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John Bancroft, England, Anfang August 2022
ОглавлениеJeden Morgen fährt John Bancroft von seiner Heimatstadt St. Albans, einer Stadt mit zirka 140 000 Einwohnern, ins 35 Kilometer entfernte London, ins dortige Bankenviertel, den größten Finanzhandelsplatz der Welt, in die City of London. Die gilt als exterritoriales Gebiet und gehört nicht zu Groß- britannien. Selbst die Queen kommt um eine Anmeldung wie bei einem Staatsbesuch nicht herum, wenn sie diese Square Mile betreten möchte. Dort gelten auch völlig ande- re Gesetze. Die meisten britischen greifen dort nicht. Die City of London Corporation hat ihre eigene Staatlichkeit und überwacht sich selbst. Ihre Manager handeln mit Wertpa- pieren und Devisen über alle Grenzen hinweg. Und einer der Fondsmanager ist John Bancroft, ein großer, schlanker, unauffälliger, normaler Mann mittleren Alters. Nicht selten sorgte er für beträchtliche Umsätze und Gewinne. Entspre- chend gut ist auch sein Verdienst, er steht aber auch stän- dig unter Strom. Wie oft schon stieß er an seine Grenzen. Ganz spurlos geht dieser Dauerstress nicht an einem vorbei. So einen enormen Druck halten nur wenige lange aus. „Noch fünf Jahre, dann ist Schluss“, hat Bancroft für sich beschlossen. Wenn der Job das komplette Familienleben verschluckt, dann muss eine Wende her. Und seit dem Brexit ist sein Job auch nicht gerade einfacher geworden. Mit seinem Maybach fährt er soeben vor bis zur Security. Seinen Ausweis muss er nur noch pro forma hochhalten, man kennt ihn. Auf einen eigens für ihn reservierten Platz lenkt er den Wagen hin. Heute ist der Parkplatz auffallend leer, stellt er nachdenklich fest. Vielleicht sollte er doch auf Doreen, seine Frau, hören und seinen Job vom Home-Office aus erledigen. Eine der Angestellten erzählt ihm im Aufzug soeben besorgt von mehreren Kollegen, die erkrankt seien, es sollen auch bereits zwei verstorben sein. Ihm wird mul- mig. In seinem Büro dann erwartet ihn schon ungeduldig Janet, seine Sekretärin. „Hallo John“. „Hallo Janet, gibt`s schon was Neues?“ „Und ob, soeben hat die Regierung die Bevölkerung über Rundfunk gewarnt.“ „Wie, was heißt gewarnt?“ „Sie hat dazu aufgefordert dass all diejenigen zu Hause blei-ben sollen, die nicht unbedingt in die Stadt müssen.“ Janet ist eine pflichtbewusste aber herzliche Person und mit ihren grauen Glubschaugen in einem etwas zu breit gerate- nen Gesicht wahrhaftig keine Augenweide. Aber durch ihre warmherzige und liebenswerte Art schaut man über solche Äußerlichkeiten hinweg. „Wenn jemand das Herz auf dem rechten Fleck hat, dann Janet“, das hat John so schon häufig über Janet gesagt. „In Anbetracht der Lage bleiben bis auf weiteres alle Schu- len geschlossen und alle öffentlichen Veranstaltungen wer- den abgesagt“, berichtet sie weiter. „Das hört sich gar nicht gut an. Janet, du packst jetzt deine Sachen zusammen und fährst nach Hause. Hier brauche ich dich in nächster Zeit nicht.