Читать книгу Episoden aus der neuen Welt - Ilka Berger - Страница 6
Episode 4
ОглавлениеEik:
Na, soll der mal überlegen. Von Zusammenarbeit hat der anscheinend noch nie was gehört; Trottel. Das kann doch nicht so schwer sein, oder? Ich gebe dem noch fünf Minuten. Inzwischen werde ich mich mal umsehen, aber eigentlich würde ich lieber telefonieren so wie früher. Das waren noch Zeiten; schnell mal das Mobile geschnappt. Kleiner Talk mit Freunden: schnell, unkompliziert, erheiternd. Aber jetzt …
Schluss, aus, vorbei; das ist eh nicht mehr rückgängig zu machen. Aber im Grunde meines Herzens stimme ich dieser radikalen Aktion voll und ganz zu, auch heute noch. Das Ganze nahm schließlich kuriose Ausmaße an. Die wahren Opferzahlen blieben im Dunkeln. Zu viele, die nicht mehr ins normale Leben zurückfanden. Von so manch einem hat man’s nicht glauben wollen. Aber so war es letztendlich; die Entwicklung unberechenbar. Obwohl, im Nachhinein …! Die immense Beschleunigung der Präsentation technischer Neuheiten hätte bereits vorher gestoppt werden können. So schlug beinahe alle drei Wochen eine Neuentwicklung in den Alltag von uns Süchtigen ein. Wo wir, verrückt nach Neuem und täglich auf Entzug, uns kaum noch halten konnten. Zugegeben, wir hatten Spaß und dachten keinen Augenblick an negative Konsequenzen. Später dann der Schock. Man hatte eben zu viel verloren an dem kleinen Ding, das im Alltag so viele Aufgaben übernommen hatte, gezwungenermaßen. Immer noch eine Funktion und noch eine draufgepackt. Bescheidenheit, das war nicht unser Ding. Mit dem Erreichten zufrieden geben, ach iwo. Die Sucht war bereits so weit fortgeschritten, dass alles unsere uneingeschränkte Zustimmung fand. Auch der allergrößte Blödsinn. Was war das doch gleich …? Ach ja, genau: eine der beliebtesten Funktionen: neuer Haarschnitt. Neuer Haarschnitt in nur fünf Minuten. Absolut grandios. Option wählen, Schnittauswahl anklicken. Zwar war die Auswahl anfangs mehr als bescheiden, nur maximal 15 Schnitte. Aber dennoch, im Moment des Erscheinens waren alle sofort begeistert. Man sparte immerhin den Weg zum Frisör und andere Unannehmlichkeiten. Und so einfach war’s: das Wunderding in den Nacken gesetzt und schon ging’s los. Das kleine Ding ackerte sich präzise durchs unansehnliche Haar; in sagenhaften fünf Minuten. Und man sah immer ähm, ja, … beinahe immer halbwegs vernünftig aus. Manchmal sogar besser als je zuvor. Besser als nach einem echten Frisörtermin, der nur selten dem Spiegeltest standhielt. Und ganz besonders praktisch: an fast jedem Ort durchführbar. Ein großer Nachteil: manche konnten’s einfach nicht lassen. Egal wo man sich gerade aufhielt, es musste nach Lust und Laune sofort drauf losgeschnitten werden. Nirgendwo konnte man wirklich sicher vor irgendwelchen herumfliegenden Haaren sein. Irgendjemand stand immer in der Nähe und ließ das Mobile durch seine schnittbedürftige Kopfhaarsammlung rattern. Der Wind blies einem fast immer ganze Haarbüschel in den Nacken. Es juckte. Versuche das Fremdhaar abzuschütteln gingen meistens in die Hose. Es kroch überall hin oder klammerte sich verbissen ans Eigenhaar und verursachte nicht selten Hautrötungen oder brennende Allergien. Ich kann mich noch gut erinnern: selbst regelmäßige Körperpflege half da nicht. So war man gezwungen, permanent vor der Beschneidungsmanie anderer zu flüchten. Und das Mobile? Raffiniertes Ding! Es funktionierte weiterhin mit äußerster Präzision. Es schnitt, wann auch immer sein Besitzer danach verlangte. In beinahe jeder Position. Das hätte für mich und die meisten anderen auch so weitergehen können. Es ging ja auch lange gut. Bis dann der irreparable Bruch kam. Die Störung war äußerlich kaum zu bemerken. Nur das Display zeigte gelegentlich ungewöhnliche Bildmuster. Ich fand das anfangs eher harmlos; kein Grund zur Aufregung. Nur eine kleine technische