Читать книгу Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens - Ilona Friederici - Страница 5

PROLOG

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Es gibt Momente, die verändern dein Leben. Manche weniger, manche mehr. Was mein Leben außergewöhnlich verändert hat, ist die Begegnung mit Samira. Eine alte Frau, von der ich nicht viel mehr weiß, als dass sie Samira heißt. Zumindest hat sie sich mir so vorgestellt. Das erste Mal begegnete ich ihr vor mehr als dreiundzwanzig Jahren.

Ich saß auf einem großen Felsbrocken an einem breiteren Bachlauf. Es führte kein direkter Weg dorthin, ich war einfach über eine Wiese gelaufen und hatte mich dann durch ein paar Büsche hindurchgeschlichen. Ich suchte einen Ort der Stille, wollte niemanden sehen oder hören, einfach nur allein sein. Völlig am Boden zerstört saß ich da und weinte. Ich hatte wohl schon mindestens das zehnte Taschentuch vollgeschnauft und fühlte mich einfach elend, einsam und verlassen. Meine Welt war zerrüttet, ich sah keine Zukunft mehr. Vor einem halben Jahr hatte ich mit gerade mal sechzehn Jahren meine Mutter verloren, und vor drei Wochen war mein Vater schwer erkrankt. Er sei nun ein Pflegefall, hatte man mir an diesem Tag gesagt, und werde sich nie wieder allein versorgen können.

Die Verzweiflung machte sich in mir breit, und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Was wird nun, wo kann ich bleiben? Ich wollte einfach nur weg, es hatte alles keinen Sinn mehr. Das ganze Leben schien mir ohne Sinn und Zweck. Ich fühlte mich so allein und einsam. Überlegte, ob ich von der Brücke springen sollte. An der Talbrücke hatte sich schon einmal jemand umgebracht, das hatte mir mein Freund Toni erzählt. Das wäre doch ganz einfach und ich würde niemandem, besonders nicht meinem Vater, zur Last fallen. Wer würde mich schon noch wollen?

Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir: »Darf ich mich zu dir setzen, junge Frau?«

Erschrocken drehte ich mich um. Total überrascht, denn ich hatte niemanden kommen hören. Hinter mir stand eine alte, grauhaarige Frau. Sie hatte etwas dunklere Haut, was mir sofort auffiel. Ich konnte nicht erkennen, ob sie Ausländerin war oder einfach nur viel Zeit in der Sonne verbracht hatte. »Oh«, entfuhr es mir, »ich habe Sie nicht kommen hören. Ich dachte, ich wäre hier allein.«

Jetzt überkam mich aber doch kurz die Panik, ich war schließlich ganz ohne Begleitung. Wenn die Frau mir etwas tun wollte, dann hörte mich nicht mal jemand, falls ich schrie. Aber dann lächelte sie mich an, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, setzte sie sich neben mich auf den Felsbrocken.

»Wer sind Sie?«, fragte ich. »Was machen Sie hier?«

Daraufhin musste die Grauhaarige lachen. »Das sollte ich lieber dich fragen, Ilona.«

Ich stutzte. »Woher kennen Sie meinen Namen? Kennen wir uns?« Ich konnte mich nicht erinnern, die Frau jemals gesehen zu haben.

»Ich kenne deinen Namen. Ich bin übrigens Samira«, erwiderte sie und reichte mir ihre rechte Hand.

Ich zögerte. Irgendwie war das gerade alles sehr merkwürdig. Samira wirkte unauffällig, trug Jeans, eine Bluse und schlichte Lederschuhe. Diese Schuhe, die Indianer oft trugen, Mokassins. Ihr roter Rucksack wirkte etwas fehl am Platz, er passte meiner Meinung nach so gar nicht zu ihr, zu einer so alten Frau. Aber dann reichte ich ihr doch meine Hand und traute mich, noch einmal zu fragen: »Was machen Sie hier?«

Mir tief in die Augen schauend meinte sie: »Ich bin deinetwegen hier.«

Wieder stutzte ich. »Meinetwegen?«

»Ich bin hier, weil ich Dinge gut sehen kann. Andere Menschen können gut singen oder zeichnen. Und ich kann gut sehen. Sehe mehr aus unterschiedlichen Perspektiven«, erklärte sie.

»Ich versteh nur Bahnhof«, schoss es aus mir heraus. Ich merkte, dass ich unhöflich wurde und mein Ton unangebracht war, aber irgendwie kam mir die Situation ein wenig lächerlich vor. Etwas Misstrauen kam auch noch dazu. Was soll das hier werden?, fragte ich mich.

»Ich werde versuchen, es dir zu erklären, aber vorher lade ich dich zu einem Festessen ein«, sagte Samira, während sie anfing, in ihrem knallroten Rucksack herumzukramen. Zum Vorschein kamen zwei Weizenbrötchen, ein Apfel, der in zwei Hälften geschnitten war, und eine Flasche Wasser.

Hm, dachte ich, unter einem Festessen hätte ich mir aber etwas anderes vorgestellt. Dennoch nahm ich das angebotene Brötchen und den Apfel an. Auf einmal registrierte ich, dass ich sehr hungrig war, zumal ich heute auch noch nichts gegessen hatte. Das war mir vorher noch gar nicht so aufgefallen.

