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Pieter van der Weij

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Pieter van der Weij war Drucker. Er wurde am 25. September 1910 von Klasina van der Weij, ehemals Kuipers, in den Niederlanden geboren und er lebte in Friesland, oben im Norden. Er arbeitete in der Druckerei seines Vaters Tiede und er hatte drei Brüder: Sjouke, Theunis und Klaas. Theunis und Klaas waren Zwillinge. Seine Schwestern waren Feikje und Sjoukje, Feikje war die Älteste der Geschwister und Sjoukje die Jüngste, sie lebt heute noch. Pieter heiratete Jakobje Kollen, gerufen wurde sie Jouk, und Jouk gebar vier Kinder: Greet, Ini, Tiede und Willy.

1940 war Pieter van der Weij 30 Jahre alt und wurde zum dritten Mal Vater, sein Sohn Tiede kam auf die Welt. In diesem Jahr bombardierte Deutschland die Stadt Rotterdam und besetzte die ganze Region. Die Deutschen blieben bis 1945 und ermordeten 112 000 jüdische Niederländer, dazu Sinti und Roma, Kommunisten und andere Menschen, die gegen sie waren. Die anderen Niederländer kooperierten oder taten so, als würden sie kooperieren, während sie Menschen versteckten: Juden und Zwangsarbeitsverweigerer, Deserteure, Kriegsgefangene und vom Himmel heruntergeholte alliierte Soldaten. Viele versteckte Juden waren in die Niederlande geflohen, in Amsterdam saß ein Mädchen aus Frankfurt 25 Monate in einem Versteck im Hinterhaus und schrieb in ein Tagebuch, das war Anne Frank. Als die Deportationen in den Niederlanden begannen, im Februar 1941, organisierten kommunistische Niederländer einen Generalstreik, den »Februaristaking«, zu dem Dirk van Nimwegen aufrief. Der Streik wurde blutig niedergeschlagen.

Pieter van der Weij arbeitete in dieser Zeit mit seinem Vater Tiede und seinen Brüdern Sjouke und Theunis in der familieneigenen Druckerei in Leeuwarden. Klaas nicht. Klaas wollte nicht Drucker sein, er hatte andere Pläne, doch es war Krieg und die Deutschen schickten ihn zur Zwangsarbeit nach Berlin. Der Vater und seine Söhne druckten Zeitungen, Zeitschriften und Bücher für die Deutschen, aber nicht nur, sie druckten auch andere Zeitungen, »Vrij Nederland« (Freie Niederlande) und »Trouw« (Treue), und die Inhalte dieser Blätter stimmten nicht mit den Zielen der deutschen Besatzung überein. Es ist nicht bekannt, ob Tiede und seine Söhne das vorher lange überlegt und abgewogen haben, ob sie mit Klasina in der Küche saßen und diskutierten, ob Tiede das alles allein beschloss oder ob es nichts zu beschließen gab, weil er wusste: Das musst du jetzt tun. Bekannt ist, dass Zeitungen viele Verteiler brauchen, und dass ein Verteiler in die Hände der Deutschen fiel und man ihm versprach, ihn zu verschonen, wenn er den Namen der Drucker verrate. Er verriet sie, doch gerettet hat ihn das nicht.

Pieter fuhr am Morgen des 20. März 1944 zur Arbeit. Er saß auf dem Fahrrad und er hatte ein Brot auf dem Gepäckträger und winkte Jouk zu. Das war das vorletzte Mal, dass sie ihn sah. Sie war schwanger und ihr Sohn Tiede war vier. Das letzte Mal sah Jouk Pieter am Zug, mit dem die Deutschen den Vater und die Brüder verschleppten. Jouk stand auf dem Bahnsteig und schrie. Sie war außer sich. Aus dem Durchgangslager schrieb Pieter Briefe nach Hause, er fragte darin, wie Tiede sich auf dem Dreirad mache.

Die Brüder und der Vater wurden in eins von fünf deutschen KZs innerhalb der Niederlande gebracht, Kamp Vught bei ’s-Hertogenbosch. Dann brachte man sie in das KZ Sachsenhausen, nördlich von Berlin, und dann trennte man sie. Pieter und Theunis kamen nach Neuengamme in Hamburg, Sjouke nach Bergen-Belsen bei Celle, Vater Tiede nach Groß-Rosen in Polen. Tiede starb in Groß-Rosen am 22. Januar 1945, morgens, kurz nach halb sechs. Akute Darmentzündung, Abmagerung und Herzschwäche wurde im Totenbuch von Groß-Rosen notiert.

