Читать книгу Vom Leben verlassen - Imke Borg - Страница 4
Monika und Peter, England, Anfang August 2022
ОглавлениеGedankenverloren schaut Monika aus dem Fenster des Wohnmobils und zieht ein recht mürrisches Gesicht. Kein Wunder bei dem Wetter. „So ein Mist aber auch, mit den Hunden um den Platz lau- fen, das können wir heute vergessen. Gestern schon den ganzen Tag über dieser Nieselregen und böige Wind, überhaupt nicht schön. Und dann noch das unaufhörliche Klappern des Holztörchens zum Golfplatz hin, das ging mir auch gehörig auf den Wecker.“ Ihr Rumgenöle hilft alles nichts, denn heute am frühen Mor- gen tobt der Regen noch immer und dicke Nebelschwaden verschmelzen mit der Landschaft. „Hast du denn gestern in der Vorhersage nicht mitgekriegt, dass sich das Wetter im Laufe des Vormittags bessern soll, “ will Peter seine Frau ein wenig besänftigen. „Nein, hab´ ich nicht, noch sieht es ja nicht danach aus.“ Tut es zum Glück aber. Gegen Mittag klart es langsam auf und die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolken- decke. Was wollen die Beiden mehr. Postkartentage haben sie auf der Insel eh nicht erwartet. Aber so wie sie das Wet- ter hier während ihres dreiwöchigen Urlaubs erlebten war es zumindest besser als sein Ruf. „Peter, schau mal raus, es hat tatsächlich aufgehört zu regnen und die Sonne lässt sich sogar blicken.“ „Sag` ich doch, dann können wir ja loslegen und das Wohn- mobil startklar machen.“ Bereits am kommenden Tag wollen sie sich auf den Rück- weg machen. Ihre England - Schottland - Reise nähert sich so langsam dem Ende. In drei Tagen haben sie ihren Trans- port durch den Eurotunnel gebucht. Da sollten sie schon pünktlich in Folkstone sein. Ein wenig verkalkuliert haben sie sich aber doch. Deshalb muss London gestrichen wer- den. Monika gefällt das gar nicht. Ihre Enttäuschung ist nicht zu übersehen. Sie setzt mal wieder ihr Beleidigte-Leberwurst-Gesicht auf, verschränkt die Arme und steht einfach nur lustlos rum. Sie ärgert sich maßlos, auch über sich selbst, wo sie sich doch gerade auf London so sehr gefreut hat. Normalerweise ist sie recht pingelig, plant alles punktgenau, weiß am liebsten schon gestern was morgen zu tun ist. Aber diesmal ging ihre Planung wohl in die Hose. „Begeistert bin ich nicht, dass wir London nicht mehr schaf- fen“, so Monika in leicht schnoddrigem Ton. „Vielleicht soll- ten wir versuchen am Tunnel umzubuchen. Das müsste doch möglich sein. Wir haben doch alle Zeit der Welt und daheim läuft uns auch nichts weg. Was hältst du davon?“ Peter hebt seinen rechten Arm an, dreht betont langsam die Handfläche von oben nach unten und wieder zurück. Er scheint unentschlossen. Monika sieht die Skepsis auch in seinem Blick. Nach mehr als dreißig Ehejahren versteht man sich auch ohne Worte. „Nun mal langsam, probieren können wir es ja. Aber Lon- don läuft uns auch nicht weg. Denn dies war mit Sicherheit nicht unsere letzte Tour ins Vereinigte Königreich“, versucht er Monika zu trösten. „Von Folkestone bis London dürfte es doch nicht allzu weit sein. Und wenn wir Glück haben liegt unterwegs noch ein Gartenjuwel auf der Strecke. Du magst doch Gärten. Ich schau heut` Abend gleich mal im Internet nach.“ Geschlagen geben will sich Monika so schnell nicht. Aber ein bisschen ärgern tut sie sich immer noch. Ihre Nasen- flügel blähen sich nämlich wieder auf, ein todsicheres Zeichen. Während sie sich aufrappelt und versucht, beim Sauber- machen, Sortieren und Wegräumen auf andere Gedanken zu kommen, widmet sich Peter dem Wassertank. Ganz akribisch geht er dabei vor. Nachdem die Sitzpolster bei- seite geräumt sind, der Deckel der Truhenbank geöffnet ist, wird der Schraubverschluss aufgedreht. Dann erst kann Peter reinfassen und den Stöpsel ziehen um das Restwasser abzulassen. Danach wird der Tank desinfiziert und ausge- spült. Das mit dem Wassertank ist schon eine aufwändige Arbeit, wenn man es gewissenhaft angeht. „Na, hast du es bald geschafft? Wir wollen doch noch mit den Hunden los.