So saßen wir eine ganze Weile nebeneinander und aßen. Eigenartigerweise stellte ich fest, dass ich neben der fremden Frau immer ruhiger wurde. Auch wenn ich mich weiterhin fragte, was das hier eigentlich sollte, entspannte ich mich allmählich.

Nach einiger Zeit des Schweigens fragte Samira mit einem schelmischen Blick in meine Richtung: »Na, wie war das Festessen, junge Frau?«

»Also, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber unter einem Festessen stelle ich mir etwas anderes vor. Trotzdem vielen Dank.«

»Ja, vielleicht haben wir nicht das Gleiche gegessen. Was hast du denn gegessen?«

Was sollte die Frage? Verwundert antwortete ich: »Wir haben doch beide das Gleiche gegessen.«

»Das finden wir nur heraus, wenn du mir sagst, was du gegessen hast.«

Jetzt war ich verwirrt. »Ich weiß nicht, wie Sie das meinen! Wir haben doch beide ein trockenes Brötchen und jeweils einen halben Apfel gegessen.«

Samira fing an zu lachen. Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt wütend war oder einfach nur genervt. Langsam ging mir das Ganze hier auf den Geist. Ich wollte doch nur meine Ruhe haben. Deshalb hatte ich mich ja durch die Sträucher gequält.

»Also, ich habe heute ein Brot de Grande und ein Obstdessert bei herrlichem Sonnenschein an einem schönen kleinen Bachlauf gespeist.« Samira hielt kurz inne. »Du siehst, es liegt manchmal daran, aus welcher Perspektive man eine Sache betrachtet. Oft hilft es, eine Situation von einer anderen oder höheren Perspektive aus zu betrachten. Manchmal tut es auch gut, ein Ereignis aus der Perspektive eines anderen Menschen zu betrachten.«

Irgendwie konnte oder wollte ich das an diesem Tag nicht verstehen. Zögerlich schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß nicht so wirklich, was Sie von mir wollen. Das ist mir gerade alles ein bisschen zu viel.«

Samira schenkte mir einen mitfühlenden Blick. »Nenn mich einfach Samira. Du kannst mich also gerne duzen. Ich verstehe dich, liebe Ilona.« Sie kramte erneut in ihrem Rucksack. »Aber ich habe dir auch noch etwas mitgebracht«, deutete sie an, während sie drei Bücher hervorzog. »Liest du, meine Kleine? Ich meine nicht, ob du lesen kannst, sondern ob du es tun wirst. Dann hätte ich diese Bücher für dich. Sie werden dir einen Einblick in eine andere Perspektive verschaffen.« Wie ich erkennen konnte, waren es Bücher von Abraham Lincoln, Nick Vujicic und Anne Frank.

Obwohl es eine so außergewöhnliche Situation war, fühlte es sich für mich in diesem Moment sehr vertraut an. Auf einmal waren all meine Sorgen, Ängste und Trauer vergessen. Irgendwas in mir sagte: Vertraue dieser Frau!

»Eigentlich lese ich keine Geschichtsbücher«, erklärte ich, »aber ja, ich lese.« Etwas zögerlich nahm ich die Bücher entgegen.

»Lies sie in Ruhe«, sagte Samira. »Wir sehen uns in ein paar Tagen, und dann schaue ich, wie es dir mit den Büchern ergangen ist. Nun muss ich mich auf den Weg machen, eine alte Frau braucht ihre Erholung.« Noch während sie das sagte, ging sie in Richtung der Sträucher.

»Wie und wo sehen wir uns?«, rief ich ihr hinterher, aber sie war schon verschwunden.

Was für eine seltsame Begegnung …

Ich blieb noch eine Zeit lang am Wasser sitzen, schlug das Buch von Abraham Lincoln auf und fing an zu lesen. Und dann las ich und las und las – bis ich plötzlich feststellte, dass es dunkel wurde.

In den nächsten Tagen las ich ein Buch nach dem anderen und war so was von berührt und bewegt von den Geschichten. Alle drei Hauptfiguren hatten schwere Schicksalsschläge und Niederlagen hinnehmen müssen. Und alle waren wieder aufgestanden und hatten mit Erfolg ihr Schicksal in die Hand genommen.

Zwar lenkte mich das Lesen ab, jedoch ging es mir zwischendurch ziemlich schlecht. Ständig musste ich weinen, meine Mutter fehlte mir so sehr. Jetzt noch mehr als vor der Mitteilung, dass mein Vater so krank sei. Ich konnte nun nicht mal mehr mit meinem Vater reden. Die Ärzte hatten gesagt, er brauche Ruhe.

Nachmittags kam meine Tante Sabine vorbei, um mir etwas zu essen zu kochen. Als ich sie wie so oft fragte, wann mein Vater endlich gesund werden würde, nahm sie mich in den Arm, begann zu weinen und meinte nur: »Nie mehr, kleine Ilona. Nie mehr.«

Ich fing an zu schreien, tobte und weinte vor Verzweiflung. Wo sollte ich nur hin? Ich war doch ganz allein! Wieder bewegten mich diese Gedanken. Niemand mehr da, der mich wollte. Abermals kam mir die Talbrücke in den Sinn. Ich sollte springen, dann wäre alles vorbei.

