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2. Kapitel - Der Weg nach Huntington
Оглавление„Ich kann nur hoffen, dass Onkel Charles die Flucht gelungen ist“ stieß Madeleine düster hervor, als sie vor dem ausgebrannten Schloss des Onkels standen.
„Bis nach Harfleur sind es von hier aus nur ein paar Meilen. Er könnte schon nach England geflohen sein“, vermutete Xavier. „Lasst uns also weiterziehen.“
„Xavier, ich bin müde! Wir sind jetzt schon eine ganze Woche unterwegs, wir haben die Nächte in den Wäldern verbracht und kaum etwas Ordentliches gegessen. Können wir nicht eine Rast machen?“
„Wie Ihr seht, ist das Feuer schon aus und der Braten gegessen. Hier gibt es nichts mehr.“
Madeleine erschrak über Xaviers kalte Worte, aber er hatte natürlich recht. Hier gab es nichts mehr, außer der Gefahr, entdeckt zu werden; trotzdem ging Xavier nun hinein in das Schloss, aus dessen verkohltem Dachstuhl immer noch Rauch aufstieg. Er war noch keine drei Schritte gegangen, da hielt er inne. Die Familie war tot. Er atmete tief durch, bevor er rief:
„Bleibt draußen, Mademoiselle la Duchesse. Verbergt Euch dort zwischen den Büschen - für alle Fälle.“
Madeleine gehorchte. Im Grunde war sie froh, dass Xavier alles in die Hand genommen hatte. Sie war ohnehin zu nichts fähig und fühlte sich noch immer wie betäubt. Es dauerte nicht lange und er erschien mit ein paar verkohlten Dingen in der Hand, die Madeleine auf den ersten Blick nicht erkannte.
„Schaut, das ist ein wenig Fleisch, das in der Speisekammer übersehen wurde. Es ist nur außen verbrannt. Wir können die verkohlte Rinde abschneiden, dann haben wir etwas Ordentliches im Magen.“
Madeleine glaubte, noch nie etwas Köstlicheres gegessen zu haben, als sie das Stück Fleisch verschlang, das Xavier ihr hinhielt. Sie saßen im Gebüsch, schauten auf das ausgebrannte Schlösschen, und Madeleine kam es sehr sonderbar vor, dass sie vor zwei Wochen in einem seidenen Kleid, mit einer gepuderten Perücke an einer Tafel gesessen hatte. Damals hatte sie sich schrecklich darüber gegrämt, dass ihr Schönheitspflästerchen nicht halten wollte.Wie dumm und lächerlich war sie gewesen!
Als sie beide ihren ersten Hunger gestillt hatten, bemerkte Xavier ihre bedrückte Stimmung.
„Kommt, Mademoiselle la Duchesse. Kopf hoch! Erzählt mir mehr von Euren Verwandten in England.“
Wieder fragte er sie ganz genau nach allen Familienverhältnissen, wie sie mit wem verwandt war und richtete ihre Gedanken damit auf schöne Zeiten, in denen ihre Welt noch in Ordnung gewesen war.
„Und Euer Onkel Charles? Wie kam es, dass er auch nach Frankreich kam? Wenn ich Euch richtig verstanden habe, stammt er wie Eure Mutter aus England, nicht wahr?“
„Das ist richtig. Bei der Hochzeit meiner Eltern hat mein Onkel meine Tante Odile kennen gelernt. Bald darauf gab es wieder eine Hochzeit, und mein Onkel blieb hier. So kommt es, dass von den drei Geschwistern nur noch mein Onkel Robert, der Earl of Huntingdon, in England lebt.“
„Aber Euer Onkel Charles hätte seine Gemahlin doch auch nach England bringen können?“
„Onkel Charles ist der jüngste Sohn, und damit nicht erbberechtigt. Das Schloss, die Ländereien und das meiste Geld hat der älteste Bruder Robert bekommen. Tante Odile war die einzige Tochter ihrer Eltern und hat alles geerbt.“
„Das kam Eurem Onkel Charles sehr gelegen.“ Sie überhörte den leisen Spott in seiner Stimme.
„Ja, natürlich. Und zu Onkel Robert - also dem Earl of Huntigton gehen wir jetzt, nicht wahr?“
„Ja, Mademoiselle la Duchesse, das tun wir. Wisst Ihr eigentlich, wo Huntington liegt? Ich wüsste nicht, wie ich das finden soll.“
„Huntigton Castle, der Stammsitz der Familie, liegt im Nordosten von England. Die Schiffe legen in Dover an, wie mir meine Mutter erzählte; von Dover nach Huntington ist man mit einer Kutsche etwa vier Tage unterwegs. -Vorausgesetzt man hat keine Wartezeiten, muss keine Umwege fahren oder was sonst noch an Verzögerungen entstehen kann.“ Madeleine klang ganz weltmännisch, als habe sie diese Reise selbst schon oft gemacht.
„Dann könnten wir von Dover aus in spätestens einer Woche in Huntington sein.“
„Wie viel müssen wir für die Kutsche bezahlen? Eine so lange Reise wird nicht billig sein.“
„Ach,“ sagte Madeleine leichthin, „meine Mutter sagte immer, das sei ein lächerlicher Betrag, den man in England für die Postkutsche bezahlt. Sogar Bürgerliche fahren damit.“ Bei diesen Worten hob sie ihre Schultern, um die Nichtigkeit der Fahrtkosten zu unterstreichen. Xavier zog es vor, dies nicht zu kommentieren, sondern vermutete: „Dann werden wir wohl von Dover bis Huntington höchstens eine Woche brauchen.“
„Ja, das denke ich. Mein Onkel und meine Tante werden zwar sehr überrascht sein, mich zu sehen, aber ich bin sicher, dass sie mich bei sich aufnehmen werden, wenn ich ihnen alles erzähle.“
„Wäre es nicht sinnvoll, ihnen einen Brief zu schicken und sie auf Euer Kommen vorzubereiten?“ schlug Xavier vor.
