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3. Kapitel - Ankunft auf Huntington Castle
ОглавлениеHuntington Castle lag am Huntington Lake auf einer Anhöhe. Zwei mehrstöckige Flügel erstreckten sich seitlich bis zu Wäldern, dazwischen ragte das Haupthaus mit einem säulengetragenen Vordach auf. Davor war ein Park nach dem neuesten Geschmack angelegt. Eine Allee führte direkt hinauf. Xavier hielt sich nicht auf mit dem schönen Anblick des hellen Schlosses, dessen zahllose Fenster in der Morgensonne aufblitzten, sondern trieb sein Pferd an. In den letzten Wochen hatte er sich so vollkommen in die Rolle eines Jean Pierre hineinversetzt, dass er beinahe selbst glaubte, es zu sein. Sein Leben als Leibdiener Xavier lag weit hinter ihm - es erschien ihm nur noch wie eine sonderbare Geschichte aus seiner Kinderzeit. Nun wollte er die Früchte seiner Arbeit ernten. Schon lange Jahre hatte er genau aufgepasst, hatte gelernt, sogar heimlich vor einem Spiegel die Gesten und Haltungen seines Herrn imitiert und einstudiert. Zuerst hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, hatte die feinen Gesten parodiert, ins Lächerliche gezogen und dabei eine hämische Freude empfunden. Ja, er hatte diese kleinen Übungsstunden immer genossen, nachdem er festgestellt hatte, dass allein die Haltung - eine Mischung aus Lässigkeit und Strenge - ihm das Gefühl von Überlegenheit und Herrschaft einflößte.
Dieses Gefühl hatte er sich immer wieder ins Gedächtnis gerufen; beim Reiten, Gehen, Essen... bis er vollkommen eins war mit diesem Gefühl.
Es gab keine Wachen, die ihn aufhielten, keine Zäune, nicht einmal Hunde, die anschlugen. Die englische Aristokratie fühlte sich offenbar sicher. Er ritt bis vor das große Portal, schritt ein paar Stufen hinauf und stand zwischen den Säulen, die das ausladende Vordach trugen. Wenn alles gut lief, würde das alles einmal ihm gehören. Ihm! Dem kleinen Xavier, dem Leibdiener des Duc de Valmont. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er kurz an seinen Vater dachte, der ihn ganz im Geiste des ewigen Dienens erzogen hatte. Dann straffte sich Xavier ein letztes Mal, um nun ganz und gar Jean Pierre, Duc de Valmont, zu sein.
Gerade wollte er klopfen, da wurde ihm die Haustür bereits aufgetan. Ein Butler erschien; sein Name war Hudson, wenn es noch derselbe war, den der Earl of Huntington in seinen Briefen erwähnt hatte.
„Sie wünschen?“
„Hudson? Sie sind Hudson, nicht wahr?“
Xavier merkte, dass dies wohl ein Fehler gewesen war. Einerseits hatte er zeigen wollen, dass er vertraut war mit den privaten Angelegenheiten des Earls, aber hier war er wohl doch etwas zu voreilig gewesen. Sofort sank er ein wenig in sich zusammen und sagte mit leiser Stimme: „Verzeiht die kleine Vertraulichkeit; nach meinen schrecklichen Erlebnissen in Frankreich bin ich überglücklich, einen zivilisierten Menschen zu treffen, der meiner Familie wahrhaftig treu dient. Ich bin Jean Pierre, Duc de Valmont. Ich möchte meinen Onkel sprechen.“
„Sehr wohl.Tretet ein und wartet bitte hier im Salon.“
Xavier folgte Hudson in einen Salon. Als der Butler verschwunden war, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Nun kam der entscheidende Moment, von dem alles abhing; nicht nur Reichtum oder Armut, sondern auch Leben oder Tod. Er hörte Schritte. Es waren die energischen Schritte eines mächtigen Mannes. Und dann stand der Earl of Huntington in der Tür: ein großgewachsener Mann, der die Fünfzig überschritten hatte. In seinen Gesichtszügen hatten sich Macht, Herrschaft und Reichtum von Generationen eingegraben, doch lag auch etwas Mildes in seinen Augen.
„Jean Pierre!“ rief er und breitete seine Arme aus. Xavier ließ es geschehen, dass der Earl ihn in die Arme nahm. In diesem Moment löste sich seine Anspannung und er konnte nur noch leise weinen.