“ „Ja bald, aber was muss das muss. Du weißt ja, Wasser ist wichtig, das wichtigste überhaupt. Ohne Wasser kein Leben“, antwortet Peter augenzwinkernd. Und wer weiß das besser als er. Das mit dem Wasser war doch in seinem früheren Leben, also dem Leben vor dem Ruhestand, mal sein Job. Da war er verantwortlich für Wasser, Energie und Verkehr, als oberster Chef eines großen Energieversorgungsunternehmens. Nach zwei Stunden intensiver Arbeit kann er jetzt endlich frisches Wasser einlassen, diesmal bis zum Überlauf. Schließlich muss es bis Deutschland reichen. Vorher soll nichts mehr nachgefüllt werden. Schade ist es trotzdem, dass sie aus Zeitmangel London streichen müssen. Aber zum Glück hat sich Monika zwischenzeitlich wieder einiger- maßen beruhigt. Und ganz so dramatisch sieht sie das jetzt auch nicht mehr. „Wenn das mit der Umbuchung nicht klappt, muss ich wohl damit leben. Dann haben wir wenigstens einen triftigen Grund um wiederzukommen“, so Monika recht locker. „Denn irgendwie mag ich diese Insel und ihre Menschen.“ Was ist plötzlich in sie gefahren. Die Putzerei hat ihr wohl gutgetan. Sie wirkt zumindest etwas entspannt und zufrie- dener. Mit ihren beiden Vierbeinern drehen sie noch eine weitere Runde auf dem Golfplatz. Der soll als Hundeklo herhalten. So hat es ihnen jedenfalls der Platzbetreiber erklärt. Wenn ihnen das jemand anderes gesagt hätte, sie hätten es nicht für möglich gehalten. Ein Golfplatz als Hundeklo. Peter schmunzelt, legt seinen Arm auf Monikas Schulter und versucht sie aufzumuntern. „Ich stelle mir gerade vor wie so ein affiger, perfekt raus- geputzter Golfer, hochkonzentriert nur auf seinen Ball, plötzlich ein warmes, weiches und wohliges Gefühl an seinem Fuß verspürt.“ Monika lacht. „Igitt, und anschließend puhlt er dann ein halbes Pfund Hundehaufen, extra frisch, aus dem komplexen Profil seines Golfschuhs.“ Peter kommt gerade in Fahrt und sinniert weiter. „Du kennst doch auch die strengen Golfregeln. Dann stell dir mal vor, ein Golfball landet mitten in einem solchen Hundehaufen. Was dann? Normalerweise muss der ja auch von dort abgeschlagen werden. Ich sehe förmlich das rat- lose Gesicht des leicht pikierten Golfspielers vor mir. Bestimmt zückt er sein Regelheft, was ja ein echter Golfer sicher immer mit sich führt, um nachzulesen was in so einem komplizierten Fall zu tun ist.“ „Und wenn er nicht gestorben ist, dann steht er dort noch heute“, amüsiert sich Monika. Aber zum Glück gibt es das Kästchen mit den Plastiktüten für die Hinterlassenschaften solcher Köter gleich hinter dem Tor direkt an einem Fairway. Und das lässt keine Zweifel. Dieser Campingplatz ist tatsächlich ein wahres Paradies für Hunde, für Golfspieler auch. „Wann steht unseren Vierbeinern schon mal ein so gepfleg- ter Rasen zur Verfügung für das Krumme-Buckel-machen“, freut sich Monika. „Unser Sohn als Freizeitgolfer wäre bestimmt hier auch happy“, so Peter. „Das kannst du wohl laut sagen. Den ersten Abschlag direkt vor der Haustür, wo hat er das schon.“ Aber die Beiden freut es natürlich vor allem wegen ihrer Vierbeiner. Und da gerade weit und breit keine Schläger- schwinger zu orten sind, die ihre wehrlosen Bälle kloppen, lassen sie Odin und Basco mal frei toben. Denen tut das gut, endlich mal ohne Leinenzwang. Und während die Hunde dem Tennisball hinterherlaufen, den Peter wirft, beobach- tet Monika ihren Mann. Es wäre gelogen, wenn sie sagen würde, er hätte sich nicht gut gehalten. „Für sein Alter sieht er eigentlich noch recht passabel aus mit seinen graumelierten Haaren, seinem Dreitagebart, und seinen stahlblauen Augen, die mir damals als erstes an ihm aufgefallen sind“, stellt sie zufrieden fest. Noch immer steht ein relativ ansehnlicher Männerkörper vor ihr, „alles im grünen Bereich, noch“, denkt sie.
