Читать книгу Funkelsee – Versunken in der Pferdebucht (Band 2) - Ina Krabbe - Страница 8

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5. Kapitel

In der Mitte des langgestreckten Stalltraktes führte ein Durchgang direkt in den Schlosspark. Und wie immer, wenn Malu durch diesen Torbogen lief, spürte sie, wie sie ruhiger und entspannter wurde. Es war ein bisschen so, als würde sie eine andere Welt betreten, eine alte, längst vergangene Zeit. Früher war hier eine gepflegte Parkanlage gewesen mit gestutzten Hecken, Blumenrabatten und Kräutergärten. Jetzt wuchs alles wild durcheinander, nur ein schmaler Weg führte durch den verwunschenen Garten. Allerdings hatten sie, seit Mario Scherz seine Tauchschule am See eröffnet hatte, die Büsche rechts und links zurückgeschnitten, um den Durchgang für ihn und seine Tauchschüler zu verbreitern.

Malus Mutter hatte die alte Gartenanlage auch direkt ins Herz geschlossen und, nachdem sie ins Schloss gezogen waren, angefangen die Beete vom Unkraut zu befreien und Büsche und Bäume zu bearbeiten. Obwohl sie das Projekt mit großer Hingabe verfolgte, hatte Malu Mühe irgendwelche Erfolge zu erkennen. Dazu war der Park einfach viel zu groß und zu dicht bewachsen und ihre Mutter hatte zu wenig Zeit. Schließlich hatte sie einen Vollzeitjob im Altenheim und dazu half sie noch dem alten Herrn Müller und Gesine im Haushalt. Und manchmal musste sie sich ja auch um ihre Tochter kümmern und um ihren frisch dazugekommenen Sohn – für Edgar hatte sie seit einem Monat offiziell die Vormundschaft übernommen.

»Gleich haben wir es geschafft, Papi«, sprach sie dem Pferd Mut zu, das mühsam einen Huf vor den anderen setzte. Sie strich ihm sanft über den Nasenrücken und schluckte die Tränen herunter, die ihr in den Augen brannten. »Die doofe Lenka wird sich noch wundern, du wirst mindestens hundert Jahre alt!« Natürlich wusste sie, dass Papilopulus nicht ewig leben würde und dass er schon alt war, aber sie wollte einfach nicht daran denken.

Die Zweige einer riesigen Trauerweide hingen wie ein Zeltdach über der kleinen Wegkreuzung, die die beiden nun passierten. Sie warf einen Blick auf das alte, viktorianisch anmutende Gewächshaus, das im hinteren Teil des Parks aus den Büschen ragte und sah, dass die Tür offen stand. Ob ihre Mutter schon aufgestanden war? Nach dem Nachtdienst schlief sie eigentlich immer bis mittags. Die exotischen Pflanzen, die noch Gesines Vater, der alte Baron von Funkelfeld, im Gewächshaus angepflanzt hatte, hatten es ihrer Mutter besonders angetan. Wann immer Rebecca Baumgarten Zeit fand, verschwand sie in dem Glashaus und wälzte alte Botanikbücher aus der Schlossbibliothek, um die merkwürdigen Pflanzen zu bestimmen, die hier wuchsen. Und tatsächlich hatte sie dabei schon so manchen Schatz gefunden. Na ja – zumindest botanische Schätze.

Malu seufzte und tätschelte gedankenverloren Papi­lopulus’ Hals. Schöner wäre es gewesen, sie hätte den richtigen Schatz vom Funkelsee gefunden – den sagenum­wobenen Familienschatz, den der alte Baron irgendwo ver­steckt hatte, nachdem er über dem Verlust seiner Toch­ter Esmeralda den Verstand verloren hatte. Vor ein paar Monaten hatte Malu gedacht, sie hätte ihn auf der Pferdeinsel im Funkelsee gefunden, zusammen mit Edgar und Lea, aber dann war es nur eine alte Puppe gewesen, ein Geburtstagsgeschenk für Gesines Schwester Esmeralda. Kein besonders wertvoller Schatz! Schade, denn den hätte Schloss Funkelfeld wirklich dringend gebraucht. Und obendrein hätten sie dann die Pferde vom alten Stumpe kaufen und damit retten können. Schneechen! Sie mochte gar nicht daran denken, dass ihr wundervolles Geisterpferd zum Schlachter sollte. Wenn es Papilopulus besser ging, musste sie sich unbedingt auf die Suche nach der Schimmelstute machen. Und dann würde sie sie nicht mehr hergeben!