„Ich danke Euch, Mylord. Ich bin so glücklich, endlich hier zu sein.“ Der Earl hielt ihn nun auf Armeslänge von sich; forschend schaute er ihm ins Gesicht. „Lassen Sie sich anschauen!“ Xavier hielt seinem Blick nicht stand, doch seine Tränen waren eine willkommene Ausrede: „Vergebt mir, Euer Gnaden; Ihr habt sicher schon gehört, was in Frankreich vor sich geht.“
„Aber ja! Wir haben uns schon die größten Sorgen gemacht. Kommen Sie, setzen Sie sich und berichten Sie mir.“ In diesem Moment betrat Lady Dorothy den Raum.
„Jean Pierre, sind Sie es wirklich? Ich kann es kaum glauben, dass Sie dieses Grauen überlebt haben. Uns haben die schrecklichsten Nachrichten erreicht. Sagen Sie uns, steht es wirklich so schlimm in Frankreich?“
Lady Dorothy war nur wenig jünger als ihr Gemahl, aber noch immer eine schöne Frau. Als sie sich neben Xavier setzte, nahm sie seine Hände in ihre und schaute ihn sehr mitfühlend an.
„Jean Pierre! Mein Gott, ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Ängste wir hier ausgestanden haben.Wir haben so viele Briefe geschrieben, aber keine Antwort mehr bekommen. Immer haben wir Ausschau gehalten, nicht wahr, mein Gemahl? Immer haben wir gehofft, dass Sie alle den Weg zu uns schaffen. - Dürfen wir denn annehmen, dass Sie die Vorhut sind und die Familie noch nachkommt?“ Ihre Stimme hatte etwas Flehendes.
Xavier senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Es tut mir so schrecklich leid, Mylady. Ich bin der einzige Überlebende. Meine Eltern, meine Schwester, mein Onkel Charles und die Tante...“ Xavier schluchzte auf und wunderte sich ein wenig über sich selbst, wie gut ihm die Vorstellung gelang. Dankbar nahm er den Whisky, den der Earl ihm hinhielt.
„Mylady!“ flüsterte der Earl liebevoll und legte seiner weinenden Gemahlin die Hand auf die Schulter. Auch er kämpfte mit den Tränen.
„Nun, Jean Pierre, berichten Sie uns.Wir wollen wissen, was geschehen ist, wie unsere Lieben gestorben sind.“ Seine Stimme klang bemüht fest.
„Sie kamen mitten in der Nacht“, begann Xavier, dann schwieg er für eine Weile, als ringe er um Fassung und nahm einen Schluck. „Es waren hunderte von Revolutionären. Sie kamen mit Fackeln, mit Spießen. Wir hofften zunächst, dass wir uns gegen diese Übermacht wehren könnten und verschanzten uns mit ein paar Dienern, die wir für treu hielten.“ Wieder hielt er inne, legte eine Hand über die Augen und atmete schwer. Als er die Hand der Lady so sanft auf seiner zitternden Schulter spürte, ermannte er sich und fuhr fort: „Die Frauen hatten wir gut im Keller versteckt; dort würde man sie so schnell nicht finden - glaubten wir. Dann sind Vater und ich mit den Dienern der Meute entgegengegangen. Wir wollten um jeden Preis die Frauen schützen.Wir hätten uns sicher verteidigen können, wenn nicht...“ - Wieder musste Xavier seine Rede unterbrechen, weil er den Schmerz so anschaulich wie möglich darstellen wollte. - „... wenn nicht die eigenen Diener die Hand gegen uns erhoben hätten. Sie erschlugen meinen Vater, schlugen mir ebenfalls mit einem Knüppel auf den Kopf. Ich ging zu Boden. Sie ließen mich für tot liegen, aber ich kam wieder zu mir und konnte mich davon schleppen. Im Schutz der Nacht schlich ich in den Keller, doch da waren Mutter und Madeleine schon tot. Meine süße, kleine Madeleine.“
Er schluchzte sehr ausdauernd.
„Unbemerkt konnte ich mich in den Stall schleichen, wo ich mir eigenhändig ein Pferd sattelte, um zu Onkel Charles zu reiten. Ich hoffte, Onkel Charles warnen und ihn um Hilfe bitten zu können. Doch als ich dort ankam, standen von seinem Schloss nur noch rauchende Trümmer.“ Xavier brach erneut in Tränen aus.
„Jean Pierre, mein armer Junge!“ Die Lady war zutiefst erschüttert.
