Читать книгу Funkelsee – Versunken in der Pferdebucht (Band 2) - Ina Krabbe - Страница 4

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1. Kapitel

Malu trat fester in die Pedale. Der kalte Fahrtwind zog durch ihre dünne Jacke und kroch unter die Jeans. Sie fröstelte. Was aber nicht nur an der feucht-kalten Herbstluft, sondern auch an dem einsamen Feldweg lag, in den sie jetzt einbog und der sich in der Dämmerung endlos zwischen Wiesen und Feldern entlangzog. Malu sah sich unbehaglich um, keine Menschenseele weit und breit. Es musste inzwischen fast halb neun sein, wer sollte sich um diese Zeit auch noch hier herumtreiben? Den Weg benutzten nur die Bauern, die zu ihren Feldern wollten, Hundebesitzer oder Besucher von Schloss Funkelfeld. Und außer ihr wollte da jetzt keiner mehr hin.

Sie war einfach viel zu spät vom Muffins aufgebrochen. Erst als Hennes, der Besitzer des kleinen Bistros, ihnen schon fast die Stühle unter dem Hintern weggezogen hatte, weil er endlich schließen wollte, hatte sie mit Lea kichernd das Muffins verlassen.

Ihre beste Freundin Lea hatte die erste Woche der Herbstferien mit ihrer Mutter in einem Wellnesshotel mit angeschlossener Schönheitsfarm verbracht. (Lea sah zum Glück genauso aus wie vorher!) Obwohl sie ihr jeden Tag mindestens hundert Nachrichten geschickt hatte (ein sicheres Zeichen dafür, dass Lea stinklangweilig gewesen war!) und Malu eigentlich schon alles hätte wissen müssen, hatten sich die beiden noch stundenlang Neues zu erzählen. Außerdem hatte Lea den ganzen Nachmittag geheimnisvolle Andeutungen gemacht, dass Malu am nächsten Tag eine Überraschung erleben würde – und was für eine! Damit würde sie niemals rechnen, sich aber garantiert freu­en. Vielleicht. Mehr war aus Lea nicht herauszubekommen. Malu platzte fast vor Neugier und ihre Freundin kringelte sich vor Lachen. Und so hatten die beiden gar nicht gemerkt, wie spät es plötzlich geworden war. Zum Glück hatte Malus Mutter heute Nachtschicht und würde gar nicht mitbekommen, um welche Uhrzeit ihre Tochter noch mutterseelenallein durch einsame Landschaften radelte. Spätestes um halb acht musste sie normalerweise zuhause sein. Sie hätte ihr auf jeden Fall eine Woche Hausarrest aufgebrummt oder – schlimmer noch – eine Woche Stallverbot!

Rechts von ihr zog sich jetzt das Stoppelfeld entlang, über das sie am Morgen noch mit Papilopulus geritten war. Natürlich nur langsam, erst im Schritt und dann nur ganz kurz im Trab. Papi war zwar das wundervollste Pferd der ganzen Welt, aber der dunkelbraune Wallach war schon ziemlich alt und Malu wollte ihn nicht überfordern. Sie seufzte. Mit ihm hätte sie sich jetzt irgendwie sicherer gefühlt als auf ihrem Mountainbike.

Endlich tauchte vor ihr der Wald auf, der schon zu den Ländereien von Schloss Funkelfeld gehörte. Jetzt war es nicht mehr weit. Ein Stückchen noch und dann konnte sie in die alte Kastanienallee einbiegen, die bis zum rostigen Schlosstor führte. In ihrer hinteren Hosentasche spürte Malu ein kurzes Vibrieren und dann kam dumpf ein DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU daraus hervor. Sie lächelte, Lea war bestimmt gerade zuhause angekommen und hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Ob sie Ärger bekommen hatte? Oder waren ihre Eltern noch bei Freunden gewesen, was Lea gehofft hatte? Sie würde ihr später zurückschreiben, jetzt wollte sie erst mal so schnell wie möglich selber nach Hause.

