich mit Hans-Dietrich Genscher unterhält, ist sie schon im Bilde. Die Rolle von Raissa Gorbatschowa ist in der Geschichte der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall einmalig. Kein sowjetischer Kreml-Herr hat sich mit seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit so bewusst als gleichberechtigtes Paar gezeigt; auch mit Raissas gelegentlich öffentlichem Widerspruch geht Gorbatschow gelassen um.

Wie den privaten Filmaufnahmen von Botschafter Blech zu entnehmen ist, macht Gorbatschow vor der Abreise noch einen zweiten Spaziergang mit Kohl – begleitet nur vom Dolmetscher. Raissa Gorbatschowa spricht währenddessen mit den Außenministern Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse und einem Dolmetscher. Die Rolle der „dekorativen“ Ehefrau ist ihre Sache nicht. Genscher erinnerte sich, dass sie schon am Vortag höchst politisch wurde: „Als wir zu dem bekannten Treffen am Fluss gingen, griff die Frau Gorbatschow plötzlich von hinten meine Hand und zog mich zurück und sagte: ,Wissen Sie, was mein Mann hier tut? Deutschland muss seine Verantwortung auch wahrnehmen, seine Zusagen auch einhalten.‘ Da habe ich gesagt: ‚Darauf können Sie sich verlassen.‘ – Das war die fürsorgende, politisch denkende Ehefrau.“18

Von Archys aus fliegen Gorbatschow und Kohl rund 45 Minuten Richtung Nordosten: Schelesnowodsk liegt nur zehn Kilometer vom Flughafen der Stadt Mineralnije Wody entfernt. Die beiden Orte sind bekannt für ihre Heilwässer und ziehen Kurgäste aus der gesamten Sowjetunion an. Im Lungensanatorium von Schelesnowodsk treten die Staatschefs endlich gemeinsam vor die Weltpresse. Die Teilung Deutschlands, wie sie auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 von US-Präsident Franklin Roosevelt, dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und dem britischen Premier Winston Churchill de facto zementiert worden war, ist nun überwunden. Um den Schauplatz dieser historischen Verkündung vom 16. Juli 1990 einordnen zu können, muss man jedoch noch einmal zurückblicken. Schelesnowodsk war im August 1942 von der Wehrmacht besetzt und im Januar 1943 von Truppen der Transkaukasus-Front der Roten Armee zurückerobert worden. Gut 47 Jahre nach der Befreiung sind nun nicht zufällig hier die internationalen Fernsehkameras und Mikrofone auf Michail Gorbatschow gerichtet. Er, vor allem er, hat die Versöhnung mit den Deutschen und die Wiedervereinigung ihres Landes maßgeblich ermöglicht. Dies allein hätte schon für den Friedensnobelpreis gereicht, den er drei Monate später, am 15. Oktober 1990, zugesprochen bekommen wird.

Doch Gorbatschow lässt seinem Gast den Vortritt. Der Kreml-Chef leitet die Pressekonferenz mit den Worten ein: „Sie können auf interessante Nachrichten gefasst sein.“ Der Bundeskanzler trägt „mit Genugtuung“19, wie er sagt, in acht Punkten vor, worauf sich beide Seiten geeinigt haben. Darunter fallen die Tatsachen, dass das vereinigte Deutschland die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen, jedoch endgültig nicht mehr die ehemaligen deutschen Gebiete Ostpreußen, Schlesien und Pommern beanspruchen wird. Außerdem sollen mit dem Vollzug der Einheit die Rechte der vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich erlöschen und Deutschland somit seine volle Souveränität zurückerhalten. Zur Bündnisfrage führt er wörtlich aus: „Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Ich habe als die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte; und ich bin sicher, dies entspricht auch der Ansicht der Regierung der DDR.“20

Dieser Satz legt sehr nahe, dass Kohl die am 18. März 1990 demokratisch gewählte DDR-Regierung vor seiner Reise in die Sowjetunion über die Verhandlungsinhalte nicht informierte. Auf jeden Fall steht fest, dass er die DDR-Regierung nicht sofort über die mit Gorbatschow erzielten Ergebnisse unterrichtete, obwohl es sich bei den Modalitäten für den Abzug der sowjetischen Truppen sowie den künftigen militärischen Status des Gebietes der DDR nicht nur um bundesrepublikanische Angelegenheiten handelte. An dem Treffen in Archys nahm kein einziger Vertreter der DDR teil, weder Ministerpräsident Lothar de Maizière noch Außenminister Markus Meckel. Letzterer spricht der damaligen Bonner Regierung zwar nicht ab, das Recht gehabt zu haben, allein in die Sowjetunion zu reisen. Doch da es bei den Verhandlungen insbesondere um die DDR gegangen sei, hätten Kohl und seine Minister über die Köpfe der ebenfalls zuständigen ostdeutschen Regierung entschieden.21