„Wir werden mit der Postkutsche reisen. Da wird ein Brief nicht schneller da sein als wir selbst“, überlegte Madeleine. Dies schien auch Xavier nachdenklich zu stimmen. Nach einer Weile fragte er: „Und Euer Onkel Robert, hat er Söhne?“
„Nein, er hat leider gar keine Kinder.“
„Das muss sehr schrecklich sein für einen so hochgestellten Mann, wenn er niemanden hat, an den er all das, was er geschaffen und von seinen Vorvätern geerbt hat, weitergeben kann.“
„Nun, zunächst wären meine Mutter und mein Onkel an der Reihe gewesen, dann mein Bruder.“
„Euer Bruder?“ Hier schien Xavier sehr hellhörig zu werden.
„Ja, natürlich mein Bruder. Aber da er jetzt auch nicht mehr da ist, weiß ich nicht, an wen der ganze Besitz in England fallen wird, wenn mein Onkel nicht mehr lebt.“
„Ist es denn ein großer Besitz?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber ich nehme schon an, dass mein Onkel einen sehr großen Besitz hat. Meine Mutter hat immer wieder von verschiedenen Häusern, Landsitzen und Gütern erzählt, um die sich die Familie zu kümmern hatte. - Es gibt dort sicher Arbeit für Sie, Xavier. Ich werde meinem Onkel erzählen, wie tüchtig Sie sind, dann wird er Sie ganz bestimmt einstellen, obwohl Sie noch so jung sind. Und außerdem haben Sie mir das Leben gerettet.“ Madeleine war ganz begeistert von ihrer eigenen Idee und freute sich, auch etwas für Xavier tun zu können, doch Xavier schien nicht mehr zuzuhören.
„Xavier?“
„Ja?“
„Sie schweigen. Wären Sie denn nicht glücklich, für meinen Onkel zu arbeiten?“
„Aber ja, ja, natürlich wäre ich sehr glücklich. Aber ich weiß nicht, ob mein Englisch gut genug ist.“
„Dann werde ich Ihnen ganz intensiv Unterricht geben, und bis wir dort sind, sprechen Sie perfekt. Genau wie mein Bruder und ich.Was halten Sie davon?“
„Ja, das wäre großartig!“
Xavier hatte im Zimmer der alten Duchesse die Briefe gefunden, auch etwas Geld und Schmuck in dem Geheimfach, das Madeleine ihm beschrieben hatte. Das Geld würde sie nach England bringen, den Schmuck konnten sie dort verkaufen, um den Rest des Weges zu ihren Verwandten mit leidlicher Bequemlichkeit zurückzulegen. Xavier hatte alles so wohl durchdacht, und Madeleine war ihm dankbar, dass er sie mit Gesprächen über ihre Verwandten in England von ihrem Schmerz ablenkte. Er ließ sie alles erzählen, was sie wusste. Gemeinsam lasen sie eines abends bei einer Rast die Briefe, die der Onkel auf Englisch geschrieben hatte. Das war kein leichtes Unterfangen, denn im Schein ihres kleinen Lagerfeuers war die Schrift schwer zu erkennen, und der Onkel schrieb in sehr eigenwilligen Zügen. Madeleine erklärte Xavier Dinge, die er nicht verstand, weil er die beteiligten Personen nicht kannte oder ihr Onkel Dinge erwähnte, die die Mutter in vorherigen Briefen geschrieben haben musste.
„Wieso tun Sie das?“ fragte Madeleine einmal unvermittelt.
„Was?“ In Xaviers Frage lag ein leiser Schrecken, den er jedoch schnell überspielte, indem er sich von ihr abwandte und frische Äste aufs Feuer warf.
„Mich retten, mich trösten, in Sicherheit bringen?“
„Das Schicksal hat uns zusammengeworfen. Ihr seid ohne Familie, genau wie ich. Mein Vater hat Eurem Vater gedient, davor hat sein Vater Eurem Großvater gedient. Ich wüsste gar nichts anderes zu tun, als nun Euch zu dienen. Außer Euch habe ich niemanden mehr, und Ihr habt niemanden mehr außer mir. Da ist es doch nur natürlich, dass wir uns zusammentun, nicht wahr? Aber nun sollten wir uns nicht weiter mit dieser Trauer befassen“, sagte er mit einer wegwerfenden Geste. „Erzählt mir lieber mehr von Eurer Familie. Das lenkt uns beide ab. In England liegt unser beider Zukunft. Darauf sollten wir uns konzentrieren. - Für heute ist es genug. Wir sollten das Feuer löschen und schlafen.“ Er warf Erde und Gras, das schon feucht vom Nachttau war, auf das Feuer, bis nur noch winzige Funken glommen. Madeleine wickelte sich in ihre Jacke und schaute zu, wie die Funken ganz und gar verloschen. Nicht mehr lange und sie würde wieder in einem richtigen Bett schlafen. Sie konnte es kaum erwarten, endlich nach England zu kommen.