“ Nach den dramatischen Ereignissen wird es auch John Bancroft langsam mulmig. Und dann, urplötzlich, reißt auch noch Fred Miller, einer seiner Broker, hektisch die Bürotür auf. Normalerweise kennt man ihn als ruhig, besonnen und gelassen, aber hart im Verhandeln. Weicheier haben im Börsengeschäft eh keinen Bestand. Doch jetzt steht er da, völlig außer Atem, mit Schweißperlen auf der Stirn. Sein sonst akkurat nach hinten gekämmtes Haar fällt ungezügelt über beide Ohren. Und total nervös knabbert er mit den gebleichten Zähnen auf seiner Unterlippe rum. „Was ist los mit dir Fred, so hab` ich dich ja noch nie erlebt.“ „Das fragst du noch, hörst du denn keine Nachrichten? Und schau dir doch mal die Aktienkurse an, die fallen doch gerade dramatisch. Was soll ich nur tun? Ich weiß nicht mehr weiter.“ Bancrofts Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen gräbt sich tiefer in seine Stirn. „Nur keine Panik, jetzt setz dich erst mal hin und behalte einen kühlen Kopf. Denn im Moment ist es ja erst mal nur ein rein britisches Problem“, versucht er Miller zu beruhi- gen. „Ja, aber was sage ich meinen Leuten? Die sind alle höchst angespannt und zutiefst verunsichert.“ „Das überlasse ich dir und deinen Mitarbeitern ob ihr weiter hier sein oder besser von zu Hause aus agieren wollt. Mehr können wir im Moment nicht tun. Wir müssen erstmal die weitere Entwicklung abwarten. Ich jedenfalls fahre gleich nach Hause, beziehe mein Home Office, und in zwei Stun- den reden wir dann weiter über Skype.“ Aber Miller bereitet nicht nur der Börseneinbruch Kummer; der tangiert ihn nur am Rande. Um seine eigene Gesundheit ist er zutiefst besorgt, zumal er gerade glaubt ein leichtes Kratzen im Hals zu spüren. Ob das nur eine Erkältung oder gar eine Grippe wird oder noch viel schlimmer womöglich schon das erste Anzeichen für diese todbringende Seuche ist? Er versucht seine Panik zu verbergen. Das fällt ihm überhaupt nicht leicht. So ein bisschen was hat er schon vom Hypochonder. In seinem Büro, einem relativ sterilen Raum, stellt er zuerst einen Klappspiegel neben einen seiner Monitore, auf denen Kurven, Zahlen und Grafiken in ständiger Bewegung sind. Dann holt er die Taschenlampe, die er immer mit sich führt, aus dem Aktenkoffer, rückt seine zeitlose Hornbrille zurecht und leuchtet dann in seine Mundhöhle, inspiziert diese gründlichst. Sein besorgter Blick verrät diesmal nichts Gutes. Der weiße Belag auf seiner Zunge gefällt ihm gar nicht. Aber so ist er eben. Von einem leichten Rumoren im Bauch fehlt bei ihm nicht mehr viel bis zum Bauchspeicheldrüsenkrebs und das Kratzen im Hals könnte auch Kehlkopfkrebs sein. So gut es geht, ver- sucht er aber allen Infekten vorzubeugen. Ohne Desinfek- tionsspray und ohne Toilettensitzabdeckungen wagt er sich nie aus seiner Behausung. Auch Fieberthermometer und Blutdruckmessgerät gehören zu seiner täglichen Grundaus- stattung. Regelmäßig wird der Arbeitsplatz mit Hygienetü- chern desinfiziert, inklusive Tastatur. Und in seinem Büro stehen etliche Wasserflaschen aus dem Supermarkt parat für seinen Tee. Der schmecke ihm sowieso damit besser als mit dem Leitungswasser, sagt er. Aber der wahre Grund ist, dass er dem Wasser aus der Themse nicht über den Weg traut, erst recht nicht seit die Londoner Wasserwerke an einen Investor verkauft wurden. Trau schau wem, so sein Credo.