Sjouke starb im April, kurz vor Ende des Krieges. Er wurde in einen von drei Zügen gezwungen, mit 6800 Juden, Geiseln, die in das KZ Theresienstadt in Tschechien kommen sollten, man wollte sie später austauschen. Sjouke war kein Jude. Die Züge verließen am 6., am 9. und in der Nacht auf den 11. April das KZ. Am 15. April wurde das Lager von den Briten befreit. Ein Zug erreichte Theresienstadt, einer wurde nach sieben Tagen bei Magdeburg von Amerikanern gestoppt, und der dritte irrte durchs Land und wurde beschossen, in seinen Waggons brach Typhus aus. Man behängte den Zug mit weißen Tüchern und Laken, und wenn er hielt, wurden die Toten neben den Gleisen verscharrt. Am 23. April öffneten Soldaten der Roten Armee die Türen der 46 Waggons, in der Nähe von Tröbitz, 60 km nördlich von Dresden. Sjouke überlebte die Fahrt und 35 weitere Tage. Sein Vater und seine Brüder waren bereits tot.

Theunis und Pieter starben in Neuengamme. Theunis am 17. Dezember 1944 und Pieter einen Tag davor, in einem Außenlager von Neuengamme, in Ostfriesland, in Engerhafe. In diesem Dorf lebte damals meine Großmutter Elsche Müller, von allen Elli genannt. Sie war Krankenschwester der »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« und davor Gruppenführerin im »Bund Deutscher Mädel« gewesen. Als sie die »dunkle Masse an Männern« sah, so hat sie es später erzählt, kehrte sie um, schloss sich ein und ließ die ganze Nacht das Petroleum brennen, oder war es schon Strom? Sie erinnerte sich nicht genau. Sie hatte im Bett gelegen, in ihrem Zimmer in Engerhafe, und sie hatte die Augen nicht schließen wollen, damit die Bilder des Grauens nicht wiederkämen. Pieter wurde neben der Kirche verscharrt, offiziell starb er an Durchfall. Der Arzt, der den Totenschein ausstellte, hieß Dr. Schomerus und er war gut mit Familie Müller bekannt.

188 Männer haben die Zeit in Engerhafe nicht überlebt und ihre Namen sind in zwei Steinblöcke geschlagen, die neben dem Friedhof stehen. Bei einem Ausflug 2005 sah ich diese zum ersten Mal und las die Namen laut vor. Seitdem fuhren Elli und ich manchmal dorthin. An einem Tag im Frühling 2010, Elli war 93, fanden wir vor den Namen ein Gedicht. Auf einem Stück ausgeblichenem Papier, beschwert von einem Stein, stand auf Niederländisch: »Op de graven van beton is een bloem geboren, weer wetend van de zon.« (Auf den Gräbern aus Beton ist eine Blume geboren, wieder der Sonne gewiss.) Unter den Zeilen stand ein Name: Marleen van der Weij.

Klasina hatte ihren Mann und drei Söhne verloren. Sie wurde ihres Lebens nicht mehr froh. Sie starb am 14. Mai 1973. Klaas, der vierte der Brüder, kehrte 1944 von der Zwangsarbeit zurück aus Berlin. Er hatte gesehen, wie die Bomben fielen, und er hatte Tuberkulose. Er lag im Bett, als die Deutschen die Brüder und den Vater holten, ihn ließen sie liegen, aus Angst sich anzustecken. Klaas überlebte. Am 1. Juli 1946 übernahm er die Druckerei. Er blieb verschlossen und in sich gekehrt, aber um Tiede und seine Schwestern kümmerte er sich. Tiede war vier, als Pieter starb. Jouk nahm die Nachricht entgegen und sprach zu ihren Kindern darüber fast nie mehr ein Wort. Tiede dachte, bis er zehn war: Der Vater kommt noch zurück. Jouk hat nicht wieder geheiratet. Sie arbeitete und brachte die Kinder durch, sie versuchte, nur das Gute zu sehen, Trauer und Wut kamen nicht vor. Jouk starb 2001 in einem Altersheim. Tiede heiratete Nynke und sie bekamen zwei Kinder: Pieter und Marleen. 1994 kam ein Journalist zu Tiede und fragte nach der Druckerei, so kam es, dass Tiede das erste Mal über den Vater sprach. Tiede hat seitdem Spuren gesucht, er hat den Namen seines Vaters in Engerhafe gefunden, er ist oft dort gewesen, und an Pieters Grab, auf einem Friedhof in Osnabrück. 1952 hat ein Suchdienst die Leichen in Engerhafe exhumiert und die sterblichen Reste von vielen der 188 zurück in die Heimatländer gebracht. Jouk lehnte das damals ab, sie glaubte nicht, dass das, was sie bekommen würde, die richtigen Knochen seien. Später, so heißt es, habe sie es bereut. Bei Tiedes letztem Besuch in Engerhafe, das war im April 2010, nahm er ein Gedicht seiner Tochter Marleen mit und legte es vor die 188 Namen unter einen Stein.