Madeleine hatte Freude daran, Xavier Englisch beizubringen. Er war ein gelehriger Schüler, und verwundert stellte sie fest, dass er schon lange sehr aufmerksam ihrem Unterricht gefolgt sein musste, den die Mutter ihr und ihrem Bruder in Englisch gegeben hatte. Sein Akzent war deutlich stärker als ihr eigener, aber mit etwas gutem Willen konnte man verstehen, was er sagte. Madeleine hoffte sehr, dass die Engländer - vor allem ihr Onkel und die Tante - guten Willens waren, damit Xavier sich schnell einleben würde. Bald konnten sie sich fließend in Englisch unterhalten, was sie aber nur taten, solange sie alleine waren. Sobald sie in Harfleur angelangt waren, sprachen sie wieder französisch.
„Ich werde Euch fortan mit ‘du’ und ‘Bursche’ ansprechen, damit wir glaubwürdig sind. Ich hoffe, Ihr werdet mir das verzeihen. Ich werde auch ab und an streng mit Euch sein müssen, wenn es die Situation erfordert. Lasst uns dann nicht auffliegen, indem Ihr aufbegehrt. Ihr seid nun mein Bursche, der meine Befehle erhält und ausführt. - Zeigt mir Eure Hände!“ Verwirrt hielt Madeleine ihm ihre Hände hin. Es war ihr unangenehm, dass er ihre Hände so eingehend betrachtete, sie sogar berührte, um sie nach innen und außen zu wenden. Ihre Hände hatten in den letzten Wochen nicht nur ihre feine Blässe verloren, sondern auch jede Zartheit. Es waren mittlerweile tatsächlich die Hände eines jungen Burschen, denn ihre Fingernägel waren nicht nur schmutzig, sondern auch eingerissen; mühsam hatte sie sie mit einem kleinen Messerchen in Form gebracht. Die Haut war trocken und hatte sogar Schwielen von dem Wanderstab, den Xavier ihr in die Hand gedrückt hatte, damit sie es etwas leichter haben möge.
„Eure Hände sehen ganz gut aus. Glaubwürdig.Versteht Ihr? Man darf Euch auf keinen Fall als junge Frau erkennen, denn sonst sind wir verloren. Bleibt immer bei mir, dann wird schon alles gut gehen.“
Xavier hatte schnell zwei Plätze auf einem Schiff besorgt, das ihn und Madeleine nach England übersetzte. Noch nie hatte Madeleine ein Schiff bestiegen. Fremde Gerüche strömten auf sie ein:Teer, salzige Luft, das Holz des Schiffes; selbst das riesige Segel, das sich in der Morgensonne blähte, verströmte einen eigenen Duft. Hätte sie ihre Familie nicht tot und ohne Begräbnis zurücklassen müssen, wäre anstelle Xaviers ihr Bruder bei ihr gewesen, hätte sie es als ein großartiges Abenteuer empfinden können. Aber so war ihr Herz schwer, als sie die Küste Frankreichs verschwinden sah. Ganz klein wurde die Küstenlinie, bald konnte sie nur noch den Leuchtturm erkennen, und dann war Frankreich und mit ihm ihr altes Leben, im Morgendunst verschwunden. Sie ahnte, dass sie Frankreich nie mehr wiedersehen würde. Ihr einziger Trost war, dass sie dem Comte de Beauchamps sicher entronnen war.
Am folgenden Morgen kam England in Sicht. Sobald sie englischen Boden unter den Füßen hatten, fühlten sie sich sicher. Hier konnte ihnen nichts geschehen - so glaubten sie zumindest. Madeleine schaute sich mit großen Augen in diesem Land um, aus dem ihre Mutter kam, und das sie selbst noch nie betreten hatte. Das geschäftige Treiben des Hafens, all das Neue, ließ ihr keine Zeit für Trauer. Anders als in Harfleur saß ihnen nicht die Angst im Nacken, entdeckt zu werden. Also schlenderten sie gemächlich am Quai entlang. Die Lagerhäuser waren mit Teer gestrichen, um dem beständigen Seewind standzuhalten. An Seilwinden wurden Säcke emporgezogen und in die großen Fenster gehievt. Hafenarbeiter löschten Ladung oder brachten Fracht auf die Schiffe. Schänken waren da, vor denen junge Frauen sehr vertraut mit Seeleuten sprachen, sich sogar in aller Öffentlichkeit küssen ließen! Machten sich diese Frauen denn gar keine Sorgen um ihren Ruf?
Madeleine erschrak, als ein Anker direkt neben ihr ins Wasser rauschte und sie einige Spritzer abbekam. Schon begann sie zu zetern, aber Xavier packte sie im Genick und drückte ihr seine andere Hand auf den Mund. So zerrte er sie zur Seite, zwischen zwei Lagerhäuser.
„Burschen fiepsen nicht herum wie Mädchen, wenn sie ein wenig nass geworden sind. Also schweigt!“ Xavier klang sehr ärgerlich, und er schaute sie noch einmal sehr durchdringend an, bevor er sie wieder losließ.
„Xavier, was fällt Ihnen ein!“ fauchte sie, da drückte er sie gegen die Wand, dass ihr fast der Atem verging.
