Читать книгу Das garstige Dorf - Ines Thorn - Страница 8

Drittes Kapitel

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Das Serviermädchen des Dorfkruges hatte sich große Mühe mit der Tischdekoration gegeben. Auf den weißen Tischdecken standen kleine Vasen mit Vergissmeinnicht, dazwischen schlängelten sich schlanke Efeuranken, und an den rau verputzten Wänden hingen Fotos von den letzten Jagden, an denen der Verstorbene teilgenommen hatte. Auf einem war er sogar zu sehen, wie er neben einem prächtigen Wildschwein posierte.

Frau Schmattke, die Ehegattin des Schornsteinfegers, saß bereits neben Anita Seidel am Tisch. Beide Frauen sahen sich vergnügt um. Es schien ihnen nichts auszumachen, dass sie sich bisher weder der Witwe noch dem Verstorbenen arg verbunden gefühlt hatten, jetzt, in diesem Augenblick, spürten sie diese Verbundenheit sehr deutlich. Anita hatte die Stirn gekraust, als denke sie wehmütig an gemeinsame Erlebnisse mit Gabriel Krebs, doch Frau Blau hätte wetten können, dass ihr nur die unvermeidlichen Begegnungen in der Post einfielen.

Frau Schmattke thronte neben ihr und fragte sich offensichtlich, wie sie nachträglich ihrer Verbundenheit Ausdruck verleihen könnte. Sie war eine schmallippige, dicke Person mit einem eher verschwommenen Verhältnis zur Realität, deren Hobby es war, Leserbriefe zu schreiben, ganz gleich ob an die Zeitung, an den Rundfunk oder das Fernsehen, und die sich deshalb für eine Autorität in Sachen Medien, Kunst und Unterhaltung hielt. Einmal war sie in einer Realityshow als Gast aufgetreten, und seither hieß es bei jeder Gelegenheit: „Als ich damals beim Fernsehen war ...“ Jetzt aber beugte sie sich zu Anita und flüsterte laut: „Wenigstens waren die Kosten für die Beerdigung nicht allzu hoch, wo sie doch für den Sarg nichts bezahlen mussten. Da werden sie hoffentlich beim Leichenschmaus an nichts gespart haben.“

Frau Blau zögerte einen Augenblick, dann aber ließ sie sich doch den beiden Frauen gegenüber nieder, während Edith sich zu den Ehefrauen der Krebsbrüder setzte. Eppo vom Busche saß an der linken Seite der Witwe und – Frau Blau traute ihren Augen kaum – streichelte sanft deren Hand. Aber schon kamen die belegten Brötchen, Kaffeekannen wurden herbeigeschleppt, Kuchen aufgetischt. Die Schmattke langte gerade nach einem Hackepeterbrötchen, als Frau Krebs sich erhob und mit dem Löffel gegen ihr Wasserglas schlug. Vor Schreck ließ die Schmattke das Brötchen auf ihren Teller fallen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme unter der Brust und schob ihren Busen nach oben, sodass das rundliche Kinn genau oberhalb zwischen ihren beiden Brüsten lag.

„Liebe Trauergäste“, sprach Frau Krebs, und ihre Stimme klang ein wenig schrill dabei. „Ich freue mich, dass sich so viele aus dem Dorfe meinem verstorbenen Mann verbunden fühlen.“ Sie lächelte schmal. „Ich kann nur hoffen, dass Gabriel diese Verbundenheit auch zu seinen Lebzeiten gespürt hat. Jedenfalls danke ich Ihnen allen und wünsche nun einen guten Appetit.“

Frau Schmattke sicherte sich auf der Stelle ein weiteres Hackepeterbrötchen, ließ sich Kaffee einschenken und kaute mit vollen Backen. Anita von der Post aß ein Stückchen Streuselkuchen und trank mit vornehm abgespreiztem kleinem Finger, doch kaum war ihr Mund wieder leer, fertigte sie für ihre Freundin Schmattke eine mündliche Teilnehmerliste der Kirchenbesucher an. „Von den jungen Leuten habe ich niemanden bei der Beerdigung gesehen. Na ja, die müssen wohl alle arbeiten. Aber das von den Frühlings nur Leslie gekommen ist! Gut, Mischa soll ja gar nicht da sein, aber seine Mutter hätte doch kommen müssen. Sie sind die direkten Nachbarn. Es wäre doch das Mindeste gewesen, sich wenigstens in der Kirche blicken zu lassen.“

