Читать книгу Funkelsee – Flucht auf die Pferdeinsel (Band 1) - Ina Krabbe - Страница 4

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1. Kapitel

Stickiger, staubiger Strohgeruch lag in der Luft und die Halme piksten Malu durch das dünne T-Shirt in den Rücken. Sie hielt die Augen geschlossen und atmete tief ein. Es roch nach Sommer, Sonne und viel freier Zeit. Ferien! Sechs endlose Wochen lagen vor ihr. Die heißen Strahlen der Mittagssonne, die sich einen Weg durch das brüchige Dach gesucht hatten, brannten auf ihrem Gesicht und ließen helle Sonnenflecken hinter ihren Augenlidern tanzen. Malu lächelte. Zum ersten Mal in ihrem 13-jährigen Leben war sie froh, dass ihre Mutter nicht genug Geld gehabt hatte, um mit ihr in Urlaub zu fahren. Wo sollte sie auch hin? Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt als diesen!

Wie zur Bestätigung hörte sie ein leises Schnauben neben sich. Dann streifte ein heißer, feuchter Hauch ihre Wange und etwas Weiches stupste sie an. Eine samtene Schnauze mit Barthaaren schob sich suchend über ihr Gesicht.

»Papilopulus, lass das, das kitzelt.« Kichernd schob Malu den riesigen Pferdekopf zur Seite und schlug die Augen auf. Direkt über ihr baumelte ein schlabberiger Gras­halm, von dem sich ein dicker Sabbertropfen löste und langsam herunterrutschte.

»He!« Gerade noch rechtzeitig rollte Malu sich zur Seite und der Tropfen landete neben ihr im Stroh. »Du bist echt ein Ferkel, Papilopulus«, flüsterte sie und strich dem Pferd liebevoll über den Nasenrücken. Die großen, dunklen Augen sahen das Mädchen erwartungsvoll an. »Und außerdem denkst du nur ans Fressen. Irgendwann rollst du noch über deine Wiese, Papi.«

Der Wallach schnaubte ungeduldig, während Malu aus ihrer Hosentasche ein paar Leckerchen hervorkramte. Ganz vorsichtig nahm Papilopulus ein Stück nach dem an­deren mit den Lippen von ihrer ausgestreckten Hand und zerkaute sie langsam.

Papilopulus hatte einen großzügigen Offenstall, sodass er kommen und gehen konnte, wann er wollte, er musste nicht darauf warten, dass ihn jemand nach draußen brachte. An den Stall schloss sich eine riesige Wiese an, die ei­­gent­lich viel zu groß für ein einziges Pferd war.

Papilopulus wandte sich jetzt dem Gras zu und verließ den Unterstand, wobei er gemächlich hier und da ein Büschel ausrupfte. Malu machte es sich wieder auf den Stroh­ballen bequem, die unter dem Dach gestapelt waren und beobachtete das Pferd – ihr Pferd, wie sie es insgeheim nannte. Dabei gehörte es gar nicht ihr (leider!), sondern Sybill von Funkelfeld, wie auch das gesamte Anwesen, auf dem sich Papilopulus’ Stall befand, mitsamt Schloss, Stal­lun­gen und Schlosspark. Sogar ein riesiger See gehörte dazu. Doch Sybill von Funkelfeld war eine alte Dame, die sich nur noch mit Gehstock bewegen konnte, an Reiten war für sie schon lange nicht mehr zu denken. Vielleicht hatte sie Papilopulus nur deshalb behalten, weil er sie an die guten Zeiten des Gestüts von Schloss Funkelfeld erinnerte, als in den Ställen noch Hochbetrieb geherrscht hatte und das Schloss ein ansehnliches Prachtstück gewesen war.

Vor zwei Jahren hatte Malu ihre Mutter das erste Mal aufs Schloss begleitet, die neben ihrer Arbeit im Altenheim noch den beiden alten Damen, die hier lebten, im Haushalt half. Malu hatte Papilopulus gleich ins Herz geschlossen und das, obwohl sie bis dahin eigentlich gar nichts mit Pferden zu tun gehabt hatte. Vom ersten Moment an, als sie in seine sanften, dunklen Augen geblickt hatte, war es um sie geschehen.

Papilopulus war zwar schon alt, sein dunkelbraunes Fell war von grauen Haaren durchzogen und mit der Zeit stumpf geworden, aber man konnte ihm immer noch ansehen, dass er mal ein edles Rennpferd gewesen war. Für Malu jedenfalls war er das allerschönste Pferd, das es auf der Welt gab! Sein Fell war so dunkel (bis auf die grauen ­Haare ­natürlich), dass es fast schwarz wirkte und im Sonnenlicht glühten die Haarspitzen gelblich, sodass es aussah, als würde er von innen heraus leuchten. Mähne und Schweif hatten die gleiche Farbe, nur auf dem Nasenrücken war ein kleiner, herzförmiger weißer Fleck.