„Schweigt! Augenblicklich! Oder ich lasse Euch jetzt und hier sofort stehen! Ihr seid mein Bursche und tut genau das, was ich Euch befehle.“
„Wieso muss ich denn immer noch als Ihr Bursche auftreten? Wir sind jetzt in England. Da könnte ich auch als ich selbst reisen“, erwiderte sie trotzig und verschränkte ihre Arme, soweit ihr dies unter Xaviers festem Griff möglich war.
„Ich habe genau gesehen, mit welchem Blick Ihr die Frauen dort drüben gerade angeschaut habt. Denkt Ihr denn wirklich, es ist Eurem Ruf förderlich, wenn Ihr als junge Frau allein reist, nur von einem Mann begleitet, mit dem Ihr nicht verwandt seid?“
„Xavier, machen Sie sich nicht lächerlich! Sie sind mein Diener. Als solcher können Sie mich begleiten.“
„Wenn Ihr wirklich standesgemäß als Ihr selbst reisen wollt, müsst Ihr Euch nicht wundern, wenn sich die englischen Herren nicht gerade um Eure Hand reißen. Auch wenn wir beide hier in aller Unschuld reisen, wird man von Eurer Reise erfahren und Fragen stellen. Unangenehme Fragen, die ich dann beantworten darf. Ich will mich nicht bei Eurem Onkel gleich in ein schlechtes Licht rücken.“
„Wie kommen Sie auf den abwegigen Gedanken, dass ich hier in England einen Ehemann finden will? Vielleicht ist es mir sogar viel lieber, wenn die englischen Herren mich in Ruhe lassen. Eines sage ich Ihnen, Xavier: Ich bin dem Comte de Beauchamps entkommen und werde mich mit Zähnen und Klauen wehren gegen eine vorteilhafte Heirat mit einem uralten, schielenden Dumpfbeutel.“
Xaviers Kiefer mahlten, während er Madeleine böse anstarrte. Bemüht freundlich sagte er schließlich: „Wenn diese Reise so unauffällig wie möglich vonstattengeht, können wir immer noch behaupten, dass in Frankreich eine Anstandsdame dabei war und Euer Onkel Euch in Dover in Empfang genommen hat. Das erscheint mir die sicherste Lösung. Ich bitte Euch, vertraut mir. Ich will nur Euer Bestes.“
Er tat, als hätte er sie nicht gehört! Madeleine war empört und keineswegs überzeugt. Sie wollte aufbegehren, aber Xavier war schneller: „Seht Ihr, da bleiben schon die Leute stehen und schauen sich nach uns um. Wir wollen nicht auffallen, um keinen Preis!“ Als sie wieder aus dem Winkel hervortraten, fügte er versöhnlicher hinzu: „Du hast sicher auch Hunger, Junge, nicht wahr? Also lass uns jetzt in die Stadt gehen und etwas essen.“
Der Weg in die Stadt führte durch gepflasterte Straßen, vorbei an Steinhäusern, in denen wohl die Kapitäne wohnten, wenn sie nicht auf See waren, dachte sich Madeleine. Die Menschen kleideten sich hier etwas anders als in Frankreich, aber alle sprachen so, wie ihre Mutter mit ihr schon als Kind gesprochen hatte. Der Schmerz über den Tod ihrer Eltern wurde mit einem Schlag übermächtig. Madeleine musste sich zwingen, nicht zu weinen, aber der Klang der Sprache hatte auch etwas Tröstliches.
In der Schänke bestellte Xavier das Essen auf Englisch und war ganz stolz, dass der Wirt ihn verstand. Ihm schmeckte es nicht, aber Madeleine fand das Lamm mit Soße köstlich. Das Ale passte gut dazu, Xavier vermisste allerdings den Rotwein. Madeleine wunderte sich, dass Xavier als Diener einen so feinen Gaumen entwickelt hatte, dass ihm alles fade vorkam, zu wenig gewürzt und ganz ohne Raffinesse. Es mochte wohl daran liegen, dachte Madeleine, dass England das Land ihrer Mutter war und sie allein deshalb alles herrlich finden wollte.
„Und nun sollten wir uns ebenfalls englisch einkleiden. Je weniger wir auffallen, desto besser. Und denkt daran, Ihr seid nun mein Bursche und müsst mir gehorchen“, fügte Xavier leise hinzu, als sie aus der Schänke ins Sonnenlicht traten.
„Da Ihr es ständig erwähnt, werde ich es ganz sicher nicht vergessen“, antwortete Madeleine schnippisch. „Wie soll eigentlich mein Name lauten?“
„Mein Bursche könnte Matti heißen. Wenn Euch jemand nach Eurem Namen fragt und Ihr zuerst Madeleine sagen wollt, könnt Ihr immer noch ein wenig stottern und auf Matti umschwenken.“
Am Marktplatz betrat Xavier ein Geschäft, dessen Schaufenster und Auslagen ihm passend erschienen. Madeleine wollte ihm folgen, doch Xavier hielt sie zurück.
„Warte hier auf mich, Bursche!“ sagte er laut, wobei er sich umschaute, als wolle er sich vergewissern, dass Passanten seinen gebieterischen Tonfall gehört hatten.