Janet wartet noch immer, sitzt regungslos da, bis sie sich schließlich doch aufrappelt um ein paar Sachen zusammen- zusuchen. Sie ist schon eine treue Seele. Seit mehr als fünf Jahren arbeitet sie mit Bancroft. Der räumt nur noch seinen eigenen Kram in eine Stofftasche. Die Thermoskanne mit seinem Biotee und sein eingetuppertes Käsebrot wird er wieder unangerührt mit nach Hause nehmen. Er ist halt ein wahrer Gesundheitsfanatiker, so ein Typ Ökotrophologe, Nichtraucher, Alkohol nur selten, am Wochenende eine Stunde walken und kein Gramm zu viel auf den Rippen. Ja, er hat so seine Marotten, besonders was das Essen anbe- langt. Rasch steckt er noch seine restlichen Unterlagen in den Aktenkoffer und nimmt seinen Laptop. Bevor er sich von Janet verabschiedet, wirft er noch einen letzten Blick auf die Aktienkurse. „Gut sieht anders aus“. „Denk dran, dein Satellitentelefon mitzunehmen, man weiß ja nie“, rät Janet. „Gute Idee, dann nimm du das andere aus meinem Schreib- tisch mit.“ „Danke, mach` ich gern. Ich werde übrigens nicht in London bleiben, ich fahre sicherheitshalber zu meiner Tante aufs Land. Das wird mir vielleicht nicht schlecht bekommen. Im Moment fühle ich mich eh etwas schlapp, scheint eine Grippe im Anmarsch zu sein.“ „Dann erhole dich mal ein wenig und lass dich von deiner Tante verwöhnen.“ „Das hätte ich ja beinahe vergessen, in einer Stunde will die Premierministerin sich zur Lage der Nation an die Bevölke- rung wenden.“ „Da bin ich aber mal gespannt drauf. Und du, liebe Janet, genieß das Landleben und die gesunde Luft. Mach es gut, wir hören voneinander.“ Und dann macht er sich auf den Heimweg. Seine Leinen- hose schlottert bei jedem Schritt an seinen dünnen Beinen rum und bedeckt noch nicht mal seine Knöchel. Aber auf solche Äußerlichkeiten legt er keinen Wert.
John Bancroft arbeitet nun von zu Hause aus, so gut es eben geht. Er lebt mit seiner Frau Doreen und seinen zwei Kin- dern seit vielen Jahren hier in St. Albans in einem Reihen- haus, etwas abseits der Hauptstraße. Den handtuchgroßen Vorgarten zieren drei Hortensienbüsche. Der Garten hinter dem Haus gleicht einem Badetuch und hat gerade mal Platz für einen gepflegten Rasen, der von Staudenbeeten einge- rahmt ist. Im Haus der Bancrofts darf man keine durchge- stylte Wohnung erwarten. Die neuesten Designermöbel braucht Doreen nicht. So wie die meisten Briten liebt sie es eher individuell. Der Trend zum Minimalismus konnte sich auf der Insel nicht durchsetzen. Vereinsamte Möbelstücke sind Doreen ein Graus. Und so zeigen englische Wohnungen keinen bestimmten Lebensstil, englische Wohnungen zei- gen Leben. Mit viel Geschick hat auch Doreen wenige moderne Einrichtungsgegenstände mit ihren Antiquitäten kombiniert. Sie stöbert gern auf Flohmärkten und bei Auktionshäusern, ist immer wieder auf der Suche nach ausgefallenen Lieblingsstücken. Das Haus insgesamt gese- hen hat Doreen mit hochwertigen Materialien ausgestat- tet, Tapeten, Gardinen, Tischdecken, alles nur vom Fein- sten. Goldgerahmte Ölgemälde englischer Landschaften gehören ebenfalls in ihr etwas überdekoriertes Zuhause. Und die schweren Teppiche auf dem Holzfußboden verlei- hen dem gesamten Wohnbereich trotz alledem eine recht behagliche Atmosphäre und fangen zudem noch Geräusche auf. Das Chesterfield Sofa darf da natürlich auch nicht fehlen. Dort genießen John und Doreen an den Wochen- enden ihren Nachmittagstee, mit geradem Rücken, so wie es schon bei den Adligen Sitte war, ganz nach der Maxime „my home is my castle“.