Malu und Papilopulus gingen den Weg weiter, der zum See führte. Bald darauf wichen die Büsche rechts und links zurück und gaben den Blick auf den Funkelsee frei. Die große, weite Wasseroberfläche kräuselte sich leicht im Wind und ein milchiger Dunst lag über dem Wasser, in dem die Schemen der Pferdeinsel zu erkennen waren. Die ersten Blätter der umstehenden Bäume hatten sich schon gelb verfärbt. Nicht mehr lange und der Funkelsee würde orange glühen, wenn sich die ganze Farbenpracht des Waldes in ihm spiegelte. Malu liebte den Herbst, die kühle, klare Luft, das orange-rote Laub und die Ritte über die Stoppelfelder waren sowieso das Allerbeste!

Rot war jetzt vor allem das riesige Zelt der Tauchschule, das Marco und Henri am Bootssteg aufgeschlagen hatten.

In der Nähe des Ufers grasten Rocco und Alibaba, die jetzt die Köpfe hoben, als sie ihren Kollegen bemerkten. Alibaba wieherte leise, um Papilopulus willkommen zu heißen. Doch das alte Pferd war noch zu schwach, um zu antworten und ließ sich von Malu zu den anderen beiden hinüberführen. Sie nahm ihm das Halfter ab und klopfte ihm auf den Hintern. »Das ist erst mal dein neues Zuhause, Papi.«

Kritisch nahm sie die Wiese unter die Lupe, aber zum Glück konnte sie keine der gelben Giftblumen entdecken. Die Pferde waren hier also nicht in Gefahr.

Mario Scherz winkte zu ihr herüber, als er den Weg entlangkam und dann zielstrebig über die Wiese zum neuen Bootsanlegeplatz am See lief. Sein Neffe Henri folgte ihm wenig später. Malu war nicht allzu begeistert gewesen, als Edgar ihr erzählt hatte, dass sich eine Tauchschule auf Schloss Funkelfeld einmieten wollte, und dann auch noch ausgerechnet an ihrem Lieblingsplatz am See! Aber Mario zahlte eine großzügige Miete und das Geld konnten sie gut gebrauchen. Außerdem war er nett und sein Neffe Henri schien ja auch ganz ok zu sein.

Der muskulöse Mann verschwand jetzt in dem roten Zelt, das als Materiallager und Umzugskabine diente. Wer allerdings bei diesem herbstlichen Wetter und der nie­drigen Wassertemperatur einen Tauchkurs machen wollte, war Malu schleierhaft. Na ja, vielleicht ihre unnötige Großcousine. Sie hoffte nur, dass ihr dann ein fetter Wels in den Zeh beißen würde!

Sie blieb noch einige Zeit auf der Seewiese und beobachtete Papilopulus. Erst als sie ganz sicher war, dass er wieder einen festen Stand hatte und nicht mehr den Eindruck machte, als würde er jeden Moment zusammensacken, ging sie zum Schloss zurück. Plötzlich knurrte ihr Magen laut und vernehmlich und erinnerte sie daran, dass sie noch gar nicht gefrühstückt hatte.

Als Malu wenig später in die große, geräumige Küche trat, war niemand zu sehen. Das Päckchen, das Edgar heute Morgen bekommen hatte, stand noch auf dem Küchentisch und das Frühstücksgeschirr in der Spüle. Ihre Mutter schlief bestimmt noch. Malu warf einen Blick auf die Uhr, es war ja auch erst kurz vor zwölf. Sie ließ sich erschöpft auf die Küchenbank fallen. Nach ihrem Gefühl waren mindestens zehn Stunden vergangen, seit sie aus der Tür gerannt war, um Papilopulus zu helfen. Was für ein schrecklicher Morgen!

Kraftlos starrte sie vor sich auf den Tisch und überlegte, was sie sich zum Frühstück machen sollte, als ihr Blick magisch von dem Paket angezogen wurde. Was hatte Edgar da wohl bekommen? Neugierig zog sie das Päckchen zu sich heran und spähte hinein. (Wenn er es so offen hier stehen ließ, dann war das ja wohl erlaubt, oder?) Eine Schachtel und ein paar alte Briefumschläge, mehr konnte Malu nicht erkennen, denn in diesem Moment kam ihre Mutter im Morgenmantel die Treppe herunter. Schnell schob Malu den Karton von sich weg und machte ein unschuldiges Gesicht.

»Morgen, meine Süße«, begrüßte Rebecca ihre Tochter und wuschelte ihr durch die Locken.