‚Wie peinlich!’ dachte Madeleine. ‚Er benimmt sich wie ein Bürgerlicher, der einen Adligen spielt.’ Sollte sie ihn aufklären? Sie beschloss, ihn erst darauf hinzuweisen, wenn es zu schlimm wurde und er sie beide mit seinem albernen Verhalten in Gefahr brachte. Vorher wollte sie sich noch eine Weile amüsieren und sich damit für seine Unfreundlichkeit entschädigen. Madeleine lugte durch die Fensterscheiben ins Innere des Geschäftes. Xavier trat auf wie ein Gockel. An seiner Gestik erkannte sie, dass ihm alles nicht fein genug war. Die Verkäufer rollten mit den Augen und lachten hinter seinem Rücken. Madeleine war gespannt, was sie dem armen Xavier verkaufen würden. Als Xavier nach endlosen Stunden den Laden verließ, bot sein Stil weiteres Amüsement. Sie würde ihren Onkel und ihre Tante bitten müssen, nachsichtig zu sein. Xavier hatte grüne Hosen mit einem roten Rock kombiniert und trug ein Halstuch, das jeden Papagei blass aussehen ließ.
„Xavier, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf...“
„Nein, Matti, darfst du nicht. Und jetzt komm. Ich weiß, du bist sicher enttäuscht, dass du keine neuen Kleider bekommen hast, aber wir wissen nicht, wie lange wir bis nach Huntington brauchen, und unsere Geldmittel sind begrenzt, wie du weißt.“
Madeleine schaute ihm nach, wie er davonstolzierte. Er hatte seine Erscheinung zu allem Überfluss mit einem Spazierstock garniert, den er unternehmungslustig schwenkte. ‚Nicht auffallen, um keinen Preis!’ dachte Madeleine und folgte ihm.
Da es schon vier Uhr war, machten sie sich nun auf die Suche nach einer Postkutsche für den kommenden Tag. Sie erfuhren, dass eine Kutsche morgens um acht nach Canterbury abfuhr, und Xavier buchte zwei Plätze - beide im Inneren der Kutsche, nachdem Madeleine ihn böse angeschaut hatte.
„Mein Onkel wird es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie mich lebendig bei ihm abliefern“, knurrte sie. „Es sieht nach Regen aus, und ich möchte nicht im Regen auf dem Dach der Kutsche sitzen.“
„Du hast Glück, Bursche, dass ich ein so gütiger Herr bin“, erwiderte Xavier gereizt. „Wenn ich uns jetzt eine Bleibe für die Nacht suche, will ich keinerlei Einwände hören.“
Doch Xavier musste sich Einwände anhören, da er ein Zimmer gebucht hatte, das sie sich mit mehreren Menschen teilen mussten, die weder parfümiert noch leise waren. Madeleine wagte nicht, laut loszuschimpfen, wie sie es sehr gerne getan hätte, aber der Blick, den sie ihm zuwarf, war beredt genug. Und als Xavier dann zudem darauf bestand, dass er in dem Bett schlief und Madeleine auf dem Boden davor, war es für sie endgültig vorbei.
„Mein Onkel wird Sie vierteilen, Xavier! Das schwöre ich Ihnen!“ zischte sie, als sie sich mit nichts weiter zudeckte als ihrer zerschlissenen Jacke.
„Die Kutsche kostet lächerlich wenig, Xavier“, äffte er böse ihre Worte nach, um dann gleich in einen eisigen Ton zu fallen. „Was glaubt Ihr eigentlich was Geld wert ist? Habt Ihr eine Ahnung, was lächerlich wenig bedeutet? Für uns bedeutet das im Moment richtig viel Geld.Wir werden es uns vielleicht gar nicht leisten können, den Weg bis zu Eurem Onkel in einer Kutsche zurückzulegen, denn wir haben nur das, was wir bei uns haben. Ihr könnt nicht mehr zu Eurem Vater gehen und ihn um mehr Geld bitten. Und er kann nicht mehr in sämtliche Taschen seiner Untertanen greifen, bis er die letzten Krümel daraus hervorgestohlen hat.Wir haben nur sehr wenig Geld. Im Vergleich zu vorher seid Ihr arm wie eine Kirchenmaus.“
Madeleine war sprachlos. In dieser Weise hatte noch niemals jemand mit ihr gesprochen. Niemals! Und schon gar nicht ein Diener. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Das war ihr nun schmerzhaft klar.