Ein lautes DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU riss Malu aus ihren Gedanken. Papilopulus’ Ohren zuckten nervös hin und her und er ließ Malu nicht aus den Augen, als ob er sich fragen würde, warum das Mädchen auf den Strohballen plötzlich so merkwürdige Geräusche von sich gab.

»He, das war ich nicht«, lachte Malu und holte ihr Handy hervor. »Nur eine Nachricht von Lea«, murmelte sie mehr zu sich selbst.

Lea:

Hi, sitze im Muffins und muss mir die ganze Zeit Rikes Gelaber anhören. Blablabla! Also rette mich und komm vorbei. Deine beste!!!! Freundin braucht dich!!

Malu grinste und tippte zurück.

Kann leider nicht. Muss meiner Mutter beim Putzen helfen. Nimm doch Ohrstöpsel.

DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU – Lea:

Ich glaub dir kein Wort. Du sitzt in den Strohballen und kuschelst mit diesem riesigen felligen sabbelnden Ungetüm, während deine beste!!!! Freundin an Lange­weile stirbt.

Malu:

Das stimmt nicht! Ich würde dich nie!!! anlügen. Bist du verrückt? Ich muss wirklich helfen. Fenster putzen, Treppe wischen ... Komm doch vorbei.

DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU – Lea:

Bin ich verrückt? Aber morgen kommst du mit mir ins Muffins, oder? Versprich es!

Das Muffins war ein kleines Bistro in der Fuß­gänger­zone. Der Treffpunkt für die Schülerinnen und Schüler der Paula-Modersohn-Gesamtschule. Hier gab es das leckerste Eis, einen Billardtisch und vor allem diese kleinen Tische, an denen man zusammensitzen und über die wirklich wichtigen Dinge reden konnte: Was gerade angesagt war, wer sich wieder total danebenbenommen hatte. Und welchen Jungen Lea gerade am süßesten fand. (Ihr allergrößtes Lieblingsthema im Moment!)

Malu schickte ihrer Freundin noch ein Mal sehen und einen Winke-Smiley und steckte das Handy wieder ein.

Es war zu schade, dass ihre beste Freundin so gar nichts mit Pferden anfangen konnte. Einmal hatte sie Lea mitgenommen, weil Malu sich sicher gewesen war, dass auch sie den klugen Augen von Papilopulus nicht widerstehen konnte. Aber Lea hatte das riesige Pferd nur unheimlich gefunden, die Augen verschlagen und den Gestank konnte sie schon gar nicht ertragen! (Welchen Gestank?) Ihr war hier alles zu dreckig und zu kaputt. Und als sie dann noch mit ihren nagelneuen Chucks in einen Haufen Pferdeäpfel ge­treten war, war es völlig aus gewesen. Nein, mit Lea konnte man eindeutig besser im Muffins sitzen als auf den Stroh­ballen in Papilopulus’ Offenstall.

Seufzend stand Malu auf, klopfte sich das Stroh von der Hose und friemelte noch ein paar Halme aus ihren braunen Locken. Sie sollte wohl mal ihre Mutter fragen, ob sie nicht ein bisschen Hilfe gebrauchen konnte – dann hätte sie Lea wenigstens nicht angelogen.

Zweimal in der Woche putzte Rebekka Baumgarten die Wohnungen der beiden älteren Damen, die auf Schloss Funkelfeld wohnten. Sybill und Gesine von Funkelfeld, zwei Schwestern, die bestimmt schon an die hundert waren – na ja, jedenfalls nach Malus Schätzung. Zusammen mit Papilopulus und dem Papagei Rosa, einem ebenso alten rosa­farbenen Kakadu, waren sie die letzten Bewohner des Schlosses. Die meisten Räume waren aber leider gar nicht mehr bewohnbar. Das einstmals prächtige Bauwerk hatte überall Risse, der Putz blätterte von den Wänden und die steinernen Figuren, die den Treppenaufgang zierten, zerbröselten allmählich.

Die Ställe, die vor langer Zeit die schönsten Pferde des Landes beherbergt hatten, dienten nur noch Ratten und Spinnen als Dach über dem Kopf. Es fehlte einfach am Geld. Die Schwestern hatten getan, was sie konnten, um das Schloss zu erhalten, aber das Anwesen verfiel zusehends.

Wenn Malu die Augen schloss, konnte sie noch das Klappern der Hufe in der Stallgasse hören, das Stimmen­gewirr der Stallburschen und der Mädchen, die sich über die Vorzüge ihrer Lieblingspferde unterhielten. Und das un­geduldige Schnauben der gesattelten Pferde, die es nach draußen drängte. Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt – jedenfalls nicht für sie!

»Ich komme nachher noch mal vorbei, Papilopulus«, flüsterte Malu dem Pferd zu, das sie immer noch aufmerksam anschaute. Sie tauchte ihre Hand unter die Mähne und strich über das glatte, warme Fell. »Vielleicht drehen wir dann noch eine Runde? Was meinst du?«

Papilopulus stampfte unruhig mit dem Vorderhuf und blähte die Nüstern. Sein Kopf schnellte auf und ab.