Unwillig strich Malu ihre Haare zurück. »Morgen.«

Frau Baumgarten ging als Erstes zur Kaffeemaschine und stellte sie an. Dann wandte sie sich zu ihrer Tochter um. »Was war denn vorhin da draußen los? Ihr habt ja vielleicht einen Krach gemacht.«

Malu erzählte ihr haarklein von Papilopulus’ Zusam­menbruch und der Rettungsaktion mit Gesine, Edgar und dem Tierarzt.

»Du Arme, das war sicher ein großer Schock für dich«, bemitleidete ihre Mutter sie. Und etwas leiser fügte sie hinzu: »Wird er denn wieder gesund?«

Malu schluckte. Das war genau die Frage, die sie sich nicht wirklich zu stellen traute. »Natürlich!«, sagte sie mit Nachdruck und funkelte ihre Mutter an, damit die es nicht wagte, ihr zu widersprechen.

Nachdem Rebecca eine Tasse Kaffee getrunken hatte, verschwand sie wieder im oberen Stockwerk, um sich fertig zu machen.

Gerade wollte Malu sich wieder dem geheimnisvollen Päckchen zuwenden, da wurde die Haustür aufgezogen und Edgar polterte herein. »Malu, da bist du ja! Ich such dich überall. Das wird wohl langsam zur Gewohnheit.« Er warf einen kurzen Blick auf seine Schwester, ging dann mit schnellen Schritten zum Küchentisch und klappte das Paket zu.

»Was hast du denn da bekommen?«, fragte Malu und versuchte ihre Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen.

»Das ..., das sind noch ein paar Sachen von meinem Opa ...« Er grinste sie schief an. »Sorry, natürlich von unserem Opa«, verbesserte er sich.

»Ist schon ok«, sagte Malu. Obwohl es sie wurmte, dass sie weder ihren Vater, noch ihre Großeltern väterlicherseits jemals kennengelernt hatte. Als sie vor ein paar Monaten von ihrer Herkunft erfahren hatte, waren sie schon lange verstorben. Alles, was sie über ihre Großeltern wusste, hatte Edgar ihr erzählt, der nach dem Tod seiner Eltern – also auch ihres Vaters – bei seinem (und natürlich auch ihrem) Opa aufgewachsen war, Cedric von Funkelfeld. Der allerdings hatte unter dem Namen Sven Buchheim gelebt, sodass auch Edgar bis vor Kurzem nicht gewusst hatte, dass er der rechtmäßige Erbe von Schloss Funkelfeld war, samt Ländereien und Funkelsee. (Das war ja echt so was von kompliziert und Malu hatte lange gebraucht, hinter die ganze Geschichte zu kommen!!)

»Was sind das denn für Sachen von Opa Cedric?« Malu beugte sich gespannt über den Tisch. Schließlich war er auch ihr Opa gewesen, da hatte sie doch ein Recht neugierig zu sein!

Edgar seufzte und öffnete das Päckchen wieder. »Das hat unsere ehemalige Vermieterin geschickt. Sie hat die Sachen noch in einer Schreibtischschublade von Opa gefunden.« Er holte einen Packen Zettel, Fotos und Briefe heraus. Die Briefumschläge waren mit einem roten Samtband verschnürt und rochen irgendwie ... nach alten, getrockneten Rosen. »Liebesbriefe von Oma Hilde an Opa Cedric.«

Wie romantisch! Malu wollte schon die Schleife lösen, aber dann ließ sie es – das war doch irgendwie privat, auch nach dem Tod.

»Und ein paar alte Pferdefotos. Hier, das war Bandit.« Edgar schob ihr das Bild von einem Grauschimmel mit schwarzen Beinen zu. »Das war Opas absoluter Liebling. Er ist einunddreißig Jahre alt geworden, ein echt stolzes Alter!« Er strich liebevoll über das Foto. »Auf ihm hab ich reiten gelernt.«

Malu legte ihrem Bruder die Hand auf den Arm. Sie vergaß manchmal, dass es für ihn ganz anders war als für sie. Sie selbst hatte nur gewonnen: einen Bruder, ein Pferd (und zwar das beste der Welt!), ein neues Zuhause (und das auch noch in einem Schloss!) und eine Vergangenheit. Edgar dagegen hatte einen schweren Verlust erlitten, erst der Tod seiner Eltern, als er sechs Jahre alt war, und dann war vor ein paar Monaten sein Opa Sven gestorben (der ja eigentlich Cedric hieß, aber Edgar fiel es immer noch schwer, ihn so zu nennen) und er war alleine zurückge­blieben. Er hatte jetzt zwar auch ein neues Zuhause, eine Schwester und Rebecca gab ihr Bestes ihm eine zweite Mutter zu sein, aber natürlich vermisste er seinen Opa. Zum Glück hatte er wenigstens seine Pferde Alibaba und Rocco hierher mitnehmen können.

