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Murad Beyraktar, Schweiz 2022 (Rückblick)

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Der Wind blies mäßig. Die Berge waren nur noch schemen- haft zu erkennen. Die Tage einer blühenden und grünen Na- tur waren gezählt. Die Sonne gab ein recht kurzes Gastspiel. Aber die Temperaturen bewegten sich noch immer im Rah- men des Erträglichen. Genauso fühlte sich der Herbst 2019 in der Schweiz an. Murad und Sevim wollten aber keinen Herbst, noch nicht. Sie reisten dem Sommer hinterher be- vor dann ab November die tristen Tage beginnen. Morgen um diese Zeit sitzen sie bereits in ihrem Feriendomizil, einem kleinen Appartement in Rojales an der Costa Blanca. Das Haus gehört Susanne und Horst, einem Schweizer Ehepaar, das sei- nen Lebensabend in Spanien verbringt. Ein kleines Zubrot ohne großen Aufwand bringt ihnen die Vermietung. Und ein bisschen Beschäftigung wollen sie auch im Rentenalter noch haben. Ein Leben nur noch im Schongang ist nichts für die Beiden. Murad und Sevim hatten bei ihnen einen dreiwöchigen Urlaub für Okto- ber gebucht.

Bei ihrer Ankunft am Flughafen in Alicante strahlte Sevim mit der Sonne um die Wette. Sie schmiss ihre graue Steppjacke über die Schulter, löste die Haarspange von ihrem Pferdeschwanz und hüpfte mit ihren sechsundzwanzig Jahren wie ein übermütiges Kind mit langem, flatterndem Haar Richtung Auto. Murad schob bedächtig den Gepäckwagen hinterher. „Was für ein traumhaftes Wetter“, rief Sevim und breitete ihre Arme weit aus als wollte sie den Sommer einfangen. „Ja so ist das, wenn Engel reisen dann zeigt auch der Himmel mal seine Schokoladenseite“, schmunzelt Murad. Er mochte ihre spontanen Gefühle, ihr unkompliziertes Wesen. Eigentlich mochte er alles an ihr, ihre spritzige Art, ihren Humor, ihre Offenheit. Bevor sie in ihren Leihwagen stiegen zog Murad Sevim an sich, drückte sie sanft und küsste sie zärtlich. „Ich freue mich auf unseren gemeinsamen Urlaub“, hauchte er ihr mit warmer Stimme ins Ohr.

Murad ist keiner von denen, die einfach mal nur so mit Frauen rumknutschen wollen. Wenn Murad sich einlässt, dann meint er es ernst. Er ist mehr der ehrliche, einfühlsame, verständnisvolle junge Mann.

Schon nach dreißig Minuten Fahrzeit hatten sie ihr Feriendo- mizil erreicht. Zikaden zirpten in den Pinien und die Sonne strahlte noch immer von einem wolkenlosen Himmel. Auch der Eingang zu ihrem kleinen Appartement verbreitete mediterra- nes Flair. Bougainvillearanken schmückten den Rundbogen, Terrakottatöpfe mit duftenden Pellagonien waren rechts und links der Tür platziert. Und den Garten dominierten Hibiskus- sträucher in sattem Rot und kräftigem Gelb. Sevim war von der Blütenpracht überwältigt.

Aber gleich am nächsten Tag wollte sie ans Meer. Ein Urlaub ohne Meer ist für Sevim kein Urlaub. Ihr Mietauto rollte des- halb gleich am Vormittag über eine frisch gepflasterte Straße von Rojales in Richtung Guardamar. Durch die offenen Wagen-fenster wehte der Geruch des Meeres herein und grauweiße Möwen segelten schon kreischend über die Dächer der Häuser. Es konnte also nicht mehr weit sein. Sevim genoss das, sog alles in sich hinein.