John Bancrofts Arbeitszimmer liegt in der obersten Etage. Die kleinen Gaubenfenster spenden ihm nur wenig Tages- licht und der Ausblick nach draußen beschränkt sich gerade mal auf ein bisschen Himmel. Bei allem Reichtum hält er es für sich selber relativ bescheiden nach der Devise „klotzen statt protzen“, mit Ausnahme seines Maybachs. Doreen ist voll zufrieden mit ihrem Leben in St. Albans, einer entzückenden mittelalterlichen Stadt, für sie die schönste Stadt der Welt. Immer wenn sie aus einem Urlaub zurückkehrt und schon von weitem die Kathedrale sieht, die ihre Stadt dominiert, dann hat sie dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, sie ist wieder zu Hause angekommen. Die vertraute Umgebung gibt ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Doreen ist in St. Albans geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nur zum Studieren hat sie ihre Stadt verlassen. Und dann hat sie während ihres Studiums im nahen Cambridge John Bancroft kennengelernt, einen Stu- denten der Betriebswirtschaft. Und nur wenige Monate nach ihren Examen haben die Beiden geheiratet und Do- reen hat schon bald innerhalb von drei Jahren zwei Töch- ter zur Welt gebracht. Seitdem findet sie die Erfüllung in einem Leben als englische Hausfrau. Aus einer schlanken jungen Studentin mit rotblonden Haaren hat sich nach neunzehn Jahren mittlerweile eine stattliche selbstbe- wusste Lady entwickelt, mit allem Drum und Dran. Doreen ist etwa 1,70 m groß, nicht mehr ganz so schlank, aber mit allen weiblichen Reizen ausgestattet. Und die zeigt sie gern, vor allem jetzt im Sommer. Wenn ihre sonst blasse Haut sich in eine pinkfarbene verwandelt, kommen die in ihren gut belüfteten Oberteilen erst so richtig zur Geltung. Volu- minöse figurumschmeichelnde Säcke sind nicht so ihr Ding. Und weil ihr die meisten Kleidungsstücke von der Stange viel zu schlicht sind, werden die mit amüsanten Details aufgemischt. Mit Bändern, Federn, Applikationen und Glitzersteinen schmückt sie die langweiligen Sachen aus um ihrem Outfit das gewisse Etwas zu verleihen. Da ist sie sehr einfallsreich. So aufgemotzt trifft sie sich dann mit ihrer Freundin, einer im Gegensatz zu ihr eher hageren Frau, in einem der wunderschönen Parks oder auch mal zum Shopping in ihrer Stadt, so wie auch heute. „Ich suche ein hübsches Sommerkleid, Doreen. Du kennst ja meinen Geschmack und stehst mir sicher mit Rat und Tat zur Seite“, sagt sie. „Aber ja doch, jetzt hoffen wir nur, dass du diesmal auch etwas Passendes findest.“ Weil Doreen jedoch weiß wie die Freundin tickt, weiß sie schon im Voraus, dass die auch diesmal wieder mit leeren Händen nach Hause geht. Sie kennt ihre Freundin durch und durch, und das seit Jahrzehnten. Warum sollte das diesmal anders abgehen als sonst. Helen beschreibt mal wieder präzise ihr angebliches Traumkleid, mit Rüschen und Spitzen überladen. Da weiß Doreen schon jetzt, auch aus eigener Erfahrung, ein solches Kleid mit so vielen Accessoires, wird die liebe Helen natürlich nirgendwo finden. Aber wahrscheinlich hat sie mal wieder ihrem Bill gegenüber ein schlechtes Gewissen, wenn sie das Haus verlässt um einfach mal nur mit der Freundin zusammen zu sein. Shoppen bedeutet für Frauen ja auch nicht unbedingt etwas kaufen. Frauen wollen gucken und reden. Shoppen ist für sie ein kommunikatives Ereignis, etwas sehr Sinn- liches, das sie gerne mit anderen teilen. Aber so etwas verstehen die Männer nicht und Helens Bill schon gar nicht. Einfach nur etwas anschauen, rumlabern ohne etwas kaufen zu wollen, für Bill undenkbar. Bill hat eh mit der Mode nichts am Hut. Er ist mehr der Typ Mann mit dem Trend zur Unauffälligkeit. Sein leergeräumtes Normal- gesicht passt dazu. Zurzeit sitzt er zu Hause, denn zu seinem Arbeitsplatz, einem Büro bei der Stadtverwaltung in Lon- don, darf er ja nicht wegen der prekären Lage. „Wenn Bill etwas braucht“, sagt Helen, „dann steuert er zielgerichtet das entsprechende Geschäft an, begutachtet nur kurz seine Ware, bezahlt und strebt dem Ausgang zu.