„Die alte Hertha Frühling hat ein frisch operiertes Knie“, informierte Frau Schmattke ihre Freundin. „Sie wird wohl nicht so weit laufen können. Und Justus Frühling, nun, der ist dement. Der hätte so eine Trauerfeier wahrscheinlich nur gestört. Er hätte ja sicher nicht einmal gewusst, wer gestorben ist.“ Die Schmattke schluckte am letzten Bissen ihres Hackepeters.

„Was ich nicht verstehe, ist, dass Leslie nicht zum Leichenschmaus gekommen ist. Das hätte sich so gehört. Was sollen denn die Leute denken?“, fragte Anita nachdrücklich und sah Frau Blau Bestätigung einfordernd an.

„Vielleicht fühlt sie sich nicht so gut“, fiel Frau Blau dazu ein.

„Davon kann doch gar keine Rede sein.“ Die Schmattke winkte ab. „Sie hat ja den ganzen Morgen an ihrer Hauswand rumgescheuert. Krank sah sie mir dabei nicht aus. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie sogar gesummt dabei.“

Endlich war Frau Blau dort, wo sie die ganze Zeit hingewollt hatte. Sie beugte sich vertraulich über den Tisch und fragte: „Wer musste denn heute noch seine Hauswand schrubben?“

Die Schmattke spitzte die Lippen, dann hob sie ihren Zeigefinger und wedelte damit vor Frau Blaus Nase herum. „Diese Schmierereien, pah! Das hat es früher nicht gegeben. Und wissen Sie, wer daran schuld ist? Die Medien. Jawoll! Als ich damals beim Fernsehen war ...“ Frau Blau schaltete ab, da sie diese Geschichte schon mehr als ein Dutzend Mal gehört hatte. Sie aß ein Eibrötchen, nickte hin und wieder, und als Frau Schmattke fertig war, hatte sie ihr Brötchen aufgegessen. „Wo waren denn noch Schmierereien?“, fragte sie erneut.

Anita Seidel verzog gekränkt den Mund. „An der Post. Ja. Ich habe auch den halben Vormittag gescheuert.“ Sie sah Frau Blau so anklagend an, als wäre ihr ein großes Unrecht widerfahren. „Die Sonne bringt es an den Tag stand dran. Das sind fünf Worte mehr als an der Dorfschenke. Ich hatte Blasen an den Händen.“

„Können Sie sich erklären, warum jemand das an Ihre Hauswand geschrieben hat?“, wollte Frau Blau jetzt wissen.

Anita Seidel guckte noch gekränkter. „Das ist es ja!“, beschwerte sie sich. „Ich habe keiner Menschenseele etwas getan. Jeder im Dorf kann das bezeugen. Immer freundlich, immer nett und hilfsbereit, so haben mich meine Eltern erzogen. Und jetzt das! Ich möchte nicht wissen, was die Leute im Dorf denken.“ Sie beugte sich vertraulich über den Tisch. „Da gibt es in Sonnfriedenau ganz andere, das will ich Ihnen mal sagen. Ich wüsste ein halbes Dutzend Häuser, an die eine solche Schweinerei gut passen würde. Aber doch nicht bei mir! Ich habe doch keine Leichen im Keller, die die Sonne an den Tag bringen muss!“

Frau Blau wollte gerade weiterfragen, als das Serviermädchen ein Tablett voller Schnapsgläser brachte. Eppo vom Busche hob sein Glas und rief laut: „Lieber Gabriel, ich trinke auf dich und hoffe, es geht dir prächtig da, wo du jetzt bist!“ Er setzte sein Glas an die Lippen und trank es in einem Zuge leer. Die anderen Gäste taten es ihm gleich. „Brrrrr!“, rief Frau Schmattke und schüttelte sich, während Anita Seidel keine Miene verzog.