Überreaktion. Aber im Inneren nagte bereits der Teufel am Eingemachten. Der völlig außer Konrolle geratene multifunktionale Hypervisor des Systems generierte Störprogramme, die daraufhin folgende Befehle sendeten: Adressen löschen, gezielt Schnittstellen zerstören; Viren einschleusen, alte Programme lahmlegen. Anrufe simulieren und die Stimme des Anrufers genau emulieren. Darüber hinaus wurden ganze Bilddateien umstrukturiert, teilweise einzelne Bilder zu kompletten Neukompositionen umgearbeitet. Die schönen Schnappschüsse waren natürlich dahin und somit eine ganze Bildvergangenheit zerstört. Und das war bei Weitem noch nicht alles. Erst als der Benutzer begann, trotz der bereits ersichtlichen Brüchigkeit, in gewohnter Art eine Option zu wählen, lief das System zu zerstörerischer Höchstform auf. Viele verloren zu diesem Zeitpunkt nicht wie gewollt ihr zu langes Haar, sondern in einer vom Mobiltelefon ausgeführten Schnelloperation ein Ohr, ein Auge oder Teile ihrer Nase; manchmal gefolgt von schnellen kurzen Schnitten in den Hals, nur knapp an der Halsschlagader vorbei. Wie ein Wunder blieb ich unversehrt. Kein Kratzer, kein Schnitt, wo andere schon halb amputiert waren. So sah ich das Elend deutlicher an anderen als an mir voranschreiten. Bei dem Versuch, den Spontanamputationen irgendwie zu entkommen, drohte das Mobile -sofort schon wieder einen neuen Einfall parat- in der nächst gelegenen Körperöffnung zu verschwinden und den Benutzer von innen heraus komplett zu entkernen. Daraufhin gaben auch die letzten ihren Widerstand auf und ließen das kleinere Übel über sich ergehen, nach der klugen Einsicht: besser nur mit einem Ohr leben als mit einem vollständig zerstörten Innenleben. Irgendwann, denn es war klar, das konnte so auf Dauer nicht weiter gehen, die grausamen Attacken nahmen kein Ende -und einfach entfernen ließen sich die Mobilen nicht- kamen die Überlebenden zum Schluss, diese festgefressenen Apparate ferngesteuert von den Körpern abzusprengen. Zwar nahm die Entwicklung geeigneter Geräte, das Mobile musste schließlich von außen manipuliert werden, eine gewisse Zeit in Anspruch, doch letztendlich fanden wir bzw. eine kleine Schar leicht verstrahlter Tüftler passende Lösungen und die Methode der ferngesteuerten Explosion führte schlussendlich zum gewünschten Ergebnis. Das hieß im Klartext: die gnadenlose Körperverstümmelung hatte endgültig ein Ende. Der Terrorkasten war in die Welt versprengt.
Wie alle anderen war auch ich natürlich im ersten Moment total erleichtert, aber nach einer Weile schob sich langsam eine zarte Melancholie zwischen mein Freiheitsgefühl und jaulte der verlorenen Bequemlichkeit nach. Und sie ahnte wohl auch die schwierige Umstellungszeit voraus, die unmittelbar folgen sollte. Denn Die Ziele waren mehr als eindeutig: Selbssteuerung, ortsfixierte Kommunikation, Standpunktbestimmung durch gedächtnisabhängige Orientierung. Und das alles ohne Minirechner, ohne auflockerndes Gespräch; keinerlei Zerstreuung. Das war extrem hart.
Wirklich das gesamte Mobilfunknetz zerstört wie sie nach Jahren immer noch behaupten? Eher unwahrscheinlich. Ich bin mir ziemlich sicher, es existiert ein neues Kommunikationssystem, wie auch anders, denn die Weißkittel kommen wohl kaum ohne aus. Und natürlich, es ist ein System genau auf sie zugeschnitten, für ihre ganz speziellen Bedürfnisse nach Information. Die wissen doch immer genau was hier und da abgeht. Und das läuft nicht ohne schnelle Übermittlung.
Nur wo könnte es sitzen, dieses quasi unsichtbare neue System? Im Kopf eingequetscht zwischen aufgeblähten Zellen oder direkt hinterm Ohr, so winzig klein, dass man ein Mikroskop bräuchte, um es aufzuspüren? Wo auch immer es hockt in oder an ihren sturen Quadratschädeln, ich wünsche ihnen, dass die Strahlung - wenn die dabei überhaupt noch eine Rolle spielt- langsam aber sicher ihre Hirne zerfrisst.