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André Coste
ОглавлениеAndré Coste war Bäcker. Er kam aus Frankreich, aus der Region Rhône-Alpes im Departement Drôme, im Süden des Landes. Der Ort seiner Herkunft ist klein. Er heißt Claveyson und er hat 837 Einwohner, im Jahr 1911 waren es sogar 902. Am 24. Januar 1911 brachte Isabelle in Claveyson André zur Welt. Isabelle war von den Ursulinen großgezogen worden, sie war 22 Jahre alt und es war ihre erste Geburt. Ihr Mann war Albert. Albert war Bürgermeister des Ortes und er war Kommunist. Er war strikt eingestellt gegen Kirche und Religion, und seine Frau Isabelle war das auch.
André wuchs heran und verliebte sich in Marcelle, eine katholische Frau. Diese sang im Kirchenchor mit, und es heißt, man sei sich nach der Mitternachtsmesse an Weihnachten nähergekommen und aus dieser geheimen Begegnung entstamme ein Kind. Nun besaßen die Eltern ein großes Anwesen, auf dem Tabak und Spargel wuchsen, und im Schuppen neben den Wohnräumen hingen die Tabakblätter zum Trocknen von Schnüren herab. André hätte als Erstgeborener Anrecht auf dieses Anwesen gehabt, auch er hätte also Tabakblätter geerntet und getrocknet, und Spargel aus der Erde herausgeholt. Doch der Ort war zu klein und in Claveyson wussten bald alle, dass der Sohn des kommunistischen Bürgermeisters eine katholische Frau geschwängert hatte. Für Familie Coste war das eine Schande. André packte seine Sachen und floh. Er ging nach Grenoble, 80 Kilometer entfernt, und lernte dort das Handwerk des Backens. Marcelle gebar im September 1934 eine Tochter. Es waren Marcelles Eltern, die das Kind großzogen, denn ohne Mann musste Marcelle arbeiten gehen.
Zwei Jahre später kam André zurück in die Nähe von Claveyson. Er arbeitete erst in Valence, 35 Kilometer Süd, und dann in Tain l’Hermitage, 15 Kilometer Südwest. Dort kaufte er eine Bäckerei, 1936, in dem Jahr, in dem er auch heiratete: Marthe, eine katholische Frau. Die Mutter von Marcelle wusste, wo der Vater des Kindes war, das sie großzog, und nicht selten passierte es, dass sie – resolut, wie sie war – in der Bäckerei in Tain I’Hermitage auftauchte und nach Geld verlangte. Andrés Frau ahnte also, dass da irgendetwas noch war. Am 8. Januar 1939 brachte Marthe eine Tochter zur Welt. Marthe hätte sie Lucienne genannt, nach dem Heiligen dieses Tages, Sankt Lucian, aber André widersprach: »Nein, sie heißt Monique.« Später bekam sie ein weiteres Kind, einen Sohn, Alain. Die junge Familie ging zurück nach Valence, und gleich hinter Valence beginnt der Vercors.
Der Vercors ist ein Gebirgsmassiv, das in diesen Jahren an Bedeutung gewann, denn es war Krieg. Am 14. Juni 1940 besetzten deutsche Truppen Paris. Frankreich wurde geteilt in eine okkupierte Zone im Norden und eine freie Zone im Süden. Die Regierung im Süden kooperierte eng mit den Besatzern. Auch der Vercors liegt im Süden, doch die Berge des Vercors gehörten der Résistance. 4000 Kämpfer sollen es gewesen sein, die sich in den Schluchten und Pässen auskannten, die sich dort versteckten und Überfälle organisierten, mit großem Rückhalt, so heißt es, aus der Region. Die Schroffheit der Zweitausender-Gipfel und die tief eingeschnittenen Täler gaben den Widerstandskämpfern, Maquisards genannt, Schutz. Die Alliierten versprachen Verstärkung und schwere Waffen und so rief man im Juni 1944 die freie République du Vercors aus.
André war nicht in den Bergen, André war in der Bäckerei. Man weiß nicht genau, wie er mit der Résistance verbunden war. Eine Geschichte besagt: Er buk Brot für die Maquisards. Eine andere sagt: Er schmuggelte Waffen im Mehl. Vielleicht ist es der Feindschaft zwischen Kirche und Kommunismus in der Familie Coste geschuldet, dass auch erzählt wird, es sei ein als Priester verkleideter Kunde gewesen, der ihn verriet. Fragt man heute die Überlebenden der Maquisards, so sagen diese: Wir wissen nicht, was er tat, darüber sprach man nicht, wir misstrauten uns. Jeder hätte ein Falscher sein können. Wir schwiegen. Wir führten nur die Befehle aus.