Die nötige Bettschwere hat Monika zwar noch nicht, aber weil sie morgen zeitig loswollen, legen sie sich mit den Hüh- nern schlafen, sie stehen ja auch mit ihnen auf.
Auch heute Morgen leistet noch immer zäher Nebel Wider- stand. Egal, nach Fountains Abbey, einer beeindruckenden Klosteranlage, die seit 1986 zu den Unesco Welterbestätten zählt, da wollen sie unbedingt noch hin. Soviel Zeit muss sein. Und der Besuch dort lohnt sich wirklich. Neben den gigantischen Klosterruinen erwartet sie ein weitläufiger Landschaftsgarten und ein spektakulärer Wassergarten. Für Monika und Peter ist diese Anlage neben Dunrobin Castle in Schottland ein weiterer Höhepunkt ihrer Reise. Im High- moor Farmcamp nahe Harrogate erwischen sie dann einen geeigneten Übernachtungsplatz. Und wie jeden Abend machen sie es sich so richtig gemütlich. Peter holt schon mal die Gläser, gießt Rotwein ein und verkorkt die Flasche wieder. Mehr als ein Glas gibt es nicht. Das sei nämlich nicht gesund, wenn man einem Gesundheitsratgeber Glauben schenken darf. Monika bringt ein paar Käsehäppchen und ein Schälchen mit Walnüssen. Laut einer Studie soll das aber dem Körper gut tun, ein Glas Rotwein wegen seiner Polyphenole und ein paar Walnüsse. Die Beiden pflegen schon einen einigermaßen gesunden Lebensstil. Nur höchst selten wird mal über die Stränge geschlagen. Das war früher noch anders, vor Jahrzehnten, als sie beide jung waren. Da war an jedem Wochenende Halligalli mit Freunden ange- sagt. Aber dieses wilde Leben gehört der Vergangenheit an, alles zu seiner Zeit. Heute mögen sie es eher ruhig und ge- mütlich. Die vorderen Sitze werden zum Innenraum ge- dreht, die Rückenlehnen etwas nach hinten in eine beque- me Position gebracht. Und so sitzen sie da, Abend für Abend, und ziehen sich die Nachrichten rein. Um 19.00 Uhr die vom ZDF, um 19.30 Uhr die Landesschau Rheinland Pfalz und dann um 20.00 Uhr die von der ARD. Dies sind schon ganz feste Rituale. Aber was sie da gerade hören, erschreckt sie schon. „Peter, stell mal etwas lauter“, Monika glaubt ihren Ohren nicht zu trauen. In London sollen heute mehr als hundert Menschen in der Hauptstadt gestorben sein. In den letzten Tagen seien bereits mehrere Hundert Personen einem mysteriösen Leiden erlegen, Männer, Frauen und Kinder. Um keine Panik zu verbreiten hielt man es zunächst einmal vor den Bürgern geheim. Denn selbst die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Was bisher recherchiert werden konnte hatten die Erkrankten weder Kontakt zueinander noch wohnten sie in unmittelba- rer Nachbarschaft. Sie kommen auch aus den unterschied- lichsten Bevölkerungsschichten. Und was das Schlimmste ist, fast täglich würden neue Personen mit ähnlichen Symp- tomen eingeliefert. Hohes Fieber hätten die meisten, oft begleitet von Schüttelfrost, Kopf - und Gliederschmerzen. Deshalb dachten die Mediziner zunächst einmal an eine Art