Horst Teltschik hält dagegen, dass Gorbatschow als Gastgeber die DDR-Seite hätte einladen können, was er aber nicht tat. Er meint, dass Gorbatschow deshalb so agierte, weil er mit der Bundesregierung indirekt auch über Finanzhilfen reden wollte sowie über den „Großen Vertrag“ zwischen den Sowjets und den Deutschen, der dann im November 1990 in Bonn auch unterzeichnet wurde.22 Fakt ist, dass zum Zeitpunkt der Kaukasus-Reise die DDR über keine Finanzhoheit mehr verfügte, da die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik zwei Wochen zuvor, am 1. Juli 1990, in Kraft getreten war.

Auf der Pressekonferenz in Schelesnowodsk unterstreicht Gorbatschow Deutschlands Atomwaffen-Verzicht, die drastische Reduzierung der Bundeswehr, aber vor allem die Bedeutung der Beschlüsse vom Londoner NATO-Gipfel, der zehn Tage zuvor zu Ende gegangen war – weg von einem rein militärischen Bündnis, hin zu einem mehr politischen. Und er erinnert daran, dass das östliche Bündnis Warschauer Pakt den ersten Schritt gemacht habe mit der Veränderung seiner Militär-Doktrin: „Das, was in London vor sich ging, war in der Tat so etwas wie der Anfang einer neuen historischen Entwicklung. Wir unterstreichen, dass dieser Kontext auch sehr wichtig ist. – Wenn also nicht dieser zweite Schritt in London gemacht worden wäre, wäre es sehr schwer gewesen, bei unserem gestrigen und heutigen Treffen weiter zu gehen.“23

Immer wieder hatte schon der sowjetische Außenminister Schewardnadse in den Wochen vor Archys die Bedeutung des Nato-Gipfels für die Moskauer Kompromissbereitschaft in der deutschen Frage hervorgehoben.24 Obwohl die NATO-Deklaration nicht explizit die Wandlung des Bündnisses in eine politische Gemeinschaft beinhaltete und vielmehr Absichtserklärungen und Angebote im Geiste der neuen Freundschaft zwischen Ost und West zum Gegenstand hatte, fassten die Vertreter der Sowjetunion es gern und zu Recht so auf. Und sie konnten jetzt vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung von einer grundlegenden Veränderung der NATO sprechen, die nicht mehr eine Bedrohung darstelle, sondern ein Freund und Partner sei.

Das internationale Presse-Echo auf das historische Kaukasus-Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl ist überwältigend. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel titelt mit einem Foto von Gorbatschow und Kohl: „Der Krieg ist zu Ende“, was keine Übertreibung ist. Denn mit dem Ende der Teilung Deutschlands ist auch die Teilung des europäischen Kontinents nach 45 Jahren überwunden.

Gorbatschow und die sowjetische Delegation begleiten die Deutschen zum nahe gelegenen Flughafen in Mineralnije Wody. Der Kreml-Chef hatte den Besuch des Bundeskanzlers bezeichnet als eines „der bedeutendsten internationalen Ereignisse, die mit den grundlegenden Veränderungen in der europäischen und in der Weltpolitik verbunden sind“.25 Entsprechend teilen das Glücksgefühl Kohls über das Erreichte wohl auch die meisten deutschen Journalisten, die die Luftwaffen-Boeing besteigen. Am nächsten Tag tritt der Bundeskanzler in Bonn vor die Presse, und die Journalisten spenden ihm alle Beifall, obwohl so etwas dieser Berufsgruppe eigentlich wesensfremd ist. In Paris kamen zur gleichen Zeit die Außenminister der Zweiplus-Vier-Verhandlungsstaaten zusammen – Markus Meckel für die DDR. Sein sowjetischer Kollege Schewardnadse habe dort ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er, Meckel, als DDR-Vertreter und Verbündeter keine unmittelbare Unterrichtung durch die Sowjets erhalten hatte über die Ergebnisse von Archys.26

Das Ehepaar Gorbatschow reiste nach dem historischen deutschsowjetischen Kaukasus-Treffen in privater Angelegenheit weiter, was angesichts der innenpolitischen Turbulenzen und der Arbeitsbelastung von Michail Gorbatschow längere Zeit nicht möglich gewesen war. Sie besuchten in Priwolnoje die 79-jährige Mutter des Staatschefs, Maria Pantelejewna Gorbatschowa.

Gorbatschow

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