Sie konnte lange nicht schlafen. Was war nur los mit Xavier? In Frankreich hatte er sie getröstet, war fürsorglich und freundlich gewesen. Er hatte den Englisch-Unterricht nicht nur geschätzt, sondern genossen. Alles hatte er sie gefragt, hatte ihre Gedanken auf glückliche Zeiten gelenkt, sich für jedes Detail ihrer Familie interessiert und sie erzählen lassen. Gemeinsam hatten sie die Briefe aus Huntington gelesen und dabei Freude gehabt.War er wirklich so besorgt um ihre Sicherheit? Wäre es denn so schrecklich gefährlich, wenn man bemerkte, dass sie ein Mädchen war? Dass sie hier auf dem Boden schlafen musste, ging entschieden zu weit. Er hatte sie zwar gerettet und sie war ihm dafür zu großem Dank verpflichtet, aber ob sie bei ihrem Onkel ein allzu gutes Wort für ihn einlegen würde, musste sie sich noch überlegen. Sollte sie fliehen? Ohne ihn weitergehen? Xavier hatte das Geld. Nachts legte er den Beutel unter sein Kopfkissen. Sie konnte es ihm also unmöglich stehlen. Aber ohne Geld würde sie nicht weit kommen. Sie kannte den Weg nicht, der Weg war noch weit und sie war nur vertraut mit den Gepflogenheiten des Adels. Sie hatte während der Kutschfahrten schon bemerkt, dass die Menschen des einfachen Volkes anders sprachen als ihre Mutter. Sie unterhielten sich über Dinge, von denen Madeleine nichts verstand, in einem Akzent, den sie noch viel weniger verstand.Wenn sie also alleine bestehen wollte, müsste sie so reden wie diese Menschen.Vielleicht konnte sie Xavier doch noch den einen oder anderen Taler stibitzen oder ihn sogar direkt um Geld bitten, damit sie als Bursche Besorgungen für ihn machen könne. - Aber darauf würde er nicht hereinfallen.Wie gebildet und weltgewandt hatte sie sich immer gefühlt, wenn sie mit ihrer Mutter die neusten Weisen gespielt oder die Modejournale aus Paris studiert hatte. Ihre Welt existierte nicht mehr, und die Welt, in der sie sich bewegte, war nicht ihre. Wenn ihr Vater wüsste, dass sie auf dem Boden lag vor einem Bett, in dem sein Leibdiener schlief... Der Gedanke an ihre Eltern schnürte Madeleine die Kehle zu. Immer wieder trat das schreckliche Bild vor ihre Augen: ihre Familie, aufgehängt in dem Baum vor ihrem eigenen Schloss. So tief hatte sich dieses Bild in ihr Gedächtnis gebrannt, dass sie es lebhaft vor sich sah. Leise ließ sie ihre Tränen laufen, wischte sie mit ihrem schmutzigen Ärmel ab und weinte nur noch mehr. Das Bild wurde immer deutlicher. Sie spürte wieder die kühle Nachtluft, roch den Gestank der Revolution, der sich im ganzen Schloss ausgebreitet hatte, fühlte Xaviers Hände, die ihr Gesicht schmerzhaft umschlossen. Aber trotz des Grauens war da etwas, woran ihre Gedanken haften blieben. Etwas stimmte nicht an diesem Bild. Sie wusste nicht, was es war und kam nicht darauf, so sehr sie auch grübelte.
Während sie mit Postkutschen ihrem Ziel entgegenrumpelten, färbte der Oktober die Blätter bunt. Sie fuhren wie durch goldene Kathedralen; die Herbstsonne ließ die gelben Blätter aufflammen und der Wind flüsterte in ihnen ein Versprechen von einer üppigen Ernte.
Madeleine war schon froh, dass Xavier sie im Inneren der Kutsche mitfahren ließ. Die Nächte verbrachten sie ähnlich wie die erste: Xavier in einem Bett, Madeleine davor auf dem Boden. Seit sie in England unterwegs waren, wurde Xavier mit jedem Tag ruppiger. Je sicherer er sich in diesem Land bewegte, je mehr er offenbar zu erkennen glaubte, dass er ihrer Hilfe nicht bedürfe, desto herrischer benahm er sich gegen sie. Ihrem Onkel würde sie haarklein alles erzählen. Xavier sollte sich nicht einbilden, bei ihrem Onkel auch nur die Ställe ausmisten zu dürfen. Wenn er glaubte, sie würde sich dafür einsetzen, dass er als Verwalter arbeiten durfte, hatte er sich getäuscht. Xavier konnte von Glück sagen, wenn ihr Onkel ihn nicht bei Wasser und Brot einsperrte.
Und immer wieder drängte sich das Bild ihrer Familie in ihre Gedanken. Es wurde zu einem ständigen Begleiter, machte ihren Atem schwer, doch sie durfte nicht weinen. Nicht in der Kutsche mit lauter fremden Menschen; nicht vor Xavier, der sie dafür nur angeherrscht hätte.
Xavier musste gespürt haben, dass Madeleine sich immer mehr von ihm zurückzog, und offensichtlich bekam er Angst, sie könne ihn verlassen und ihren Weg alleine fortsetzen. Also zeigte er sich besonders gnädig und buchte in einem schönen Gasthaus ein Zimmer mit nur zwei Betten. Madeleine freute sich auf eine weiche Nachtruhe und dachte sich nichts dabei, als Xavier noch einmal ausgehen wollte. Er schloss sie ein, aber sie war so wohl versorgt mit allem, dass sie sich dadurch einfach nur sicher fühlte.
Es war schon dunkel, als Madeleine aus dem Schlaf aufschreckte. Xavier war zurück - und hatte jemanden mitgebracht. Flüsternd befahl Xavier, eine Lampe anzuzünden. Die Person gehorchte, und gleich darauf sah Madeleine die nächtliche Besucherin. Madeleine hätte nicht gedacht, dass Xavier ein so weiches Herz hatte: Der Schlafgast war ein junges Mädchen, nicht viel älter als Madeleine selbst. Sie war schmutzig und abgemagert, ihr Kleid war kaum noch als solches zu erkennen, so zerrissen und besudelt war es. Noch vor wenigen Wochen hätte Madeleine ein solches Mädchen allenfalls aus der sicheren Kutsche heraus gesehen und sich schnell abgewandt. Elend war immer unästhetisch und gehörte nicht in ihre Welt. Doch nun? Nach den Wochen auf der Flucht hatte sich ihr Blick auf die Welt sehr verändert. Ihr Herz wurde schwer beim Anblick dieses Mädchens.Was war ihr geschehen, wo war ihre Familie? Wieso half ihr niemand? Und mit einem Schlag wurde Madeleine klar, dass es Mädchen wie dieses auch in Frankreich gab; hunderttausende Mädchen, Männer und Frauen, die weniger als das Nötigste zum Leben hatten. Es war kein Wunder, dass sie sich erhoben hatten.Wäre es nicht an den Adligen gewesen, die schlimmsten Missstände zu beseitigen? Konnte man wirklich jahrhundertelang Steuern kassieren und erhöhen, ohne zu beachten, dass die Menschen auch ein Recht auf Leben hatten? Man konnte - aber nun trug der französische Adel die Konsequenzen.