„Wisst Ihr, ich mache mir so schreckliche Vorwürfe. Ich dachte wirklich, meine Mutter und die kleine Madeleine wären im Keller sicher. Wenn ich dort geblieben wäre, dann hätte ich sie vielleicht retten können.“
„Das hätten Sie wahrscheinlich nicht. Seien Sie dem Himmel dankbar, dass er Sie gerettet hat.Wir sind dankbar, dass wenigstens Sie uns geblieben sind. So gerne hätte ich meine Schwester einmal wieder gesehen und die kleine Madeleine kennengelernt.“
Xavier schluchzte heftig auf, als Madeleines Name fiel.
„Madeleine war so lieblich, Ihr könnt Euch kaum vorstellen, wie hübsch sie war. Sie sah Mutter sehr ähnlich. Sie sang und spielte Klavier, Flöte und Geige. Dass ich sie nun nie mehr hören kann... Es bricht mir das Herz.“
„Unfassbar! Man muss doch etwas dagegen tun können!“
„Aber was, meine Liebe? Unser König müsste Frankreich den Krieg erklären. Das wird er nicht tun. Mit den Bourbonen stand er nie auf vertrautem Fuß. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er eine Flasche extrafeinen Champagner getrunken hat, als er von der Absetzung hörte. - Stimmt es, dass man den König gefangen genommen hat und hinrichten will?“
„Das weiß ich nicht. Aber zuzutrauen wäre es den Revolutionären. Ihr glaubt nicht, wie ruchlos diese Leute sind. Als Menschen kann ich sie nicht bezeichnen. Viel eher als tollwütiges Vieh. Das Schloss war übrigens nicht vollkommen ausgebrannt. Ich konnte noch ein paar Dinge retten, wie ein kleines Bündel Briefe, das Ihr meiner Mutter geschrieben hattet. Ich trage es immer bei mir.“ Er holte es hervor und reichte es der Lady, die es wie einen kostbaren Schatz in ihre Hände nahm. Mit einer zärtlichen Geste faltete sie das Papier auseinander und schluchzte auf. Erneut legte der Earl seine Hände auf ihre Schultern.
Xavier wartete eine Weile, bis Lady Dorothy sich wieder gefasst hatte, dann fuhr er fort: „Wisst Ihr, auf meiner Flucht habe ich mich von den Menschen ferngehalten - zumindest solange ich noch in Frankreich war. Allerdings wurde ich kurz vor der Überfahrt überfallen. Diese Räuber konnten mir nicht mehr viel wegnehmen, allerdings haben sie mir einen Teil der Briefe gestohlen, die ich aus dem Schloss gerettet hatte. Das schmerzt mich mehr als der Verlust des Geldes. - Glücklicherweise haben sie nicht alle gefunden. Einen Teil der Briefe und des Geldes hatte ich an meinem Körper verborgen. Ach! Hätten sie mir doch nur sämtliche Kleider vom Leib gestohlen! Hier in England sind die Verhältnisse stabil und die gottgewollte Ordnung wird hier nichts zerstören.“
„Jean Pierre! Wie schrecklich. Wie müssen alle diese Ereignisse Sie erschüttert haben.“
Hudson erschien und fragte mit einer Verbeugung, ob er das Frühstück servieren dürfe.
„Sicher, Hudson. Und legen Sie ein Gedeck mehr auf. Der Duc de Valmont ist unser Gast.“
„Dies habe ich bereits veranlasst, Mylord. Ebenso habe ich mir erlaubt, das Gästezimmer richten zu lassen.“
„Gut, Hudson. Möchten Sie sich erst etwas frisch machen, Jean Pierre?“
„Danke. Es wird nicht lange dauern.“
„Hudson, führen Sie den Duc de Valmont in sein Zimmer. - Haben Sie Gepäck, Jean Pierre?“
„Lediglich meine Satteltaschen, aber sie sind so gut wie leer.“
„Hudson, lassen Sie die Satteltaschen ins Gästezimmer bringen. Das Frühstück servieren Sie in einer halben Stunde.“
Mit einer Verbeugung ging Hudson; Xavier nickte dankbar und folgte ihm.
„Der arme Junge!“ flüsterte Lady Huntington, nachdem Hudson die Tür geschlossen hatte.
„Schrecklich!Was für ein Grauen. Man darf es sich gar nicht vorstellen, was sich dort abgespielt hat.“
„Wir müssen froh und dankbar sein, dass wenigstens er überlebt hat. Wir wollen ihn über seinen Verlust so rasch wie möglich hinwegtrösten und ihm nun Vater und Mutter sein. - Wie sehr haben wir uns immer Kinder gewünscht. Nun haben wir einen Sohn, aber auf diese Art und Weise habe ich es mir nicht gewünscht.“ Sie schaute verzweifelt zu ihm auf. Da setzte er sich zu ihr, um sie in seinen Armen weinen zu lassen.