Malu löste die klammen Finger vom Lenker und hauchte hinein. Ob Edgar sie vermisst hatte? Bestimmt nicht, sonst hätte er längst angerufen und sie zur Schnecke gemacht. Manchmal übertrieb er seine Rolle als älterer Bruder schon ziemlich, obwohl er bis vor ein paar Monaten noch gar nicht gewusst hatte, dass er überhaupt eine Schwester hatte. (Genauer gesagt Halbschwester!) Und sie hatte von der Existenz ihres Bruders genauso wenig gewusst – na ja, sie hatte eine ganze Menge nicht gewusst, noch nicht mal, wer ihr Vater war! Und auch nicht, dass sie eine echte von Funkelfeld war. Eigentlich kam es ihr bis heute total unwirklich vor, dass ihr Vater, der auch Edgars Vater war, als Erbe von Schloss Funkelfeld das ganze Anwesen Edgar, seinem ältesten Kind, vererbt hatte und sie jetzt zusammen mit ihm und ihrer Mutter dort wohnte.

Es war ein bisschen wie in einem superkitschigen Traum und Malu hatte manchmal Angst davor aufzuwachen und wieder in ihrem Bett in der kleinen Dachgeschosswohnung in der Stadt zu liegen. Sie würde sich seufzend umdrehen und versuchen noch mal einzuschlafen, um zurück in diesen wunderbaren Traum zu kommen.

PFFFIITTT! Ein pfeifendes Geräusch riss Malu aus ihren Gedanken. Im nächsten Moment holperte ihr Vorderrad nur noch auf der Felge und der Mantel schlackerte luftlos herum. Fluchend hielt sie an und besah sich den Schaden. Der Reifen war komplett platt. Was für ein megamäßiger Mist!

Sie blickte sich etwas beklommen auf dem einsamen, dusteren Feldweg um. Hilfe konnte sie hier wohl keine erwarten. Aber es war ja auch nicht mehr weit bis zum Schloss. Musste sie eben schieben. Kurz spielte sie mit dem Gedanken Edgar anzurufen, aber dann würde sie sich eine ziemliche Standpauke anhören müssen und sie hoffte ja immer noch, es unentdeckt in ihr Zimmer zu schaffen.

Sie packte ihr Mountainbike und schob tapfer drauflos. Rechts kamen schon die Weiden in Sicht, die zum Schloss gehörten, aber an benachbarte Bauern verpachtet waren, da es im ehemaligen Gestüt Funkelfeld zur Zeit nicht besonders viele Pferde gab. Links von ihr erhob sich der Wald wie eine dunkle Wand, hinter der sich der Funkelsee verbarg. Malu versuchte zwischen den Bäumen einen Blick darauf zu erhaschen, aber alles, was sie sehen konnte, waren weiße Nebelschwaden, die langsam vom Seeufer durch die Bäume auf den Weg krochen. Malu lief ein Schauer den Rücken herunter und sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten.

Ok, es war Herbst, da war es völlig normal, dass sich über Gewässern Nebel bildete, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem war es verdammt noch mal gruselig! Malu fiel in einen zügigen Laufschritt, so schnell das mit dem platten Fahrrad, das sie neben sich herzerrte, eben ging. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als endlich die dicken Kastanienbäume vor ihr auftauchten. Gleich hatte sie es geschafft!

Da knackte es neben ihr im Wald – so laut, als ob sich etwas Großes, Schweres durch das Unterholz bewegte. Malu stoppte erschrocken und starrte in das undurchdringliche Gewirr aus Ästen. Ihr wurde eiskalt und gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus. Was um Himmels willen war das?! Denn was es auch war, es kam direkt auf sie zu!

Wie angewurzelt stand sie da. Und auch wenn es in ihrem Kopf schrie: Lauf weg, hau ab! – es ging nicht, sie konnte sich einfach nicht bewegen. Sie starrte ins Gebüsch und versuchte in den Nebelschwaden etwas zu erkennen.

Doch was sie dann hörte, ließ augenblicklich alle An­­spannung von ihr abfallen: ein leises, warmes Schnauben. Malu hatte das Gefühl, nie ein lieblicheres Geräusch gehört zu haben: Pferdeschnauben! Erleichtert lockerte sie ihre Finger – sie hatte gar nicht gemerkt, wie krampfhaft sie den Fahrradlenker umklammert hatte.

Es knackte wieder, Hufe tappten auf festem Waldboden. Ob es eins von ihren Pferden war? Aber was machte das zu so später Stunde hier im Wald?