Wie aus dem Nichts fiel mir irgendwann diese sonderbare Samira wieder ein. Tagelang lief ich durch den Wald, über die Wiesen, vorbei an dem Bachlauf, um sie zu suchen. Ich hatte ja noch ihre Bücher und gleichzeitig so viele Fragen. Fragen, die ich ihr stellen wollte. Ich hatte keine Ahnung, warum gerade sie diejenige war, von der ich mir Antworten erhoffte, aber ich suchte sie überall. Fragte meine Tante, ob sie die alte Frau kenne. Doch leider konnte sie mit meiner Beschreibung nichts anfangen und kannte niemanden mit dem Namen Samira.

Nach über einer Woche hörte ich plötzlich im Stadtpark eine Stimme hinter mir. »Na, du Leseratte!«

Ich wusste sofort, dass Samira zu mir gekommen war, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich mich zu ihr umdrehte.

»Was macht die Perspektive, Ilona?«, erkundigte sie sich augenzwinkernd.

Statt zu antworten, schoss es aus mir heraus: »Ich habe Sie überall gesucht!«

»Junge Frau, sind wir nicht Freunde? Ich bin Samira, das sagte ich dir doch bereits, und Freunde darf man schließlich duzen, oder? Schon vergessen?«

Ich fand es ungewöhnlich, mit »junge Frau« angesprochen zu werden. Und eine so alte, fremde Frau zu duzen, kam mir sonderbar vor. Aber irgendwie gefiel es mir auch. Genauso wie mir diese fremde Frau gefiel, sie hatte etwas Nettes, Sympathisches und gleichzeitig Magisches an sich, das ich mir nicht erklären konnte.

»Die Perspektive?«, fragte ich nur und sah sie mit großen Augen an.

»Hast du die Bücher, die ich dir gegeben habe, schon gelesen? Ich habe dir nämlich weiteren Lesestoff mit gebracht.« Samira hielt mir, ohne auf meine Antwort zu warten, drei neue Bücher hin.

Ich nickte und dankte ihr. Wieder musste ich über den außergewöhnlichen und knallig roten Rucksack schmunzeln, aus dem sie die Bücher hervorgekramt hatte.

»Hast du beim Lesen eine neue Perspektive gewonnen und etwas aus den Büchern gelernt?«, wollte sie wissen.

»Ja«, ich nickte, »die Geschichten waren beeindruckend. Obwohl die jeweiligen Hauptfiguren von sehr schweren Schicksalsschlägen getroffen waren, schienen sie alle ihr Leben zu lieben.«

»Dann lies diese drei, und du erhältst noch mehr Perspektive. Man muss das Leben manchmal aus einer anderen Perspektive sehen, junge Frau.«

Wieder dieses »junge Frau«. Eine Anrede, die ich später noch öfter zu hören bekommen sollte, aber das ahnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Samira reichte mir die Bücher. »Ich habe sie in der Bücherei ausgeliehen. Du kannst sie nach dem Lesen zusammen mit den anderen dort wieder abgeben. Ich muss nun weiter, liebe Ilona, ich werde von einer Freundin erwartet. Viel Spaß beim Lesen!« Mit diesen Worten ging sie in Richtung Parkausgang.

Zunächst etwas sprachlos, schaute ich ihr hinterher, aber dann klemmte ich mir die Bücher unter den Arm, setzte mich unter einen großen Baum und fing an zu lesen.

Das erste Buch erzählte die Geschichte von einem armen kleinen Jungen in Afrika, der schon früh auf dem Feld arbeiten musste und deshalb sehr oft nicht zur Schule gehen konnte. Das zweite Buch war von Mark Twain und das dritte von Christoph Kolumbus.

Ich verschlang die Bücher regelrecht, konnte nicht aufhören zu lesen. Sie faszinierten mich und ich gewann mit meinen nicht mal siebzehn Jahren einen anderen Blick auf das Leben und auf mein eigenes Schicksal. Der Gedanke an die Talbrücke kam mir nur noch ein paarmal und war schließlich gänzlich verschwunden. Diese Menschen, von denen ich in den Büchern las, hatten ebenfalls schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen und hatten damit so bewundernswert gelebt oder leben zum Teil noch immer und wurden auf ihre Weise zu großen Vorbildern für mich.

Nach ein paar Wochen zog ich zu meiner Tante, die sich wirklich liebevoll um mich und auch um meine Trauer kümmerte. Das veränderte mein Leben sehr, aber ich spürte die Liebe, die sie mir entgegenbrachte.

Immer wieder hielt ich in den Wochen, Monaten und Jahren Ausschau nach dieser besonderen Frau. Der Frau, die mir gezeigt hatte, dass kein Schicksal so groß ist, dass es sich lohnt, von der Brücke zu springen. So oft dachte ich in den folgenden Jahren an Samira, sah sie aber nicht wieder.

Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens

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