Noch stand die Mittagssonne einsam über ihnen und erwärm- te einen leergefegten Strand hinter den Dünen. Außer Murad und Sevim war weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Ihre Schuhe brauchten sie hier nicht. Die hatten sie im Auto gelassen. „Gibt es etwas schöneres als mit nackten Füßen im weichen Sand zu laufen“, freute sich Sevim. Murad nickte zustimmend, beobachtete sie nur und lächelte zufrieden. Dann näherte sich Sevim dem Wasser. Winzige unschuldige Mu- scheln knirschten unter ihren Füßen. Sie watete durch das kühle Nass, junge Wellen umspülten ihre Knöchel. Nahe der Dünen ließ sie sich im warmen Sand nieder, schlang die Arme um ihre ange- winkelten Beine und begann erst ihre Zehen in den Sand zu gra- ben und dann den ganzen Fuß. Murad setzte sich daneben, beugte sich über sie, umarmte sie fest und drückte sie nach hinten in ein Bett aus Sand. Mit den Temperaturen stiegen auch ihre Gefühle. Hemd und Bluse hingen längst lose an den aufgeheizten Leibern. Ihr hastiger Atem kitzelte seinen nackten Oberkörper und befeuerte seine Lust. Mit starken schlanken Händen knetete er sanft ihre Brüste und verwöhnte ihren zarten Hals mit seinen Küssen. Sie ließen ihrer Leidenschaft freien Lauf bis sich wie aus dem Nichts ein älteres Paar näherte. Dicht aneinander geschmiegt saßen sie dann noch lange da. Sevim legte ihren Kopf an Murads Schulter. Mit einer Hand schöpfte sie immer wieder Sand und ließ ihn über ihre Beine rieseln. Eine aufkommende Brise streichelte ihre Haut. Sonne, Sand, Dünen und Meer, heute ist das Glück auf ihrer Seite. So langsam kam etwas mehr Wind auf, Wolken gesellten sich zur Sonne. Rasant jagte der Wind die über die Dünen, zerzauste Sevims Haar und begann an ihrer Bluse zu zerren. Die rutschte von ihrer Schulter runter bis zum Ellbogen und gab den Blick auf die helle Haut ihres straffen Busens frei. Bevor Sevim sie wieder hochziehen konnte hielt Murad dieses Bild auf seinem Smartphone fest.

Noch viele unbeschreibliche und unvergessliche Momente er- lebte er mit Sevim hier in ihrem gemeinsamen Urlaub. Ob beim Rumlaufen am endlosen Strand, ob beim Sitzen auf den Dünen, wo sie sich an den gewaltigen Wellenbergen, an den brechenden Kämmen und an der aufspritzenden Gischt erfreuten, egal wo sie sich gerade rumtrieben, überall roch es nach Liebe. Und abends kam dann nicht selten eine ganz romantische Stimmung auf wenn sie in trauter Zweisamkeit die beeindruckenden Sonnen- untergänge mit den grandiosen Lichtspielen auf sich wirken ließen. An anderen Abenden machten sie es sich einfach im Garten vor ihrem Appartement gemütlich und beobachteten die blassen Geckos, wie sie an der Hauswand nahe der Lampe klebten und auf die Nachtfalter warteten.

Murad und Sevim genossen die mediterrane Leichtigkeit in vol- len Zügen, mal ausgelassen mal still. Das Leben meinte es richtig gut mit ihnen. Gleich an ihrem ersten Sonntag führte sie die Route zum Markt. Es ging über holprige Wege vorbei an me- terhohen Agaven und duftenden Zitrusbäumen. An den We- gesrändern krümmten sich riesige Feigenkakteen unter der Last ihrer Früchte. Und auf dem Markt war wie jeden Sonn- tag die Hölle los, wenige Spanier, überwiegend Touristen, da- runter viele überwinternde Rentner aus dem europäischen Norden. Kein Wunder, das Wetter passt, auch im Winter. Der Strand ist zum Greifen nah, und immer ist irgendwo was los, wenn man das denn will. Um die Ruhe zu genießen, kommen nur die Wenigsten an die Costa Blanca. Hier werden keine Bürgersteige hochgeklappt, hier pulsiert das Leben das ganze Jahr. Und tattrige Greise sucht man vergeblich. Die Mehrheit dieser älteren Generation ist noch recht aktiv, lebenshungrig und voller Träume, von Altersmüdigkeit keine Spur. Doch nun schlenderten die Beiden erst mal Hand in Hand durch die engen Gassen zwischen den Buden. Es gab hier so viel zu entdecken, alles was man braucht oder eher nicht braucht oder schon hat von Grünzeug über Kleidung, Bettwäsche, Blumen, Handtaschen, Musik, Gesundheitsprodukten und zur Freude von Sevim auch Tücher. Da konnte sie natürlich nicht widerstehen. Ein Langschal in dezenten Farben musste mit.

In der Markthalle im nahen Torrevieja stöberten sie ebenfalls ger- ne rum, vor allem wegen der ganz frischen Waren, angefangen vom Fisch, über Obst und Gemüse und natürlich bis hin zu den spanischen Spezialitäten. Alle regionalen Produkte wurden ange- boten. Vorm Verlassen dieses kulinarischen Paradieses entdeck- ten sie gleich neben dem Bäcker die berühmten Churros. Da kamen sie einfach nicht dran vorbei. Alleine schon wegen des Duf- tes waren sie denen wehrlos ausgeliefert. Murad und Sevim gönn-ten sich gleich ein Dutzend davon und waren begeistert von den köstlichen, luftigen mit Zucker bestäubten traditionellen Kringeln. Die Spanier lieben dieses frittierte Gebäck. Oft ist das schon ihr Frühstück. Besonders nach einer langen Nacht sieht man häufig junge Leute mit Churros durch die Straßen ziehen.