Wie gut, dass Xavier für das arme Mädchen sorgen wollte. Ganz sicher würde sie bei ihrem Onkel eine Anstellung finden. Schon wollte Madeleine sich erheben, um dem Mädchen von dem kalten Braten und dem Brot anzubieten, das noch vom Abendessen übrig war, da kam Xavier auf sie zu. Seine Stimme war nur ein heiseres Raunen: „Mademoiselle, ich werde Euch jetzt zeigen, was mit Mädchen passiert, die ohne Aufsicht und ohne Schutz auf der Landstraße unterwegs sind. Wenn Ihr Euch rührt, wenn Ihr auch nur einen einzigen Ton von Euch gebt, werde ich Euch alleine lassen. Denkt daran: Ich habe das Geld, die Briefe als Beweis für meine Identität. Ihr habt nichts und Ihr seid nichts ohne mich! Wenn ich Euch verlasse, wird Euch eher früher als später genau das Gleiche passieren.“ Dann ging er zurück zu dem Mädchen, das vor seinem Bett stand. Madeleine sah, dass sie ihn mit einem erwartungsvollen Lächeln anschaute. Offenbar war sie glücklich, dass ein so feiner Herr sich um sie kümmerte. Doch Xavier schlug ihr ohne Vorwarnung so hart ins Gesicht, dass sie rückwärts aufs Bett fiel. Madeleine erstickte ihren Schrei mit beiden Händen. Und was sie dann im Schein der Lampe sah und hörte, war so grauenhaft, so erniedrigend, dass sie wünschte, nie wieder Frauenkleider tragen zu müssen.
In den nächsten Tagen war Madeleine starr vor Schreck und konnte Xavier nicht anschauen, ohne wieder daran zu denken, wie er das Mädchen gequält hatte. Bleiernes Schweigen herrschte zwischen ihnen. Madeleine hatte nicht mehr das Bedürfnis auch nur ein einziges Wort mit Xavier zu sprechen. Waren alle Männer so? Taten alle Männer mit Frauen so fürchterliche Dinge, wenn sie ihnen ausgeliefert waren? Der einzige Schutz, den sie gegen Xavier besaß, war ihre Herkunft und die Tatsache, dass es auch hier in England Gesetze gab, die Adlige schützten. - Aber wer sollte ihr glauben, dass sie eine Adlige war? Willig ließ sie sich von Xavier erneut das Haar scheren, um als Bursche so glaubhaft wie möglich zu sein. Sie betete, dass sie bald in Huntington wären, damit dieser Albtraum bald ein Ende fand.
Als sie nur noch zwei Tagesreisen von Huntington entfernt waren, geschah etwas, das sie beide in hellen Aufruhr versetzte: Ein Fahrgast stieg zu und fuhr Madeleine an: „He, du Mädchen! Rück gefälligst zur Seite!“
Zitternd vor Angst machte Madeleine eilig Platz für den groben Kerl, indem sie sich ganz in die Ecke der Kutsche drückte. Sie hatte keineswegs das Bedürfnis, diesen Menschen auch nur mit der Fingerspitze zu berühren. Auf die Idee, der Mann könnte das Wort Mädchen als Schimpfwort benutzt haben, kam sie nicht. Als sie bei der nächsten Rast die Kutsche verließen, nahm Xavier sie beiseite.
„Der Mann hat erkannt, dass du ein Mädchen bist.“
Madeleine nickte stumm und schluckte tapfer ihre Tränen hinunter.
„Wir werden nicht in der Kutsche weiterfahren, sondern ich werde uns ein Pferd besorgen.“ Madeleine war einverstanden. Ihr war alles recht, wenn sie nur bald zu ihrem Onkel kam.
Die Nacht verbrachten sie wieder in einem Zimmer, das zwei Betten hatte. Madeleine fürchtete schon, Xavier würde wieder ein Mädchen mitbringen, aber offensichtlich war er überzeugt, dass es keiner weiteren Lektion bedurfte.Trotzdem tat sie kaum ein Auge zu.
Xavier war wirklich über alle Maßen freundlich. Ein Herr, wie ihn sich ein Bursche nur wünschen konnte, dachte sie. Er ließ Frühstück aufs Zimmer bringen, und gemeinsam taten sie sich gütlich an so teuren Köstlichkeiten wie Kuchen und Tee.
„Lasst uns den Tag noch hier verbringen, Mademoiselle. Ihr könnt Euch heute noch etwas ausruhen, während ich ein Pferd auftreibe. Für zwei Pferde wird das Geld nicht mehr reichen, also sollten wir am Abend aufbrechen.“
„Aber wieso wollen Sie denn nachts reisen? Ist das nicht zu gefährlich? Nachts ist sicher lichtscheues Gesindel unterwegs“, gab Madeleine ängstlich zu bedenken.
„Da habt Ihr natürlich recht, Mademoiselle, dennoch seid unbesorgt. Ich habe bereits eine Pistole besorgt, schaut hier!“ Er schob seinen Rock ein wenig zur Seite - und tatsächlich trug er eine Pistole in seinem Gürtel.