»Ich hätte mich gestern nicht über dich lustig machen sollen, sorry«, sagte Edgar jetzt und packte Fotos und Briefe zurück in den Karton. »Schon vergessen? Das Pferd letzte Nacht«, erklärte er, als er Malus verwirrten Gesichtsausdruck sah. »Dein Geisterpferd.«

»Da gebe ich dir ausnahmsweise mal recht«, sagte sie und grinste ihn an. Sie hatte in dem ganzen Trubel völlig vergessen, dass sie ja sauer auf ihn sein wollte. »Aber ich vergebe dir, großzügig wie ich bin.«

Ihr Bruder grinste zurück. »Da bin ich ja froh.«

Vor Malus Augen tauchte wieder der Kopf des einäugigen Pferdes auf, das sie so traurig angeblickt hatte. »Und was machen wir jetzt mit meinem Geisterpferd? Oder besser gesagt mit Stumpes Geisterpferden?«

In Edgars Gesicht zuckte es, als hätte er auf eine saure Zitrone gebissen. »Na was wohl, wir müssen sie retten, oder?«

Malu sah ihn überrascht an. Damit hatte sie nun gar nicht gerechnet, dass es so einfach werden würde. Für sie war schon in Gesines Küche klar gewesen, dass sie nicht tatenlos zusehen würde, wie Schneechen zum Schlachter gebracht wurde. Sie hatte sich schon alle möglichen Argumente zurechtgelegt, um ihren Bruder zu überreden, ihr bei der Rettungsmission zu helfen, und nun das!

»Hast du auch eine Idee? Oder hast du im Lotto gewonnen? Dann können wir der Stumpe-Tochter die Pferde einfach abkaufen.«

»Das nicht ...«, Edgar beugte sich ein Stück nach vorne, um einen vergilbten Zettel aus seiner Hosentasche zu ziehen, den er vor sich auf den Tisch legte, »... aber wir haben noch das hier!« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Blatt.

Malu wusste sofort, was das war: die Schatzkarte! Die Schatzkarte, die Edgar von seinem Opa kurz vor dessen Tod bekommen hatte, und die im letzten Sommer für so viel Verwirrung gesorgt hatte. Und die Edgar, nachdem er erfahren hatte, wer sein Opa wirklich war, hinter der Holzvertäfelung in seinem Zimmer versteckt hatte, weil er meinte, der Schatz würde nur Unglück bringen. Nun hatte er seine Meinung scheinbar geändert.

»Also machen wir uns doch noch mal auf die Suche?«, fragte sie und spürte, wie ihr mit einem Mal ganz heiß wurde. Das Gefühl kannte sie schon – das Schatzfieber hatte sie sofort wieder gepackt und damit die Aussicht, dass alles gut werden könnte. Sie hatte es nie verstanden, dass Edgar die Karte einfach versteckt hatte und nichts mehr davon wissen wollte.

Edgar nickte. »Wir tun es für Stumpes Pferde!« Er steckte die Karte schnell wieder ein und sprang auf. »Ich muss noch mal los, aber heute Nachmittag fahren wir auf die Pferdeinsel und diesmal finden wir den Schatz!«

Malu sah ihrem Bruder nach, der sich draußen auf sein Fahrrad schwang und vom Hof raste. Woher kam wohl dieser plötzliche Sinneswandel was die Suche nach dem Schatz betraf? Es kam ihr fast so vor, als ob er diesen Stumpe kennen würde. Aber warum sagte er das dann nicht? Oder hatte es irgendwie mit dem Päckchen zu tun? Malu versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war, als sie heute Morgen die Treppe heruntergestürzt war. Hatte Edgar da nicht schnell etwas hinter seinem Rücken verschwinden lassen? Aber was sollte das Geheimnisvolles gewesen sein?

Malu stand ruckartig auf. Sie sollte nicht so viel herumgrübeln. Sie würde sich jetzt erst mal ein Brötchen schmieren und später auf Schatzsuche gehen. Vielleicht würde sie dabei ja herausfinden, was ihren Bruder umgestimmt hatte.

Funkelsee – Versunken in der Pferdebucht (Band 2)

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