Sommergrippe. Die nimmt ja oft einen schweren Verlauf. Ist es aber nicht. Man hofft nun, dass speziellere Untersuchun- gen weiterhelfen. Monika holt tief Luft. Das wirft sie nun doch etwas aus der Bahn. Sie ist jetzt mehr als nur beunruhigt. Mit ihren Finger-kuppen trommelt sie nervös auf der Tischplatte rum. „Mein Gott, das ist ja furchtbar was da in London gerade abgeht. Was mag das für eine Krankheit sein? Wer weiß wozu es gut ist, dass wir London nicht mehr anfahren. Nach den Horrormeldungen hätte ich jetzt doch Bedenken. Du etwa nicht?“ Peter schüttelt nur mit dem Kopf. Ganz so dramatisch sieht er das nicht. „Ich mache mir im Moment noch keine großen Sorgen, würde auch nach London fahren, wenn es zeitlich passen würde.“ Monika ist jedenfalls erleichtert, dass es Richtung Heimat geht. „Das mit dem Umbuchen lassen wir mal besser, London läuft uns ja nicht weg“. Und so vollzieht sie gerade pro- blemlos eine 180 Grad-Wende. Folkestone hat Peter schon im Navi gespeichert und wenn alles gut geht, wollen sie am nächsten Tag den Tunnel erreichen.
Wie erhofft sind sie gut durchgekommen. Peter hat, wie auf der Hinfahrt auch, geschickt, als hätte er nie im Leben etwas anderes gemacht, das Wohnmobil in die Waggons der Bahn gelenkt. Während sich die Fähren über die unru- hige See kämpfen müssen, sitzen Monika und Peter mit ihren beiden Hunden gemütlich im Fahrzeug bei Kaffee und Keksen und nach 35 Minuten im Shuttle unter Wasser ha- ben sie wieder Frankreich erreicht. Entlang der Autobahn nahe Calais kommen ihnen immer wieder kleine Gruppen dunkelhäutiger, männlicher Flüchtlinge entgegen, die so wie es aussieht Richtung Tunnel oder Fähre wollen. Ihr Hab und Gut tragen sie samt Traum von einem besseren Leben in einer Plastiktüte bei sich. Ein trauriges Bild. Monika reibt sich die Augen. „Tja, die Flüchtlinge, seit unsere damalige Kanzlerin vor Jahren unsere Grenzen geöffnet hat, haben sich mittlerweile viele Millionen auf die Socken gemacht und bei uns eingenistet“. „Für Deutschland ist das noch immer keine leichte Heraus- forderung.“ „Und neben dem Flüchtlingschaos haben wir ja auch noch die Eurokrise am Hals. Ob wir all das je in den Griff kriegen, wer weiß?“ „Na ja, so wie es aussieht wollen die, die hier rumirren nach England und nicht nach Deutschland“, meint Peter, presst seine Lippen zusammen und neigt den Kopf von einer Seite zur anderen. „Das ist ja für sie nicht das schlechteste, wenn sie es denn überhaupt auf die Insel schaffen. Aber ob es ihnen tatsäch- lich gelingt, sei mal dahingestellt. Und die Briten haben auch eine etwas andere Einstellung als wir Deutschen. Obwohl die Flüchtlinge tun mir schon leid. Sie führen ein Leben zwischen Gefahr und Hoffnung. Und schlussendlich will sie keiner haben.“ „Aber wir alleine können ja nicht die ganze Welt retten. Da ist auch mal die gesamte EU gefordert.“ Und dann lassen sie die Flüchtlinge hinter sich.
