Читать книгу Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens - Ilona Friederici - Страница 6
ОглавлениеNICHTS IST MEHR, WIE ES EINMAL WAR
Noch im Halbschlaf hörte Leni den Radiowecker angehen. Sie spielten »Keine Zeit« von Tim Bendzko. Ja, ich würde jetzt auch am liebsten im Bett liegen bleiben, wie der Tim es singt, dachte sie kurz, wusste aber sofort, dass das nicht möglich war. Ihr Blick ging nach links, zur anderen Betthälfte. Sie war leer. Sofort kamen die Erinnerungen an den vergangenen Abend. Ihr Mann war sehr spät nach Hause gekommen und sie hatte sofort gespürt, dass etwas nicht stimmte. Und so war es auch gewesen. Sie hatte noch sehr lange wach gelegen, vielleicht gerade mal zwei Stunden geschlafen.
Mit hämmerndem Kopf lag sie nun im Bett und der letzte Abend lief wie ein Film noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. In ihrem Inneren klangen die Worte ihres Mannes nach: Er habe sich in eine andere Frau verliebt und wolle demnächst ausziehen. Wie betäubt und geschockt hatte sie vor ihm gesessen, zunächst unfähig, irgendetwas zu sagen.
Jetzt schaute sie noch einmal auf die andere Bettseite und ihr war klar, es war kein Traum. Es war wirklich passiert.
Wie in Trance stand sie nun langsam auf. Die Kinder mussten ja geweckt und das Frühstück vorbereitet werden. Als sie am Wohnzimmer vorbeikam, sah sie, dass ihr Mann, der die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte, schon aufgestanden war. Wie benebelt schlich sie in Richtung Küche. Seine Schuhe standen nicht mehr, wie um diese Tageszeit üblich, im Flur vor der Eingangstür. Er war also schon los zur Arbeit. Sie fühlte sich gerädert, schlapp und irgendwie ausgelaugt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch Leni musste sich um die Kinder kümmern. Wie automatisiert ging sie zunächst ins Bad, um sich, so gut es ging, die verheulten Augen zu überschminken, bevor sie zu den Kindern hochging und sie liebevoll weckte, wie sie es jeden Morgen tat. Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Dienstagmorgen. Aber das war es nicht. Tief in ihrem Inneren wusste sie genau, dass ab heute nichts mehr sein würde, wie es einmal gewesen war.
Nachdem sie mit den Kindern gefrühstückt hatte – oder besser gesagt mangels Appetit nur den Kindern das Frühstück zubereitet hatte und sie nun auf dem Weg zur Schule waren –, sackte Leni auf dem Küchenstuhl zusammen. Die Tränen rannen ihr nur so übers Gesicht. Verzweiflung und Ratlosigkeit machten sich in ihr breit. Was habe ich falsch gemacht?, hämmerte es immer wieder durch ihren Kopf. Ein Gedanke nach dem anderen beschäftigte sie. Was ist passiert? Wie konnte das geschehen? Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
Nach einer ganzen Weile wurde ihr klar, dass sie hier nicht sitzen bleiben konnte. Sie konnte nicht, wie Tim Bendzko es gesungen hatte, »einfach frei machen«. Sie hatte eine Arbeit und es warteten Verpflichtungen auf sie, die sie einhalten musste.
Kurz überlegte sie, ob sie ihren Mann anrufen sollte, stieg dann aber doch die Holztreppe hinauf, um zu duschen. Eine gefühlte Ewigkeit ließ sie das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln. Versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Aber das Bauchkneifen ging genauso wenig weg wie die vielen quälenden Fragen. Besonders die Frage danach, was sie getan, ja was sie falsch gemacht hatte. Am vorherigen Abend hatte sie ihrem Mann diese Fragen bestimmt acht Mal gestellt, aber er hatte immer wieder beteuert: »Nichts, du hast nichts falsch gemacht. Es ist einfach passiert.«
Einfach passiert, dachte sie. »So was passiert doch nicht einfach!«, sprach sie ihren Gedanken nun laut aus.
In Gedanken versunken begann sie sich abzutrocknen und das rot geschwollene Gesicht und die Augen ein weiteres Mal, so gut es ging, zu schminken. Ja, sie konnte ein wenig von ihrer Traurigkeit kaschieren, aber wer genau hinsah, erkannte die dicken Augenringe. Doch es nützte nichts, sie musste sich langsam fertig machen. Im Büro erwartete man sie, und sie wusste, dass dort viel zu tun war.