„Aha, das ist ja interessant. Sie denken, dass die Schmierereien eine Art Botschaft sind? Dass nur die Häuser geschändet wurden, deren Bewohner Leichen im Keller haben?“

„Was denn sonst?“ Anita verschränkte die Arme vor der Brust und schaute empört drein. „Nur das bei mir, das muss ein Irrtum sein.“

„Also an der Post, an Frühlings Haus und an der Schenke. Wo noch?“ Frau Blau ließ nicht locker.

„An der Apotheke prangte ein großer nasser Fleck“, erklärte Frau Schmattke. „Ich war da wegen meines Heuschnupfens. Ich habe es genau gesehen.“

Jetzt mischte sich auch die Ehefrau von Uriel Krebs ins Gespräch. „An der Praxis vom Tierarzt Güldenhaupt. Nicole hat mit der Scheuerbürste gewirkt, als wäre Maiputz angesagt.“

Frau Blau spitzte die Lippen. Das tat sie immer, wenn sie nachdenken musste. „An der Apotheke, an der Post, bei Frühlings, beim Tierarzt und am Dorfkrug. Was verbindet diese Leute miteinander?“ Sie hatte laut gedacht, und Frau Schmattke verstand dies als Aufforderung, ihre Gedanken dazu ebenfalls laut zu äußern. „Nichts verbindet sie, gar nichts. Vielleicht die anderen, aber Anita hat mit alldem nichts zu schaffen. Ansonsten verbindet in einem Dorf alle mit jedem etwas. Immerzu trifft man aufeinander: im Hofladen, im Café, im Supermarkt, auf dem Friedhof, bei Geburtstagen und Festen und natürlich auf der Straße. Von den Verwandtschaftsverhältnissen will ich gar nicht erst anfangen.“

Frau Schmattke lehnte sich zurück, verschränkte – wie ihre Freundin Anita - die Arme unter dem Busen, diesmal als Zeichen, dass für sie das Gespräch nun beendet war. Sie seufzte, blickte auf ihre schmale Armbanduhr, die ein wenig ins Fleisch schnitt, und sagte: „Ich werde langsam aufbrechen und meinem Männe das Abendbrot machen.“ Dabei blickte sie ein wenig gierig auf die Platten mit den Brötchen, die nur zur Hälfte aufgegessen waren. Auch vom Kuchen war noch einiges übrig. „Schade um die guten Sachen“, murmelte sie. Aber da niemand Anstalten machte, sie zum Einpacken aufzufordern, nahm sie sich rasch noch ein Lachsbrötchen und verschlang es mit genau vier Bissen.

Frau Blau betrachtete lächelnd Frau Schmattkes Aufbruch mit vollen Backen. Auch Anita Seidel stand auf. „Ich muss mir noch die Haare eindrehen. Und nachschauen, ob meine Wand inzwischen getrocknet ist, muss ich auch noch.“

Auch Edith machte Frau Blau ein Zeichen, dass es Zeit zum Aufbrechen war, und gemeinsam verließen sie den Dorfkrug.

Kurz darauf liefen die beiden Freundinnen langsam und in Gedanken versunken die Sorgloser Straße hinauf. Ihr Haus war schon von Weitem zu erkennen. Der frische Putz und die Fachwerkbalken, braun gestrichen und mit einem schmalen roten Streifen abgesetzt, leuchteten in der Abendsonne und in den Blumenkästen vor den Fenstern regte sich das erste Grün.

„Ich liebe dieses Haus“, erklärte Frau Blau aus heiterem Himmel. „Es sieht so friedlich und freundlich aus. Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, dass ich bei dir wohnen kann.“

„Und ich erst, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich das Zusammenleben mit dir genieße“, erwiderte Edith und drückte die Hand ihrer Freundin.

Als ihr Mann vor ein paar Jahren verstorben war, hatte sie allein dagestanden mit dem großen Haus, das insgesamt acht, wenn auch kleine Zimmer und einen großen Wintergarten hatte, und in jedem hingen wunderhübsche Gardinen, die sie direkt in London geordert hatte. Was sollte sie allein in diesem großen Haus? Und wohin mit den Gardinen?