“ „Meinst du, das sei bei John anders. Ich hab` schon Mühe ihn überhaupt in einen Laden zu locken. Wenn man ihn hört, braucht er nie etwas zum Anziehen.“ „Und einfach mal nur durch die Geschäfte bummeln und schauen was es Neues gibt, so etwas tun Männer nicht.“ Trotzdem die beiden Freundinnen genießen ihren Nach- mittag ohne die Männer. St Albans ist eine Stadt, die eigentlich alles zu bieten hat, was Frauen so brauchen. Entbehren muss man hier nichts. In einem der kleinen Straßencafés lassen Doreen und Helen den Nachmittag ausklingen bei ihrem geliebten traditionellen Builder`s Tea, einem schwarzen Tee mit Milch, dem Lieblingsgetränk der Briten. Und Helen geht, wie zu erwarten war, mal wieder ohne Traumkleid nach Hause.
Und wenn Doreen nicht gerade mit Helen unterwegs ist, dann kümmert sie sich um alles was zu Hause gerade an- fällt, hält John den Rücken frei. In all den Jahren hat sie gelernt selber zu handeln und Probleme alleine in Angriff zu nehmen. So kann John sich voll und ganz auf seinen Job einlassen. Aber genau das will ihm derzeit gar nicht gelingen. Sich konzentrieren klappt überhaupt nicht. Wen wundert es, bei der angespannten Lage. Ständig schweift er mit seinen Gedanken ab. Das Radio läuft im Hintergrund rund um die Uhr. Noch immer weiß man nichts Neues über diese tückische Krankheit. Die Kliniken füllen sich weiter mit Infizierten und die Todeszahlen sind alarmierender denn je.
Die Rede der Premierministerin trägt auch nicht zur Ent-spannung bei. Sie warnt alle Briten vor Panik, versucht die Fakten ein wenig weichzuspülen. Aber wie soll das funktio- nieren, wenn tagtäglich Hunderte sterben. Die Suche nach der Ursache laufe auf Hochtouren, rund um die Uhr, ver- sucht sie zu beruhigen. Eine Sonderkommission sei einge- setzt, die nach dem Erreger fahnde. Weltweite Kontakte zu namhaften Wissenschaftlern wurden hergestellt. Viele beruhigende Sprüche, aber noch nichts Konkretes. Verunsicherung und Ängste nach wie vor, zumal die Stadt mittlerweile vom Militär versorgt wird. Immer mehr Zulieferer weigern sich London anzufahren. Die Regale in den Supermärkten leeren sich, die Bevölkerung hamstert was sie tragen kann. „Wenn das so weitergeht, wird es nicht mehr lange dauern bis es zu Diebstählen und Schlägereien um die wenigen verbliebenen Esswaren kommt“, befürchtet John. „Lange geht das auch nicht mehr gut. Das Chaos in London ist vorprogrammiert und nur noch eine Frage der Zeit“, glaubt Doreen. „Besonders dramatisch ist es ja bereits in den Kliniken. Ärzte, Schwestern und Pfleger fehlen, sogar der Medika- mentennachschub gerät ins Stocken, Krankentransporte können nicht mehr bedarfsgerecht durchgeführt werden.“ „Jetzt bleibt uns nur noch zu hoffen, dass so schnell wie möglich die Ursache gefunden wird“. Dann geht Doreen wieder nach unten, setzt sich mit ihrem Strickzeug vor die Glotze und wartet auf weitere Informa- tionen. So einfach nur dasitzen, ganz ohne Beschäftigung, das kann sie nicht. Dann kommt sie sich irgendwie nutzlos vor.