*
Xavier, der ‚arme Junge’, ließ sich aufs Bett fallen und musste gewaltsam einen Freudenschrei unterdrücken. Hier war er! Er, der kleine Xavier. Er hatte es geschafft! Er schaute sich in seinem Zimmer um, in das die Morgensonne wie die Ankündigung einer strahlenden Zukunft floss. Das Himmelbett hatte seidene Vorhänge, die Vertäfelung der Wände war von Meisterhand gefertigt, sogar ein Gobelin schmückte den Raum. Warmes Wasser stand in einem Porzellankrug bereit, daneben eine große Schüssel aus Porzellan. Xavier bediente sich dieser Dinge nun mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er nie etwas anderes getan. Es war, als lebe er nun im Spiegelbild. So oft hatte er seinem Herrn alles bereitgelegt, ihn umsorgt, ihm jeden Handgriff abgenommen. Nun war er es, der die Dienste eines anderen beanspruchen durfte.
Eine Stunde später saß er mit Onkel und Tante Huntington an der Tafel und ließ sich das englische Frühstück schmecken. Die beiden trugen bereits Trauerkleider. Bei diesem Anblick bat Xavier um Entschuldigung, dass er selbst nur einen Trauerflor trage - er habe so unauffällig wie möglich reisen wollen.
Der Earl ließ sich genau berichten, wie die Reise verlaufen war, wobei Xavier durchaus bei der Wahrheit blieb. Ja, er hatte sich in zerlumpten Kleidern zunächst bis an die Küste durchgeschlagen, dann ein Schiff nach England bestiegen und sich erst dort wieder mit standesgemäßer Kleidung und einem Pferd versorgen können.
„Ihr Tuch ist sehr auffällig, finden Sie nicht?Trägt man das so in Frankreich?“ Xavier schaute etwas beschämt auf das bunte Tuch, das er sich so fein in den Ausschnitt seines Hemdes drapiert hatte; er wusste, er durfte keinen Fehler machen, nicht einen einzigen.Wenn erst einmal der Funke des Misstrauens entfacht war, dann konnte schnell ein Feuer daraus werden.
„Ja, in Frankreich ist es so Mode. Hier trägt man dezentere Tücher?“
„Vor allem in Zeiten der Trauer“, erwiderte der Earl und ließ seine Worte noch eine Weile im Raum hängen, während er seinen Gast eindringlich musterte. Der junge Mann schlug die Augen nieder, worauf sich der Earl im Geiste eine Notiz machte. Er wollte unbedingt Erkundigungen einziehen lassen. Er musste erfahren, was in Frankreich wirklich passiert war.
„Ach, nehmen Sie noch etwas Fasan, lieber Jean Pierre. Sie sind sicher ganz verhungert“, forderte Lady Dorothy ihn auf. Dankbar griff er zu. Noch immer spürte er den Blick des Earls auf sich ruhen. Er konnte hier nicht die ganze Zeit bleiben, sondern musste einen neuen Plan fassen.
„Ich möchte Eure Gastfreundschaft nicht unnötig strapazieren. Meine Mutter erzählte mir immer wieder von den vielen Häusern, die die Familie besitzt, von den Ländereien. Ich könnte mich nützlich machen, denn mein Vater hat mir viel beigebracht, was Verwaltung angeht.“
„Ja, einen tüchtigen Verwalter könnten wir in der Tat gebrauchen. Ich schlage vor, Sie erholen sich heute noch von den Strapazen Ihrer Reise, und ich werde morgen mit Ihnen über unsere Besitzungen reiten, um Ihnen alles zu zeigen. Sind Sie einverstanden ... Jean Pierre?“
„Sehr gerne, Mylord.“
Xavier war fest entschlossen, seine Rolle als Jean Pierre vollendet zu spielen. Er musste das Vertrauen der beiden Herrschaften gewinnen; also gab er sich ihnen gegenüber eher bescheiden. Wenn er sich als Verwalter bewährte, vielleicht sogar unentbehrlich machte, dann würde der Earl aufhören, ihn so streng zu mustern. Gleichzeitig war ihm klar, dass er nichts übertreiben durfte. Er musste nach wie vor genau beobachten, imitieren, dabei auf keinen Fall als ein Beobachtender erkennbar sein, sondern mit dem Selbstbewusstsein der herrschenden Klasse auftreten.