Auf dem Camping „Le Nez Blanc“ nahe Calais bleiben sie für die letzte Übernachtung vor ihrem Zuhause. Endlich mal etwas Zeit ihre Eindrücke aufzufrischen und zu sortieren. Alles in allem hatten sie ja eine sehr interessante Reise, wenn man von den engen Straßen und von den Hecken und Mauern mal absieht, die oft die Fahrbahn begrenzten. Peter kam da nicht selten ganz schön ins Schwitzen, wenn er mit dem Wohnmobil mal wieder Millimeterarbeit leisten muss- te. Aber das war ja nicht der einzige Härtetest, den er zu bestehen hatte. Selbst der Linksverkehr war noch ein ge- ringes Problem. Denn vor allem etliche Nebenstraßen schienen noch aus der Zeit der Pferdefuhrwerke zu stam- men und stellten keine kleine Herausforderung dar. Es war zwar immer wieder schön, die beschaulichen Orte zu durchfahren, wo sich Bilderbuchhäuschen mit kleinen Erkern in verwinkelten Gassen aneinanderschmiegten. Aber Peter wurde dabei einiges abverlangt, dem Wohnmobil auch. Ohne schlapp zu machen, knatterte das unermüdlich über die teils holprigen Wege, mal durch Dörfer mit honig- farbigen Häusern, charmanten Kirchen, Bruchsteinmauern, mal entlang unzähliger Reihenhäuser, von denen eines exakt aussah wie das andere. Lediglich Haustür und Deko variierten. Monika hat auch welche entdeckt mit besonders hübschen Jugendstilelementen.
Bisher war das vereinigte Königreich auf Monika und Peters Wohnmobillandkarte ein weißer Fleck und nur wegen ihrer Hunde. Noch vor Jahren sollten Vierbeiner nämlich für Wochen in Quarantäne bevor sie auf die Insel durften. Also blieb United Kingdom immer ein Tabu. Aber das ist zum Glück jetzt anders. Sonst wären viele abwechslungsreiche und interessante Eindrücke auf der Strecke geblieben. Wenn sie über die schlechten Straßenverhältnisse mal hinwegguckten wurde ihnen viel Reizvolles geboten. Überall sattes Grün, Wiesen, Büsche und viel Wald, in dem häufig lila Rhododendren Boden gut machten um dann klamm- heimlich den ganzen Wald zu erobern. Aber auch erstaun- lich viel plattgefahrenes Wild klebte auf dem Asphalt. Ein weniger schöner Anblick. Von Deutschland kennen sie das so extrem nicht. Und weil England bekannt ist für seine tollen Gärten, war ein Muss natürlich der von Sissinghurst Castle. Er gehört zu den berühmtesten Gärten der Welt, warum auch immer. Laut Reiseführer soll er sogar der schönste Englands sein. Peter und Monika hatten deshalb ihre Erwartungen an diesen über alle Maßen Gelobten relativ hoch geschraubt und von diesem Gartenjuwel mehr erwartet als ihnen tat- sächlich geboten wurde. Die Pflanzenvielfalt war zwar immens aber die Anordnung hielt Monikas kritischem Blick nicht stand. Da bildeten Schattenpflanzen mit mediterranen Gewächsen eine Gemeinschaft um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Monika war schon etwas enttäuscht. Und gepflegt war der Garten auch nicht, wie Beide feststellen mussten. Vielleicht waren sie auch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Die schönste Anlage entdeckten die Pflanzenliebhaber in Schottland beim Dunrobin Castle. Und Daumen hoch auch für das Eden Projekt in Südengland. Nicht zu vergessen Cornwall mit seiner wildromantischen Küste und einigen sehenswerten Cottage Gärten. Was sie dort etwas traurig fanden war, dass viele Vorgärten verschwunden waren. Sie mussten den Stellplätzen für die Autos weichen. Deshalb gab es statt der Pflanzen an vielen Cottages nur noch Beton. Aber bei den engen Straßen überall blieb den Bewohnern wohl keine andere Wahl. Das malerischste Dorf Englands, Castle Combe, durften sie sich natürlich nicht entgehen lassen, auch das ein Hinguk- ker. In den Sechzigern bildete das die Filmkulisse für „Dr. Doolittle“. Selbst heute noch scheint dort die Vergangen- heit um die Häuser zu schleichen. Ein Da-will-ich-hin war für Monika das 18oo Seelennest Hay-on-Wye im walisischen Nirgendwo. Mehr Antiquariate und Buchläden soll man nämlich sonst nirgends in Europa auf so engem Raum finden. Und ein wachendes Auge auf dieses Idyll hat das vor sich hin bröselnde Castle. Schade nur, dass Monika hier keine Zeit blieb um sich durchzulesen. Denn Peter wartete mit den Hunden schon ungeduldig im Wohmobil. Aber ein absolutes Muss war für Beide wie für alle England- reisenden Stonehenge, dieser merkwürdige Steinkreis aus vielen verschiedenen Megalithbrocken. Faszinierend auch die Fahrt über den Atlantik – Highway, ab Nordcornwall über Wales. Der bot ihnen immer wieder atemberaubende Blicke auf Steilküste und Meer. Besonders interessant und wild erlebten sie die schotti- schen Highlands mit ihrer rauen, bizarren und geheimnis- vollen Landschaft. Der eh schon düstere Eindruck wurde noch verstärkt durch die schweren Wolken, die während ihrer Tour auf der Natur lasteten. Und immer wieder zogen Windböen in langen Schüben von den Hügeln herunter und brachten ihr Reisemobil ins Schwanken.