„Ich will nachts mit Euch reisen, denn als mein Bursche müsstet Ihr neben mir herlaufen. Heute Nacht lauft Ihr nur eine Weile neben mir her, bis wir auf der einsamen Landstraße sind, dann nehme ich Euch vor mich in den Sattel. Dann dürften wir am kommenden Morgen bei Eurem Onkel sein. Was meint Ihr?“
„Das klingt gut, Xavier. Ich werde ganz sicher vergessen, dass Sie mich in den vergangenen Nächten auf dem Boden haben schlafen lassen. Davon werde ich meinem Onkel und meiner Tante nichts erzählen.“ Sie sah das leise Zucken seiner Augenbrauen; er glaubte ihr nicht. Aber was hatte er vor? Wie wollte er ihrem Onkel und ihrer Tante gegenübertreten, nachdem er sie so schändlich behandelt hatte? Doch Madeleine schob diesen Gedanken beiseite. Sie konnte es kaum erwarten, wieder in ihren alten Status zurückzukehren, endlich wieder durch ihren Stand geschützt zu sein. „Ich danke Euch, Mademoiselle“, erwiderte Xavier aalglatt und hob seinen Kelch.
Die Landstraße war menschenleer, die letzte Ortschaft hatten sie schon eine ganze Weile verlassen, und nun brach mit Macht die Dunkelheit herein. Madeleine musste Xavier erst an sein Versprechen erinnern, sie vor sich aufs Pferd zu nehmen.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Xavier!“ sagte sie schnippisch, nachdem er sie mit einem Ruck in den Sattel gehoben hatte. „Stellen Sie sich doch nur vor, was mein Onkel gesagt hätte, wenn Sie - mein Diener - auf einem Pferd gekommen wären, und ich hinter Ihnen hergelaufen wäre wie Ihr Laufbursche. Dann hätte ich schon sehr viel Überredungskunst aufwenden müssen, damit Sie eine Stellung bei ihm bekommen. Mein Onkel wäre darüber nicht erfreut.“ Die nahe Aussicht auf ein Leben, wie sie es gewohnt war, ließ Madeleines Lebensgeister wieder aufflammen. Nicht mehr lange und sie würde wieder seidene Kleider tragen, in einem weichen Bett schlafen und köstlich speisen. Natürlich war sie Xavier dankbar, dass er sie so weit gebracht hatte, aber mit seinen groben Anmaßungen würde schon am nächsten Tag Schluss sein. Während Madeleine sich vorstellte, wie sie mit ihrer Tante einkaufen ging und bei der ersten Schneiderin am Ort eine komplette Garderobe nach der neusten Mode bestellte, war auch Xavier still geworden. So ritten sie einige Meilen miteinander durch die Nacht. Wälder, Felder und Ortschaften wechselten einander ab, während die beiden Reisenden ihren eigenen Gedanken nachhingen. Xavier hatte die ganze Zeit über geschwiegen, doch nun, als sie auf einer Brücke standen, hielt er das Pferd an und begann sehr freundlich: „Wisst Ihr, Mademoiselle, es ist mir vollkommen gleichgültig, ob Euer Onkel erfreut oder verärgert darüber ist, wie ich mit Euch umgegangen bin.“
„Xavier!“ empörte sich Madeleine. „Sie impertinenter Mensch! Ich werde keineswegs ein gutes Wort bei meinem Onkel einlegen, wenn Sie nicht...“
„Wenn ich was nicht? - Schon mein Großvater diente Eurem Großvater, mein Vater diente Eurem Vater und ich habe diese schöne alte Familientradition übernommen. Aber wieso sollte ich sie fortführen? Ihr könnt Euch kaum vorstellen, wie satt ich diese gute alte Tradition habe.“
„Xavier, wovon reden Sie? Sind Sie denn verrückt geworden? Und reiten Sie weiter. Ich will nicht auf der Brücke übernachten!“ Sie machte ein paar Bewegungen, um das Pferd anzutreiben und schnalzte dabei mit der Zunge. Das Pferd ging tatsächlich einen Schritt, doch dann packte Xavier die Zügel und riss derart brutal daran, dass das Pferd aufwieherte und sofort still stand.
„Wie wäre es, wenn wir tauschen? Ich muss nicht mehr Xavier sein. Niemand weiß, wie Jean Pierre aussieht.Wieso könnte er nicht so aussehen wie ich?“
„Xavier? Wovon reden Sie?“ flüsterte Madeleine nun doch etwas ängstlich.
„Ich rede von der Revolution - meiner ganz eigenen, persönlichen Revolution. Habt Ihr Euch niemals Gedanken darüber gemacht, wieso Ihr selbst ein süßes Leben ohne Sorgen lebt, während andere Menschen Euch dienen?“
„Jeder ist in seinen Stand geboren. Diener leben nur dazu, um zu dienen. Wenn sie nicht mehr dienen könnten, wäre ihr Lebenszweck erloschen“, sagte Madeleine, doch es klang längst nicht so überzeugend wie aus dem Mund ihres Vaters, der ihr das einmal erklärt hatte. „Es gibt nun mal uns - die Adligen - und die Anderen. So ist das, Xavier. Und jetzt bringen Sie mich gefälligst zu meinem Onkel.“
„Es geht nicht nur um Diener. Ich hatte als Diener ein recht annehmbares Leben. Ich konnte mir genug Geld zur Seite schaffen.“
„Haben Sie etwa gestohlen?“ fuhr Madeleine auf.