Am nächsten Morgen stand er mit blanken Reitstiefeln, einem eleganten Rock, zu dem der Zylinder hervorragend passte und einem dezenten Halstuch, das ihm Lady Dorothy zugesteckt hatte, vor den Stallungen und wartete auf den Earl. Der Stallmeister wollte ein Gespräch mit ihm beginnen, doch er wandte sich mit emporgezogenen Augenbrauen ab.
Dies bemerkte der Earl, der soeben mit federnden Schritten ankam.
„Michael, ich hoffe, Sie haben uns zwei Pferde gesattelt, wie ich Sie gebeten hatte?“
„Sicher, Mylord. Für Euch wie immer Belle, und für Euren Neffen habe ich Thunder gesattelt, wie befohlen.“
„Ich danke Ihnen, Michael.“ Ein Stallbursche führte zwei prächtige Pferde in den Hof. Xavier schluckte beim Anblick des Pferdes, das er nun reiten sollte.Thunder war ein riesiger Schimmel, eines Earls würdig. Der Earl saß trotz seines Alters mit Schwung auf; Xavier folgte seinem Beispiel.
„Geht es Ihrer Frau denn besser, Michael?“ erkundigte sich der Earl, während er sich im Sattel zurechtrückte.
Michaels Augen leuchteten, als er zu seinem Herrn aufschaute. „Ja, Mylord. Der Arzt, den Ihr geschickt habt, hat ihr eine gute Medizin gegeben. Schon am Tag danach ging es ihr besser und heute früh konnte sie schon wieder aufstehen. Ich danke Euch vielmals, Mylord, und soll Euch natürlich auch besten Dank und herzlichste Grüße von meiner Frau ausrichten.“
„Das freut mich sehr Michael. Grüßen Sie Ihre Frau und die Kinder.“
Auch Xavier wollte dem Stallmeister nun freundlich zunicken, aber nun war es an diesem, eine Augenbraue zu heben, wenn auch nur kurz. Xavier richtete sich im Sattel auf und folgte dem Earl hinaus in die Allee, durch die er am Abend zuvor geritten war. Der Stallbursche mochte ihn nicht, das spürte er - aber wer war schon dieser Stallbursche. Mit ihm würde er nichts zu schaffen haben, und wenn, würde er ihm lediglich Befehle erteilen.
Xavier fühlte sich ganz und gar als Jean Pierre. Seine Brust weitete sich bei dem Gedanken, dass alles, was er hier sah - dieses Land so weit das Auge reichte, der Wald, der See, das Schloss - einfach alles, eines Tages ihm gehören würde. Eine Landschaft in Frankreich konnte kaum lieblicher sein als dieses Stück Erde, mit seinen sanften Hügeln, vorzüglichem Weideland, Wäldern voller Hirsche, die nur darauf warteten, geschossen zu werden. In den kleinen Flüssen tummelten sich sicher unzählige Fische. Es kostete Xavier einige Mühe, nicht danach zu fragen, wie viel Korn man in diesem Jahr auf den Feldern geerntet hatte. Dieses Land warf sicher mehr als zehntausend Pfund jährlich ab, so schätzte er.
In den folgenden Tagen nahm er am Leben des Earls teil - als dessen Neffe und Nachfolger, wie er sich selbst schon sah. Gemeinsam ritten sie durch die Huntington’schen Besitzungen - was ganze Tage in Anspruch nahm - um sich von den Verwaltern Bericht erstatten zu lassen. Alles war in bester Ordnung. Das Wetter war warm und sonnig, wie geschaffen für eine üppige Apfelernte, überall waren die Bauern mit ihren Wagen unterwegs und grüßten die beiden hohen Herren ehrerbietig.
„Ihr seid sehr gütig zu Euren Untergebenen“, sagte Xavier, als sie ein Stück weit geritten waren.
„Ja, das bin ich. Das ist so Tradition in unserer Familie. Hat meine Schwester Ihnen das nicht beigebracht, Jean Pierre?“
Xavier schluckte ein bitteres Lachen hinunter. „Natürlich. Mein Vater hat mir auch immer eingeschärft, die Untergebenen gut zu behandeln. Schließlich kann man ruhiger schlafen, wenn man loyale Diener um sich hat.Aber wie Ihr seht, hat es uns nichts genützt. Unsere eigene Dienerschaft hat sich gegen uns erhoben. Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Ich hoffe nur, dass dies in England nicht passieren wird.“
„Das hoffe ich auch. Seien Sie versichert, dass wir unsere Privilegien mit Argusaugen bewachen und nicht dulden, dass sich ein Unwürdiger einschleicht.“
Xavier schwieg und blickte geradeaus, wo die Brücke in Sicht kam, von der er Madeleine in den Tod gestoßen hatte. Auf der Brücke hielten sie an. Flussabwärts war in Sichtweite eine Furt, wo gerade ein Schäfer seine Schafe tränkte und hindurchführte.