Marleen bekam Post. Ob sie eine Tochter oder Enkelin von Pieter van der Weij sei, ich hätte ein Gedicht mit ihrem Namen gefunden. Sie schrieb gleich zurück: Ja, das bin ich.

Marleen hat Elli gefragt, was sie damals gedacht habe. Was das für Menschen seien, die halb verhungert durch Engerhafe liefen, die die Toten hinter sich über die Straße zogen. Elli sagte, sie habe gedacht, das seien die Bösen, die Verbrecher, das habe man ihr so erzählt. Ich dachte: Das wollte man wohl auch so glauben. Elli sprach von der Vermieterin, die wollte, dass sie das Licht auslösche, von bettelnden Männern, die den Rauch ihres Schornsteins gesehen hatten, und von denen, die ihr Fahrrad mitnehmen wollten, sie versteckte es auf dem Dachboden. Elli saß am Tisch und ihre Augen sahen durch alles hindurch, ihre Hände lagen im Schoß. Marleen sagte auf Englisch zu mir: »Sag ihr, dass ich nicht will, dass sie sich schuldig fühlt.« Sie sagte es leise und schnell. Ich nickte und schwieg. Elli sagte: »Die Deutschen«, sie sagte: »unsere Deutschen mussten die Latrinen des KZs sauber machen«. Und: »Den Arzt kannte ich gut, er musste den Totenschein schreiben, alles wurde genau notiert, er hat mir oft davon erzählt.« Marleen schaute fragend über den Tisch, ich übersetzte, einiges, nicht alles. Marleen zeigte Elli die Fotos von Tiede, Pieter, Sjouke und Theunis. Sie zeigte mit dem Finger auf den, der ihr Opa gewesen war, und Elli tauchte von weit her wieder auf. »Was für ein schmucker Kerl.« Marleen trank eine weitere Tasse Tee, er schmeckte ihr, Elli bemerkte es und lächelte ihr zu. »Kommen Sie wieder, Sie sind jederzeit herzlich willkommen.« Dann standen Elli und Marleen auf, sie schüttelten sich die Hände, und Marleen fragte auf Deutsch mit Akzent, ob sie sie »knuffeln« dürfe, Elli drehte sich zu mir: »Was will sie?«, ich sagte: »Dich drücken.« Elli sagte: »Ach so.« Sie umarmten sich, es sah sehr herzlich aus.

Marleen stellte zwei Töpfe mit Blumen vor die Blöcke aus Stein. »Eine für meine Familie und eine für Elli.« Sie zündete vier Kerzen an und verharrte schweigend davor, dann sagte sie: »Es ist gut, alle vier Brüder beisammen zu sehen.«

Wir setzten uns auf eine Parkbank, auf der anderen Seite der Straße, vor ein Schild, auf dem stand: Hier befand sich die Latrinenanlage des KZs Engerhafe. Wir aßen Brot und Käse, Tomaten und Lakritz. Eine Frau zog ihre Hunde an uns vorbei und es war sehr warm. Wir waren müde und wir begannen in unseren Muttersprachen zu sprechen, manches verstanden wir, anderes nicht. Wir hatten kleine schwarze Punkte auf der Haut, überall, Gewittertierchen, und dunkle Wolken hingen tief über den Wiesen, aber sie kamen nicht näher, sie blieben am Ende des Himmels, des Stückchens Himmel, das man als Enkelin an diesem Tag von jener Parkbank aus sah.

Marleen kam wieder. Sie brachte ihre Eltern mit, ihren Bruder, ihre Tante, und Sjoukje, 88-jährig, mit ihrer Tochter und deren Mann. Alle setzten sich auf ein Podium in Engerhafe und erzählten den Menschen aus dem Ort und der Umgebung im Saal, wer Pieter gewesen war und wie das gewesen ist, ohne ihn, seine Brüder und seinen Vater weiterzuleben. Sie weinten auf dem Podium und im Saal war es sehr still. »Nie konnte ich mit meiner Mutter darüber sprechen«, sagte Sjoukjes Tochter Wies, die neben Sjoukje saß, unter Tränen, und Tiede sagte: »Dafür konnte ich mit Sjoukje sprechen, aber mit Jouk nicht, was für dich möglich gewesen war.«

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