Malu ließ ihr Fahrrad auf den Grasstreifen fallen und näherte sich vorsichtig dem Waldrand. »Papilopulus«, rief sie leise nach ihrem Pferd. »Papi, komm.«

Im Wald war es plötzlich ganz still, das Pferd war stehen geblieben. Dann konnte es Papilopulus schon mal nicht sein, der wäre sofort zu ihr gekommen.

Zwischen den dichten Zweigen der Haselnusssträucher und Holunderbüsche entdeckte Malu eine kleine Lücke und zwängte sich hindurch. Dahinter war tatsächlich ein Weg zu erkennen – wenn auch ein ziemlich zugewachsener –, der in den Wald hineinführte. Verwundert drückte Malu ein paar Äste zur Seite, doch viel sehen konnte sie nicht. Schon nach ein paar Metern verschwand der Weg in einer dichten Nebelwand. Wie in einem Gruselfilm! Malu lief es schon wieder eiskalt den Rücken herunter.

»Rocco, Alibaba?«, krächzte sie die Namen der Pferde ihres Bruders. Vor ihr rührte sich immer noch nichts. Sollte sie umkehren? Vielleicht war es gar kein Pferd, sondern ein tollwütiges Wildschwein? Als ob sie kein Pferd von einem Wildschwein unterscheiden konnte! Malu kicherte. Aber das klang so grauenhaft in diesem stillen, dunklen Herbstwald, dass sie sofort wieder verstummte.

Vielleicht waren ja auch Luxor und Palisander ausgebüxt? Die beiden Turnierpferde, die seit letztem Monat auf Schloss Funkelfeld untergestellt waren, gehörten einer Freundin von Lenka. Mariella – Mariella Breitenstein! Malu verzog das Gesicht, als sie an das Gespann dachte. Lenka war eine ganz schön eingebildete Ziege, aber sie gehörte eben zur Familie (eine Art Halbcousine – leider!) und wohnte mit ihrem Vater Arno von Funkelfeld im alten Pförtnerhäuschen. Und Mariella? Malu konnte gar nicht so recht sagen, warum sie das Mädchen nicht mochte, eigentlich war sie immer freundlich, wenn auch ein bisschen überheblich. Wahrscheinlich reichte es auch schon, dass sie die Freundin von Lenka war. Auf jeden Fall waren die Breitensteins wohlhabend und ihre Pferde nicht irgendwelche Reitpferde, sondern reinrassige Holsteiner mit einem Stammbaum, der länger war als Malus eigener. (Obwohl sie da gar nicht so sicher war, die von Funkel­­felds ließen sich schließlich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen.) Die beiden Pferde hatten ein Vermögen gekostet, wie Mariella nicht müde wurde zu betonen. Der Umstand, dass diese edlen Tiere nun in den etwas heruntergekommenen Ställen von Schloss Funkelfeld standen, war nur der Tatsache zu verdanken, dass Mariella mit Lenka befreundet war. Und dafür mussten die Funkelfelds noch dankbar sein, denn die Breitensteins zahlten viel Geld für die Einstellplätze und das wurde auf dem Schloss dringend gebraucht. Zum Glück gab es seit diesem Sommer auch noch die Tauchschule von Mario Scherz, der ein Stück des Seeufers gepachtet hatte, um in dem klaren Wasser des Funkelsees Tauchkurse abzuhalten. Damit ließ sich wenigstens ein Teil der Kosten decken, die durch den Unterhalt des Schlosses entstanden.

Malu ging vorsichtig ein paar Schritte weiter und versuchte in dem Nebel die Umrisse eines Pferdes zu erkennen. Sollte es wirklich eines von Mariellas Pferden sein, das abgehauen war, würde das mit Sicherheit einen Riesenärger geben. Wenn Luxor oder Palisander auch nur einen Kratzer abbekamen, müssten sie wahrscheinlich eine horrende Summe Schmerzensgeld zahlen und Mariella würde in einen anderen Stall umziehen, Lenka hin oder her. Sollte sie vielleicht doch besser Edgar anrufen?

DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU tönte es schon wieder aus ihrer Hosentasche und obwohl der Ton durch den Stoff gedämpft war, machte es einen Höllenlärm! Vor ihr im Wald krachte es laut, schnaubte und dann preschte etwas knackend und knirschend durch die Büsche davon. Malus Herz machte vor Schreck einen Satz bis zum Hals. Mit zitternden Fingern fummelte sie ihr Handy aus der Hosentasche. Drei neue Nachrichten von Lea.