Monique war viereinhalb Jahre alt, 1943, als uniformierte Männer in die Bäckerei eintraten und nach dem Vater fragten. Monique weiß bis heute, dass der Vater die weiße Bäckermütze trug und die Schürze und das Bäckerhemd, blau-weiß kariert, und dass er Mehl an den Händen hatte. Sie sieht die Stufen der Bäckerei, den Laden, die Küche dahinter, das Zimmer, und sie weiß, dass es ein Samstag war. Dann war der Vater weg. Sie besuchten ihn im Gefängnis, die Mutter, Monique und Alain, erst in Valence und dann in Lyon, 100 Kilometer entfernt, in der Festung Montluc. In Montluc saßen Tausende von Menschen, die Feinde der Nazis waren, hinter dicken Mauern, isoliert. Es waren Gitter zwischen André, seiner Frau und seinen Kindern, und man hörte Gewehrsalven in der Nähe. Und das, sagt Monique heute, vergisst sie nie, und es habe Jahrzehnte gebraucht, um zu vergeben. Die Mutter schrie, dass sie nicht gehen werde, bevor der Vater die Kinder noch einmal umarmt habe. Sie haben sich umarmt und sich nie wiedergesehen. Jede Woche sind sie zum Bahnhof gegangen und haben gehofft, dass er kommt. Züge kann Monique nicht mehr sehen, und Abschied, das heißt für sie: Tod.
André Coste starb am 27. November 1944 in Engerhafe, dem Dorf, in dem meine Großmutter lebte, sie war damals 27 Jahre alt. Ihr Mann war an der Front in Russland und vorher war er »unabkömmlich« gewesen, er war bei der Bahn. Man weiß, was die Bahn in diesen Jahren getan hat: Sie hat Waffen transportiert und Soldaten an die Fronten und Menschen in die Lager, das heißt: in den Tod. Elli war entsetzt über die 2200 Männer, die jeden Morgen und jeden Abend durch die Straße des Dorfes liefen. Sie hat die Toten gesehen, die sie hinter sich herzogen, und die Erschöpften. André Coste wurde neben der Kirche begraben.
Im Vercors hatte man die Republik ausgerufen. Für die deutschen Besatzer eine Provokation. Am 21. Juli 1944 schickten sie Gebirgsund Fallschirmjäger und einen Trupp aus einer Panzerdivision. Es waren keine Einheiten der SS, es waren Gruppen der Wehrmacht: die Gruppen Schwehr und Seeger, Zabel und Schäfer. Gruppe Schäfer waren die Fallschirmjäger, die, mit einem Ostbataillon als Verstärkung und dem SS-Mann Werner Knab, einem Juristen, die Dörfer Vassieux-en-Vercors, La-Chappelle-en-Vercors und zahlreiche Einzelgehöfte niederbrannten und über 70 Menschen aus dem Dorf Vassieux erschossen. Auch die gefangenen Widerstandskämpfer wurden erschossen, 639 von ihnen, und Zivilisten, insgesamt 201. Die anderen Widerstandskämpfer flohen in den unzugänglichen Wald. Die deutschen Soldaten entdeckten auch die Grotte de la Luire, eine Höhle, in der sich ein Lazarett befand. Sie ermordeten die 19 Verwundeten, die zwei Ärzte und den Priester. Zwei Krankenschwestern wurden in das KZ Ravensbrück verschleppt. Eine von ihnen konnte fliehen, Rosine Cremieux, später schrieb sie auf, was geschehen war.
Monique half der Mutter in der Bäckerei. Ein paar Jahre ging sie zur Schule, dann erkrankte die Mutter, also ließ sie es wieder und half ihr aus. 1952 wurden die sterblichen Überreste von André nach Frankreich gebracht. An den Zug der Beerdigung erinnert Monique sich genau. Vorne liefen die Musiker, dann die Fahnenträger, dann die Familie und schließlich Marthe, die Mutter, ganz hinten, sie war eine katholische Frau. Später war Marthe einverstanden, als ihre Tochter sagte, sie wolle eine Ordensschwester sein. Die Großeltern Isabelle und Albert waren das nicht. Monique hat Isabelle das letzte Mal an dem Tag gesehen, als sie ihr sagte, dass sie ins Kloster gehe. Die Großmutter meinte, sie würde das Andenken des Vaters beschmutzen, packte sie am Oberarm und warf sie kurzerhand raus. Isabelle starb 1962, Albert 1979. Ihn hat Monique wiedergesehen, vier Monate vor seinem Tod. Sie hat ihr Schwesterngewand zu Hause gelassen und ging in Zivil. Nie hatte er auf ihre Anfragen reagiert. Jetzt sagte er: »Warum bist du nicht früher gekommen?«
Monique wurde eine »Kleine Schwester Jesu«. Sie lebte 35 Jahre in Portugal, in einem armen Viertel von Lissabon mit afrikanischen Einwanderern, auf einem illegal besetzten Grund. Auf den Fotos, die sie zeigt, sieht man Hütten aus Blech und aus Stein, und lachende Männer zwischen den Ordensschwestern, die helfen, die Steine aufeinanderzuschichten. Zur Expo 1998 wurde ein großer Teil der Siedlung zerstört. Damit der internationale Besuch keine Armut sähe.