„Ein schöner Anblick, nicht wahr?“ sagte der Earl. Das Blöken der Schafe schallte durch den klaren Morgen, das Wasser spritzte hoch auf, als die Hunde die Herde weitertrieben. Wie eine Welle aus wolligen Leibern wogte die Herde durch den Fluss und setzte ihren Weg am anderen Ufer fort. Das Wasser, das sich die Tiere aus dem Fell schüttelten, funkelte in der Sonne. Nun kam der dazugehörige Schäfer über die Brücke, wobei er die beiden Herren mit einer tiefen Verbeugung grüßte.
„Guten Morgen, Giles! Wie viele Lämmer hat die Herde?“
„Guten Morgen, Mylord. Drei Dutzend Lämmer haben wir in diesem Jahr. Alle sind durchgekommen. Hab nicht ein einziges verloren.“ Der Schäfer lachte stolz. „Einen schönen Tag wünsche ich den Herren! Mylord!“ Mit einer weiteren Verbeugung verabschiedete er sich.
„Dieser Fluss hat besonders gute Forellen. Die Fischer bringen sie frisch geräuchert zu mir. Sie verstehen ihr Handwerk; die Fische sind köstlich. - Jean Pierre, ist Ihnen nicht wohl?“
„Doch, doch, Mylord“, stammelte Xavier, den beim Anblick der Furt eisige Angst gepackt hatte. „Ich wunderte mich nur gerade, wieso in der Nähe dieser Furt eine Brücke gebaut wurde.“
„Damit meine Schäfer keine nassen Füße kriegen, wenn die Herde durch die Furt muss. - Nein, ohne Scherz! Die Furt ist im späten Herbst und Winter nicht gangbar. Wenn es stark regnet, wird dieser kleine Fluss zu einem reißenden Ungetüm. Deshalb habe ich hier die Brücke bauen lassen.“
„Eure Umsicht ist beeindruckend, Mylord. Ich sehe, ich muss mein Allerbestes geben, wenn ich Euch noch unterstützen will, da alles schon so wohl durchdacht und geordnet ist.“
„Ach, Jean Pierre, zu tun gibt es immer viel. Für heute soll es genug sein; lassen Sie uns nach Hause reiten.“
Xavier blickte noch einmal zum Fluss zurück, wo eben noch die Schafe durch die Furt gegangen waren. Das Wasser hatte ihnen kaum bis zu den Bäuchen gereicht. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er angestrengt die Landschaft absuchte, als könne Madeleine hinter jedem Busch hervortreten. In der Nacht, als er Madeleine getötet hatte, war von der Furt nichts zu sehen gewesen. Hatte sich ihre Leiche dort irgendwo im Geäst verfangen?Was, wenn sein Schuss Madeleine verfehlt hatte?Wenn die Kugel sie nur gestreift hatte, könnte die Furt sie gerettet haben. Aber er hatte sie doch untergehen sehen! Dennoch musste er sichergehen, dass sie tot war.
Jenseits des Flusses, ein Stück die Straße hinunter, sah Xavier eine Ansammlung von Häusern und Gehöften; sogar ein trutziger Kirchturm, wie sie für England typisch sind, ragte zwischen den meist strohgedeckten Häusern auf.
„Wie heißt der kleine Ort dort drüben? Er sieht sehr idyllisch aus.“
„Das ist Clifford. Ein hübscher Ort, da haben Sie recht. Wenn Sie wollen, können wir einen kleinen Umweg machen.“
Etwas zu schnell erwiderte Xavier: „Nicht nötig. Ich habe ihn auf meinem Weg zu Euch bereits durchquert. Wir kommen sicher noch öfter hier her und werden dann mehr Zeit haben, damit ich mir den Ort bei Tageslicht anschauen kann.“
Der Earl warf einen Blick auf das Dorf, wo der Rauch friedlich aus den Schornsteinen in den Himmel stieg. Was hatte es mit diesem Ort, mit der Furt, auf sich, dass dieser Jean Pierre so sonderbar nervös wurde?