Die Zeit ging ins Land und eigentlich hatte Edith nach dem Tod ihres Mannes damit gerechnet, dass die Männer in Scharen herbeigelaufen kamen, immerhin verfügte sie doch über eine Pension, dichtes, volles Haar und eine recht anständige Figur. Doch niemand kam, und Edith wunderte sich sehr darüber, dass keiner sie haben wollte. Sie hatte sich heimlich schon als die neue Gräfin vom Busche gesehen, die neben Eppo den jährlichen Jagdball eröffnete, aber Eppo zeigte sich ihr gegenüber blind und stur.

Zum Glück kam Frau Blau gerade rechtzeitig, bevor Edith in Depressionen versank, übernahm die Hälfte der Zimmer und der Kosten und brachte Leben in Ediths Alltag, nicht zuletzt durch die wöchentlichen Besuche des Grafen.

Frau Blau sah die Freundin von der Seite her an, doch sie sagte nichts, denn sie wusste, dass Edith noch immer hin und wieder um ihren Ehemann trauerte. Und auch sie hatte schon den ihren begraben und die plötzliche Stille um sich herum mit einem Hundewelpen und einem Umzug ausgelöscht. Trotzdem vermisste sie Lord Reginald Bluewood sehr. Sie sprach manchmal mit ihm und hatte sogar den Eindruck, dass er sie hören konnte, doch das würde sie niemals zugeben.

Lord Reginald Bluewood war Frau Blaus große Liebe gewesen. Sie hatte ihn kurz nach ihrer Ankunft in England in einem Pub kennengelernt und auf der Stelle gewusst, dass sie mit ihm zusammen sein wollte. Das Herrenhaus, in dem er in der Grafschaft Suffolk lebte, erschien ihr manchmal ein wenig düster, doch der Garten war wunderschön gewesen, und Reginald hatte es zudem vermocht, die Düsternis aus ihren Gedanken zu vertreiben. Und dann war er gestorben. Einfach so. Völlig unerwartet. Bei einer Hetzjagd war er ums Leben gekommen, und sie hatte Wochen gebraucht, bis sie es glauben konnte. Jetzt schüttelte sie den Kopf, dass die wilden Locken flogen, als wolle sie die Erinnerungen wegschütteln, und blickte hinauf zu dem Haus, das ihr längst ein Zuhause geworden war.

Die Fenster waren mit Sprossen verstärkt, die Türen im Inneren grün bemalt und mit Blumenornamenten verziert. In den letzten zwei Jahrhunderten hatte das Haus als Heim für eine Familie mit vielen Kindern gedient, aus der letztlich auch Edith hervorgegangen war. In der oberen Etage hatte sich Frau Blau ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer eingerichtet. Daneben lag die Bibliothek mit dem englischen Kamin und ihr gegenüber befanden sich ein Gästezimmer und ein nachträglich eingebautes Bad mit einer Dusche. Das untere Stockwerk beherbergte die Küche, das Kaminzimmer mit einem Fernsehapparat, Ediths Arbeitszimmer, ein kleines Schlafzimmer, ein Wannenbad, die winzige Diele und den gemütlichen Wintergarten. Das Treppenhaus war ganz mit Holz getäfelt, an den Wänden hingen alte Bilder, auf denen Vögel und Schmetterlinge abgebildet waren.

Während Ediths Räume ganz im englischen Stil eingerichtet waren, mit bequemen geblümten Sesseln, vielen Kissen, einigen Bodenläufern und zahlreichen Lampen mit gestickten Schirmen und sogar ein paar Nippesfiguren, wiesen Frau Blaus Räume eine gewisse Kühle auf. Die alten Dielen, die hin und wieder knarrten, waren unbedeckt, die Fenster mit weißen Leinenvorhängen bestückt. Das Herzstück aber war eine verchromte Liege im Bauhausstil, die neben einer Wagenfeldlampe stand und Frau Blaus Leseplatz war. Auf einem kleinen Beistelltisch neben der Liege fand sich ein Stapel Bücher. Derzeit las sie eine Biografie über Charles Darwin, des Weiteren lagen ein zeitgenössischer deutscher Roman und ein Vogelbestimmungsbuch auf dem Stapel.

Das garstige Dorf

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