Rund um die Uhr wird in Sondersendungen über London berichtet. Das öffentliche Leben steht fast still, Busse und Bahnen fahren kaum mehr. Schulen und Kindergärten sollen auch nach dem Sommerferienende geschlossen bleiben, vorerst jedenfalls. Die Situation verschärft sich von Tag zu Tag. John erfährt soeben aus den Nachrichten, dass das Militär alle Zufahrtstraßen nach London abgeriegelt hat. Niemand darf passieren. Lediglich die Einsatzkräfte dürfen noch rein und raus. Und weil viele Regierungsmitglieder sich derzeit außerhalb Londons aufhalten, werden Telefon- konferenzen abgehalten. John kommt nach unten und setzt sich zu Doreen, ihm steht der Kopf auch nicht nach Arbeiten. „Da können wir von Glück sagen, dass wir in St. Albans sitzen“, so John mit besorgter Miene.
John Bancroft passt nicht in das Bild, das man sich von den Bossen an der Börse macht. Er geht an seine Geschäfte zwar mit strategischem Geschick und Weitblick ran, aber Rück- sichtslosigkeit ist seine Eigenschaft nicht. „Menschlichkeit darf auch aus dem Börsengeschäft nicht verschwinden“, sagt er. Aber da gibt es auch andere Kollegen, solche, die für ein gutes Geschäft schon mal über Leichen gehen, selbst die eigene Mutter verkaufen würden. Trotzdem Bancroft gelingt es meist, aus seinen Leuten das Optimale rauszu- holen, aber nicht um jeden Preis.
Nach der Rede der Premierministerin bespricht er mit Miller über Skype die weitere Anlagestrategie. Zunächst einmal zeigt er sich hoch zufrieden über Millers umsichtiges Handeln. „Ich denke Fred, das war ein guter Schachzug von dir unsere Wertpapieranteile an den Londoner Immobilien sofort zu verkaufen. Du hast ja mittlerweile sicher selbst gesehen, dass die Werte gerade im freien Fall sind. Ich selber habe drauf spekuliert, dass der Euro weiter in den Keller rutscht. Aber schauen wir mal. Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt. Sei vorsichtig.“
Am gleichen Tag abends will auch die Queen Volksnähe demonstrieren, von Schottland aus. Sie meldet sich von Balmoral Castle, ihrer Sommerresidenz in einer Live-Ansprache an ihr Volk. Balmoral Castle ist nicht Teil des Crown Estate, es ist privates Eigentum der Queen. Dort hält sie sich in jedem Jahr zwischen August und Oktober für etwa zwölf Wochen auf. In diesem Jahr könnten es mehr werden. Pflichtbewusst, ganz so wie es ihre Art ist, weicht sie auch schwierigen Problemen nicht aus. Das hat sie in der Vergangenheit schon häufig bewiesen. Als vor Jahren ihr Palast halb abbrannte, Eheskandale den Ruf der königlichen Familie ruinierten, das Parlament über die königlichen Finanzen meckerte, da war die Queen zwar not amused, aber sie erschien trotz einer schweren Grippe zum Staats-bankett der Londoner City.
Mit leisen einfühlsamen Worten erinnert sie heute in einer kurzen Rede an die vielen großen Krisen, in denen ihr Volk Kraft, Vertrauen und Zusammenhalt bewiesen hat. Als Beispiel nennt sie den zweiten Weltkrieg, in dem das Land zeitweise durch das nationalsozialistische Deutschland bedroht war. Auch die terroristischen Anschläge erst vor wenigen Jahren bleiben nicht unerwähnt. Und weil sich die Briten nicht unterkriegen lassen, würden sie gemeinsam auch diese schlimme todbringende Krankheit besiegen. Das sei nur noch eine Frage der Zeit. Dessen sei sie sich ganz sicher.