Der nördlichste Punkt ihrer Inselreise lag zirka 100 Kilo- meter oberhalb von Loch Ness. Ab da ging es dann wieder in südliche Richtung. Die Zeit drängte, leider. Aber einen Blick auf Balmoral Castle nahe Aberdeen wollten sie schon noch werfen. Vielleicht bekommen sie ja sogar die Queen zu Gesicht. So viel Glück hatten sie dann doch nicht. Wenigstens wissen sie aber, dass sich die Queen gerade hier aufhält. Denn der Union Jack flattert aufgeregt im Wind über Balmoral Castle.
Irgendwie war England völlig anders als alle übrigen euro- päischen Länder, die sie schon bereist hatten, aber trotz- dem schön und außergewöhnlich. Saftiges Grün überzieht eine sanft geschwungene Landschaft. Dazwischen wettei- ferten malerische Dörfer und ausladende Strände. Und spektakuläre Burgen, Schlösser und Herrenhäuser gab es ohne Ende zu entdecken, wenn man sie denn mag. Peter mochte sie eher nicht. Irgendwann hatte er die Schnauze so gestrichen voll, dass er sich vehement weigerte auch nur noch ein einziges Castle zu betreten. „Für mich hat es sich jetzt aber mal ausgekastelt“, so zumindest ließ er seinen Frust raus. Er war ja schon froh, dass er aus diesen altehrwürdigen aber maroden Häusern einigermaßen heil rausgekommen ist. Nicht selten hatte er Bedenken, dass ihnen hier die Decke auf den Kopf fallen könnte. Und überall empfand er es stickig und zugig. Der Wind blies durch alle Ritzen, ob- wohl die Fenster geschlossen waren. Während sich Monika überschwänglich für diese alten Gemäuer begeistern konnte, beäugte Peter die recht kritisch und unter ganz anderen Gesichtspunkten. Ihm entging rein gar nichts, nicht der bröckelnde oder schon abgeplatzte Putz, nicht die fingerdicken Risse und auch nicht die feuchten Flecken an den Wänden. Überall roch es modrig, hie und da mal eine Pfütze oder ein Eimer, der das reintropfende Regenwasser auffangen soll. Und durch die Gänge huschten unzählige kleine graue Bewohner, zig Mäuse. „Es hat schon was, so ein altes Herrenhaus, da atmet man noch Geschichte“, schwärmte Monika. „Ja, ja, die eine atmet Geschichte und der andere Verfall, stickige Luft, Staub, Asbest und Salpeter“, so Peter ganz nüchtern.