An ihrem letzten Urlaubsabend stand Sevim in der Küche, vor sich auf der Arbeitsplatte eine Plastikunterlage, darauf eine scharfe spitze Schere und eine Küchenrolle. Sie blies in ihre Einmalhandschuhe, zog sich die über und drehte den Meerestieren als erstes den Kopf ab. Dann begann sie entlang des Rückens ganz fachmännisch mit dem Aufschneiden des Panzers. Das darunter liegende Fleisch öffnete sich und eine mal weiße, mal graue bis schwarze Ader war freigelegt, also der gesamte Verdauungstrakt mit Magen und Darm in einem. Mit Daumen und Zeigefinger zog sie nun den kompletten Darm vorsichtig heraus. Nachdem sie dann alles sorgfältig gereinigt hatte, bereitete sie die zum Braten fertigen Garnelen mit Olivenöl, Kräutern und Knoblauch in der Pfanne zu. Währenddessen deckte Murad perfekt den Tisch. Eine Bougainvillearanke legte er als Deko in die Tischmitte, drei Teelichter erhellten den Esstisch nur schwach. Teller, Besteck und Servietten lagen bereit für ihr Abschiedsessen. „Köstlich, mindestens drei Sterne“, lobte Murad Sevims leckere Garnelen. „Probier mal“, dann spießte er eine mit seiner Gabel auf, dippte sie in Alioli und schob sie Sevim in den Mund. So machten sie wechselweise weiter und hatten nicht wenig Spaß dabei. Rioja und knuspriges Weißbrot durften dabei natürlich nicht fehlen. Die Zwei alberten viel rum und benahmen sich ausgelassen wie Frischver- liebte. Und immer wieder gewann die Lust die Oberhand.

Dieser Urlaub hat Murad und Sevim richtig gut getan und er hat sie noch fester zusammengeschweißt. Sie hatten es auch optimal getroffen. Die Unterkunft, das Essen, sogar das Wetter hatte mitgespielt. Aber das ist ja in Spanien keine Seltenheit. An ihren All- tag in der Schweiz verschwendeten sie keine Gedanken. Erst beim Kofferpacken dachte Murad etwas wehmütig daran, dass diese entspannte gemeinsame Zeit bereits morgen zu Ende geht. „Eigentlich jammerschade, dass wir morgen schon wieder zurück müssen“, bedauerte auch Sevim.

Murad fühlte sich nach diesen drei Wochen noch stärker mit Sevim verbunden. Beide waren sich jetzt ihrer Zuneigung ganz sicher. Sie waren füreinander geschaffen, konnten sich ein Leben ohne den anderen gar nicht mehr vorstellen. Von einer richtigen Familie mit Kindern, davon träumten sie beide, wenn sie aneinander gekuschelt ihre Zukunft planten und schon entsprechende Pläne schmiedeten. Zusammenziehen wollen sie auf jeden Fall. Murads Wohnung ist schließlich groß genug für Zwei.

An all diese faszinierenden Momente erinnert sich Murad ge- rade, während er, wie fast täglich in letzter Zeit, in Selbstmit- leid versinkt, sich in seinen vier Wänden in Schlieren in der Schweiz vergräbt und nur noch auf dem Sofa rumlungert. Seine Wohnung ist vernachlässigt, er selber meist ungekämmt und unrasiert. Nichts ist mehr so wie es einmal war. Überall hat sich der Schmerz breitge- macht. Jede Zelle seines Körpers ist betroffen. Wieso tut Verlust so weh? fragt er sich. Mit seinen Händen befühlt er Sevims Tuch aus Spanien. Er hält es an sein Gesicht, drückt es ganz fest an sich. Es duftet noch immer nach ihr. In seinem Hals klumpt ein Kloß, aus seinen Augen rinnt die Traurigkeit. Und ständig befällt ihn diese tiefe Sehnsucht. Er fühlt sich leer. Seine Motivation ist weg. Sein Leben ist verlassen. Die Geräusche von der Straße nimmt er nicht wahr. Draußen geht alles seinen gewohnten Gang, doch bei Murad scheint die Zeit still zu stehen. Wenn er morgens nach einer oft schlaflosen Nacht so daliegt, hofft er noch immer dass alles nur ein Traum ist. Aber es ist kein Traum. Es ist bittere Realität. Niemand ist mehr da, der seine Seele anschubst. Geblieben sind ihm jetzt, fast drei Jahre nach diesem Urlaub, nur noch die Bilder in seinem Kopf und die wenigen auf dem Smartphone.




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