Andrés Sohn Alain hat Spuren des Vaters gesucht, sein Leben lang. Er wurde Bäcker aus Leidenschaft. Und er hasst die Deutschen bis heute. Sein Sohn Christophe wollte auch Bäcker werden, doch er verunglückte mit dem Moped, tödlich, 17-jährig, am letzten Tag seiner Ausbildung. Alain sagte: »Ich habe nie mit meinem Vater gebacken und nie – als Bäckerkollege – mit meinem Sohn.« Er ging hin, ohne jemandem etwas zu sagen, und grub die Urne des Vaters aus. Er bettete sie noch einmal um, diesmal in das Grab seines Sohnes.
2005 rief Alain seine Schwester an und sagte sehr laut in das Telefon, ob sie gewusst habe, dass es eine Halbschwester gäbe? Monique verneinte dies überrascht und Alain fuhr wutentbrannt zu den Onkeln, die es bestätigen mussten: Das ganze Dorf wusste es, die Familie, nur die beiden Geschwister nicht. Die erste Tochter von André, deren Mutter Marcelle im Kirchenchor in der Mitternachtsmesse gesungen hatte, hatte zwei Kinder bekommen: Line und Gilles. Line hat hartnäckig Stammbaumforschung betrieben und nachgefragt, bis sie die Spur gefunden hatte. Der Zufall half auch dabei, ein Zeitungsartikel über André. Die Geschwister telefonierten, sie trafen sich, erst zu zweit, dann zu dritt, man verstand sich auf Anhieb sehr gut. Monique begann zu verstehen, dass sie gar nicht die Älteste war, Alain begann zu verstehen, was seine Mutter getragen hatte, aber niemand konnte verstehen, warum der Vater beiden Töchtern denselben Namen gegeben hatte: Monique und Monique. Alain hatte nicht mehr nur eine Schwester, von dem Tag an hatte er zwei, zwei Moniques. Monique, die Ordensschwester geworden ist, überließ der Älteren ihren Namen. Sie nannte sich um in »Mónica«, so wie man in Portugal ihren Namen ausspricht: Mónica Coste.
Das Treffen mit Mónica war in Paris, in einem Vorort von Paris, in Vitry-sur-Seine. Die Häuser sind dort nicht hoch, sie haben nur ein oder zwei Etagen, sie stehen für sich, Steinplatten bis zur Tür, etwas Garten. Auch die Läden in den Einkaufsstraßen sind klein. Es gibt Ahornbäume davor und Cafés, Farbe an den Wänden und Bilder: Graffitis, Kunst. Die Hauptstraßen des Ortes heißen »Avenue du Groupe Manouchian«, eine Partisanengruppe der Résistance, und »Rue des Fusillés«, die »Straße der Erschossenen«. Steigt man am Bahnhof des Ortes aus und läuft zu dem Haus der »Kleinen Schwestern«, passiert oder streift man die Straßen »Rue Gabriel Péri«, »Avenue Danielle Casanova« und »Avenue Guy Môquet«. Das sind Namen von Kommunistinnen und Kommunisten, die von den Nazis getötet wurden.
Das Haus in Vitry-sur-Seine ist ein Treffpunkt der durchreisenden »Kleinen Schwestern«. Drei Frauen leben dort und beherbergen die, die auf dem Weg sind in andere Länder, zu anderen Gemeinschaften. Sechs Schwestern aus drei Kontinenten saßen am Tisch und jede von ihnen sprach mehrere Sprachen und hatte in entferntesten Orten gelebt. Es war kalt an dem Tag der Begegnung, aber die Sonne schien hell in das Zimmer. Es war Lichtmess, und zu Lichtmess gehen die Schwestern natürlich zur Kirche und im Anschluss daran essen sie Crêpes. Es wurde geplaudert und auch gelacht. Bis dann die Frage fiel: Warum der Besuch denn die Reise gemacht habe? Ja, überhaupt, was führte den Besuch von Deutschland so weit hierher?
Mónica sprach über das Leben von André in einem sehr kleinen Zimmer unter der Dachschräge. Sie hatte Bleistiftnotizen auf etlichen Blättern Papier und Fotos. Es gab viel zu erzählen und sie hat sehr viel geweint. Am Abend und am nächsten Morgen liefen wir durch die eiskalte Luft zum Gemeindesaal einer Kirche. Die Messen wurden von drei verschiedenen Priestern gehalten, von einem schwarzen, einem gesichtsgelähmten und einem alten, beständig schmunzelnden. Der Raum, in dem sich die Schwestern zur Stille trafen, war mit Teppichen ausgelegt, die Schuhe blieben vor der Tür. Übernachtet habe ich in dem Zimmer, in dem der Kopierer stand und die Nähmaschine, unruhig war die Nacht und kurz, ich lag in einem Netz von Straßennamen und Sätze des Nachmittags flatterten um mich herum. Gefrühstückt wurde im Schweigen. Später brachte Mónica mich zum Bahnhof, zum Zug. Gut verstaut hatte ich das Geschenk: Eine Weltkarte, auf der Indonesien im Zentrum liegt und Europa rechts unten am Rand. Wir gingen den Aufgang hinauf, umarmten uns und standen unschlüssig da. Eine junge Frau sprang mit Anlauf über die Zugangssperre vom Gleis, in dem Moment, als Mónica sagte: »Und jetzt geh.«