In England bewegten sie sich in einer Idylle, wie aus dem Bilderbuch, fühlten sich aber um Jahrzehnte zurückversetzt. In den Dörfern und Städten war es so als wäre dort die Zeit stehengeblieben. Peter und Monika kannten eigentlich Eng- lands Dörfer und Städte auch aus den „Inspector Barnaby Filmen“ im Fernsehen, die Monika über alles liebte. Sie dachte sich, dass für diese Filmszenen eigens dafür ausge- suchte Orte dienten, die noch ihre Ursprünglichkeit be- wahrt hätten. Aber dass ganz England so aussieht hat sie dann doch überrascht. Die Briten halten eben an ihren Traditionen fest und kleben an ihrem alten Krempel, angefangen von den unterschiedlich funktionierenden Wasserhähnen und Türklinken bis hin zu ihren seltsamen Steckdosen. Wohnungen, Pubs, Gaststätten, alles wirkte auf die Beiden urig und auch oft überladen. Monika kam sich häufig vor wie im Museum. Sie hätte hier längst ausgedünnt und modernisiert. Aber das alles ist wohl very british.
Die Engländer selbst haben Peter und Monika überwiegend als hilfsbereite nette Menschen kennengelernt, völlig anders als sie es erwartet hatten. Überall sorry, please, thank you, excuse me, fast in jedem Satz. Die englische Höflichkeit ist also keine leere Floskel. Und lustig waren immer wieder die ganz speziellen Rituale, wie beispiels- weise das Schlangestehen. Respektvoll, diszipliniert und geduldig harrten die Briten aus, einer hinter dem anderen, ob beim Bäcker, an der Bushaltestelle, überall herrschte diese besondere Ordnung. Monika und Peter mussten sich da erst mal dran gewöhnen. Gar nicht so leicht wenn man aus einem Land kommt, wo eher Haufenbildung, Hemdsär- meligkeit und Ellbogentechnik angesagt sind. Und bei jedem Smalltalk ging es auf der Insel zuerst einmal ums Wetter. So war es dann auch nicht verwunderlich, dass die Engländer bei jedem Sonnenstrahl in hochsommerlicher Kleidung rumliefen, während Monika und Peter bei gerade mal dreizehn Grad noch ihre Fleecejacken überzogen. Die Briten sind schon ein eigenes Volk, ganz anders als der Rest Europas, irgendwie aus der Zeit gefallen. Und das wusste und äußerte vor Jahren schon ein britischer Premier. „Unsere Geografie hat unsere Psychologie geformt. Wir haben den Charakter einer Inselnation. Wir können unsere britischen Empfindlichkeiten so wenig ändern wie wir den Ärmelkanal entwässern können.“ So sind sie eben die Briten. Sie lieben ihre Traditionen und klammern sich daran fest. Beispielsweise werden die Ge- richtsurteile noch von Männern in Perücken gesprochen und im Unterhaus sitzen die Abgeordneten bei ihren Debat- ten noch so wie im Mittelalter. Auf Festlandseuropäer wirkt alleine schon die Sitzordnung ungewöhnlich und kurios. Da sitzen sich Gentlemen und Ladies auf grünen Bänken gegen- über. Den Komfort eines eigenen Stuhls kennen sie dort nicht. Und im Teppich verläuft beidseitig eine rote Linie, die von keinem der Redner übertreten werden darf. Zwei Säbellängen Abstand müssen schon sein. Und in diesem Ambiente treffen sich die Abgeordneten jeden Mittwoch. Und jeden Mittwoch das gleiche Ritual, sie grölen und fet- zen und schreien sich nieder, mal auf hohem und mal auf weniger hohem Niveau, ganz so wie auf dem Djemaa el fna in Marrakesch. Aber die Briten mögen ihr robustes, lebhaf- tes Parlament. Grabesstille wie im Resteuropa, wo man sogar eine Stecknadel fallen hört, wollen sie nicht. So ist sie eben die feine englische Art. „Wir Deutsche brauchen eigentlich gar nicht weit zu rei- sen, wenn wir was Exotisches erleben wollen. Eines unse- rer Nachbarländer tut`s doch auch“, amüsiert sich Peter beim gemütlichen Absitzen am Abend. „Ja, so extrem hab` ich es mir auch nicht vorgestellt. Die Briten sind schon speziell, irgendwie auch ein bisschen schrullig, aber trotz allem lieb und nett.“ „Stell dir mal vor, uns hätte im Pub niemand gesagt, dass wir hier selber aktiv werden müssen, wenn wir nicht ver- dursten wollen. Wir säßen doch noch heute dort und war- teten auf die Bedienung.“ Und dann ziehen sie bei ihrem spärlichen Abendbrot weiter über die Briten her und ihre lustigen Kuriositäten. Sie erin- nern sich an den Pancake Day, ein Pfannkuchenrennen, das an Fastnachtsdienstag die Fastenzeit einläutet. Butter, Milch und Eier sollen noch vor Beginn der Fastenzeit aufgebraucht werden. Und deshalb rennen die Ladies mit Bratpfanne und ihrem selbstgebackenen Pfannkuchen, der während des Laufs sogar noch gewendet werden muss, um die Wette. Im Südwesten Englands in der Region Gloucestershire gibt es schon seit der Römerzeit einen anderen verrückten Brauch, das Käserollen. Einen steilen Hügel hinunter liefern sich Ladies und Gentlemen ein Wettrennen gegen einen Käselaib, den strohgelben Gloucester, der es nicht selten auf Geschwindigkeiten bis zu 110 Stundenkilometer bringt. Bezwungen soll diesen Käse bisher noch niemand haben.