»He, soll das heißen, du hast keine Lust?«, fragte Malu verwundert. »Oder ist etwas anderes?« Sie folgte dem Blick des Pferdes, der jetzt starr auf den Waldrand gerichtet war. Etwas Rotes blitzte zwischen den Büschen auf.

»Das macht dich so nervös? Ein roter Stofffetzen? Papilopulus, du bist vielleicht mal ein schnelles Rennpferd gewesen, aber du bist echt eine alte Schissbuxe«, lachte das Mädchen. Sie gab dem Pferd noch einen Klaps auf den Hals und stapfte dann auf den Waldrand zu. »Ich werde dich retten, Papi. Ich werde dich vor dem bösen Stofffetzen retten!«, rief sie über die Schulter zurück.

Der morsche Holzzaun war kein wirkliches Hindernis. Weder für Malu, noch für Papilopulus. Aber scheinbar hatte der alte Wallach sowieso keine Lust mehr auf Ausflüge in die Umgebung und blieb lieber auf der Weide in der Nähe seines Futtertrogs.

Malu quetschte sich zwischen den alten Holzbohlen hindurch und sah sich suchend um. Irgendwo hier in den Büschen hatte sie den roten Fetzen gesehen. Sie bog die Äste zur Seite und kämpfte sich etwas tiefer ins Gestrüpp. »Autsch!« Ein Zweig peitschte ihr ins Gesicht und hinterließ einen schmerzhaften Striemen. Aber da war er, jetzt hatte sie den roten Fleck hinter den Blättern erspäht.

Ein paar Schritte noch. Malu griff in den dichten Busch, um das Ding herauszuziehen, als der rote Stoff plötzlich aufsprang und sich ihr entgegenwarf. Zweige schnellten hoch und Äste brachen. Mit einem erstickten Schrei strauchelte Malu zurück, stolperte und fiel rückwärts ins Gebüsch. Der alte Fetzen entpuppte sich als roter Kapu­zen­pullover, aus dem zwei Arme und ein Kopf ragten, die zu einem etwa fünfzehnjährigen Jungen gehörten. Zornige Augen blitzten unter seinen blonden strubbeligen Haaren hervor. Malu starrte ihn erschrocken an, sie fühlte ihr Herz bis zum Hals pochen und war unfähig sich zu bewegen.

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte der Junge, dann drehte er sich um und stürmte davon. Mit einem Satz sprang er über den Zaun und rannte an dem verblüfften Papilopulus vorbei in Richtung Schlosshof. Malu hing reglos wie ein Käfer auf dem Rücken in den Zweigen und sah ihm hinter­her, wie er über den Platz sprintete und dann durch das große Eingangstor vom Schlossgelände verschwand.

Wer war das? Was hatte der Junge hier gemacht? Immer noch völlig perplex rappelte Malu sich auf. Ihre Beine waren wie aus Gummi. Warum sollte jemand in einem Busch hocken und auf eine Wiese mit einem alten Pferd und einem zerbröselten Schloss starren? Für einen Ein­bruch war Schloss Funkelfeld nun wirklich kein lohnendes Objekt mehr. Das sah selbst ein Blinder! Ob er Papilopulus stehlen wollte? Oder ...? Wie ein heißer Blitz schoss es ihr durch Kopf und Bauch. Oder ob er ihm etwas antun wollte? Malu hatte schon von Leuten gelesen, die Pferde oder Kühe quälten. Einfach so! Sie begann zu schwitzen. Und das kam in diesem Mo­ment nicht von der Sonne, auch wenn die jetzt gnadenlos auf sie herunterbrannte. Eine plötzliche Angst ergriff sie, Angst davor, dass Papilopulus etwas passieren könnte. Dass ihm jemand weh tun könnte und sie wäre nicht da, um ihm zu helfen. Nein, das würde nicht geschehen. Das durfte nicht geschehen!

Schnell schlug sie sich zurück durch die Büsche, schlüpfte zwischen den Zaunbrettern hindurch und rannte zu Papi­lopulus, der sich inzwischen wieder dem saftigen Gras zugewandt hatte und genüsslich einen Büschel nach dem anderen ausrupfte.

Sie musste den Funkelfeld-Schwestern Bescheid sagen, dass sich jemand am Schloss herumtrieb, der hier absolut nichts zu suchen hatte. Bestimmt würden sie die Polizei rufen.

Malu kontrollierte noch schnell, ob Papilopulus frisches Wasser im Trog hatte, dann rannte sie über den Schloss­platz auf den Wohntrakt neben dem Hauptgebäude zu. Ihre Mutter wollte heute zuerst bei Gesine von Funkelfeld nach dem Rechten sehen, also hielt sie auf die alte Holztür mit der abblätternden blauen Farbe zu. Aber schon als sie den Flur betrat, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Putz­eimer und Lappen lagen achtlos auf der Treppe und aus der Küche hörte sie einen erstickten Laut, als ob jemand sich bemühte, nicht laut loszuschreien, obwohl er es am liebsten tun wollte.

Funkelsee – Flucht auf die Pferdeinsel (Band 1)

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