Habs geschafft. Bin einfach in mein Zimmer geschlichen und Mum hat nichts gemerkt. Ich bin zu gut!!!

Mist!! War doch nichts! Hier ist megamiese Stimmung! Bist du zuhause?

Meld dich! Sonst rufe ich die Polizei oder schicke meine Mutter, rat mal, was schlimmer ist???

Malu stellte ihr Handy auf Lautlos, damit es nicht noch mal so in den Wald trompetete, und tippte schnell zurück.

Bin noch unterwegs. Hier läuft ein Pferd rum. Ich muss sehen, ob es von uns ist. Voll gruselig hier. Alles voller Nebel.

Wieso bist du noch nicht zuhause???, kam es in Se­­kun­den­schnelle zurück. Niemand konnte so schnell tippen wie Lea.

Reifen platt, schrieb Malu zurück.

SUMMEN – Lea:

Was für ein Pferd?

SUMMEN – Lea:

Nebel???? Gruselig???

SUMMEN – Lea:

Bist du bescheuert???? Fahr nach Hause!!!!

Malu:

Gleich! Ich guck erst nach dem Pferd.

Schnell steckte Malu das Handy in die Hosentasche zu­­rück, sonst würde sie hier in einer Stunde noch im Nebel stehen. Lea konnte ewig so weiterschreiben.

Aber komischerweise fühlte sie sich jetzt etwas bes­ser – es gab noch eine Welt hinter dem Nebel-Gruselwald! Sie holte tief Luft und folgte dann langsam dem Weg in den Wald hinein. Wenn sie in fünf Minuten das Pferd nicht gefunden hatte, wollte sie Edgar anrufen. Und diese fünf Minuten würde sie auch das beharrliche Summen und Vibrieren in ihrer Hosentasche ignorieren.

Der Nebel hing wie Watte zwischen den Baumstämmen und schien alle Geräusche zu schlucken. Ob das Pferd noch in der Nähe war? Malu blieb stehen und lauschte angestrengt. Ja, tatsächlich, sie hörte ein leises Schnauben aus der Nebelwand. Nach ein paar Schritten schälte sich langsam die Kontur eines riesigen Pferdekörpers aus dem Nebel. Luxor? Palisander war kleiner und zarter, das konnte nur Luxor sein! Malu streckte ihre Hand aus, als ob sie ein Leckerchen zu vergeben hätte. »Komm, Luxor, na komm, ich hab hier was für dich«, säuselte sie.

Das Pferd machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, aber komischerweise wurden seine Konturen nicht klarer, es schien fast, als ob es mit dem Nebel verschmolzen war. Oder – als ob es selbst aus Nebel bestand! Malu zog ihre Hand zurück. Sie zitterte. Das war auf keinen Fall Luxor, der schwarze Wallach von Mariella. Das Pferd vor ihr wirkte durchsichtig, irgendwie schwebend. Ein Geisterpferd!

Als dieser Gedanke Malu durch den Kopf schoss, wollte sie schon über sich selber lachen. Ein Geisterpferd, so ein Quatsch! So etwas gab es nicht und schon gar nicht hier am Funkelsee. Aber das Lachen blieb ihr im Halse stecken und ihre Beine waren weich wie Quittengelee, als der weiße Riese jetzt gemächlich auf sie zukam. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen und reckte vorsichtig den Kopf nach vorne. Seine grauen Nüstern blähten sich weit, als versuchte er zu erschnuppern, ob Malu wirklich etwas in der Hand hatte.

Sie zeigte ihm ihre leeren Handflächen. »Gelogen«, flüsterte sie heiser. »Ich hab dich verwechselt. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören.« Malu ging langsam rückwärts, doch der Schimmel folgte ihr. Und als er jetzt den Kopf hob und nach rechts drehte, lief es Malu eiskalt den Rücken herunter. Es war, als wäre sie mitten in einen Gruselfilm geraten: In dem weißen Pferdekopf war da, wo eigentlich das linke Auge sein sollte – nichts!

Funkelsee – Versunken in der Pferdebucht (Band 2)

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