Aber als Monika und Peter dann die Abendnachrichten an- schauen, vergeht ihnen schlagartig das Lachen, denn was sie auch jetzt über London erfahren, klingt mal wieder höchst beängstigend. Selbst Ärzte, Schwestern und Pfleger, auch weitere Beschäftigte von Kliniken seien erkrankt, man- che auch verstorben. Und die Krankenhäuser platzten aus allen Nähten. Immer mehr Personen würden eingeliefert, aus allen Bezirken und Lebensbereichen der Hauptstadt kämen die Erkrankten. Auch Ausländer seien darunter. Unter der Bevölkerung steige die Angst. In der Stadt würde es so langsam chaotisch und unübersichtlich. So kennt man das von den Engländern nicht. Ihren exakt geregelten Alltag gibt es nicht mehr. Die Menschen rennten umher, drängel- ten in den Läden, deckten sich mit Lebensmitteln ein. Die höchst beeindruckende Ordnung gehört längst der Ver- gangenheit an. „Wer weiß was da noch auf uns zukommt? Also jetzt mache ich mir richtig Sorgen, vielleicht ist es ja doch Ebola oder vielleicht auch ein Anschlag, und wieso weiß man noch immer nichts darüber, nun sag doch auch mal was, Peter.“ Und so redet Monika noch einige Minuten weiter ohne Punkt und Komma, ohne Luft zu holen. So passiert es immer dann, wenn sie extrem aufgeregt ist. Aber sie ist ja auch zutiefst besorgt und diesmal nicht ohne Grund.
Sobald die Nacht morgen dem Tag weicht, wollen Peter und Monika aufbrechen zu ihrer letzten Etappe bis nach Hause. In der Boulangerie am Ort kaufen sie noch ein paar fluffige Schokocroissants für unterwegs. So gut wie in Frankreich sind die in Deutschland nicht. Sie wissen schon, gesund sind die auch nicht unbedingt aber besonders lecker. In aller Frühe schmeißen sie den Riemen auf die Orgel und schrubben durch bis nach Hause. Die Sommer- monate verbringen sie gerne in Deutschland. Da passt das mit dem Wetter noch. Im Garten gibt es immer was zu tun und der nahe Wald lädt zu ausgedehnten Spaziergängen mit den Vierbeinern ein. Das muss auch sein, denn nach dem stundenlangen Rumsitzen und Rumlungern im Wohnmobil sehnen sich die Zwei nach Bewegung. Peter ist, obwohl schon Mitte sechzig - aber so alt fühlt er sich nicht - noch recht fit und aktiv, und so soll es auch bleiben. Auch Monikas Lebensgefühl gaukelt ihr ein anderes als ihr tatsächliches Alter vor. Dass sie sich den sechzig nähert, sieht man ihr jedenfalls nicht an. Sie ist acht Jahre jünger als Peter und steht dem, was die körperliche Fitness angeht, in nichts nach. Zweimal die Woche wird eine halbe Stunde gejoggt. Die beiden Hunde dürfen da selbstverständlich mit.