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Kapitel 5: Die Abgründe der modernen Zeitarbeit
ОглавлениеNeben der großen Eingangstür aus Glas befand sich ein Gerät mit einem kleinen Display und Tasten. Ganz offensichtlich hatte jeder Mitarbeiter einen Code, der ihm oder ihr den Einlass in die Firma gewährte. Hatten die Gold bei sich im Büro gebunkert? Trauten sie den Banken nicht mehr, um ihr durch ihre Leiharbeiter leicht verdientes Geld anzulegen, und haben deswegen ihr Bargeld im Büro gehortet? Gut, Misstrauen den Banken gegenüber war ja heutzutage mehr als berechtigt! Patente oder wertvolle Geheimformeln konnte es in so einer Firma doch gar nicht geben. Fürchteten sie sich vor ihren Mitmenschen? Anscheinend hatten sie auch allen Grund dazu, aber die verschlüsselte Firmeneingangstür hatte Frau Schilling auch nicht geholfen. Auf sein Klingeln fragte eine sympathisch klingende Frauenstimme an, wer denn da sei.
„Kriminalkommissar Pelzig, Mordkommission, Kriminalpolizei Nürnberg“.
Es ertönte ein schnarrendes Geräusch, und Ludwig Pelzig drückte die Glastür auf. Am Empfang saß ein junges Mädchen, das er auf Anfang bis Mitte Zwanzig schätzte.
„Die Inhaberin, Frau Link, ist heute leider nicht im Hause. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
„Ich habe da noch ein paar Fragen.“
„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken?“
Der italienische Kaffee aus dem Kaffeeautomaten bei Anwalt Grabowski hatte hervorragend geschmeckt.
„Lieber einen Orangensaft, wenn Sie haben. Da Sie am Empfang sitzen, müssten Sie doch eigentlich die Leihkräfte kennen, die Ihre Firma beschäftigt.“
„Ja, aber es sind so viele, und es findet ein häufiger Wechsel statt. Da kann ich mir natürlich nicht alle Gesichter merken.“
„Kennen Sie eine Frau, die eine Perücke trägt?“
„Ne, solche Leute stellen wir bei uns nicht ein. Die könnten wir unseren Kunden doch gar nicht präsentieren. Aber das dürfen wir den Bewerbern natürlich nicht sagen. Wir teilen ihnen dann einfach mit, dass wir ihre Daten bei uns speichern, bis wir einen geeigneten Auftrag für sie hätten. Und dann verläuft die ganze Sache im Sande.“
„Vielleicht war die Frau ja mal krank und hatte vielleicht deshalb ihre Haare verloren und muss deshalb eine Perücke tragen. Und eine Echthaarperücke oder ein natürlich aussehender Kunsthaarersatz ist wahrscheinlich bei einem Zeitarbeitergehalt nicht drin. Vielleicht war es ja auch eine ehemalige Mitarbeiterin, die vor Monaten mal bei Ihnen beschäftigt war. Heben Sie denn Bewerbungen nicht auf? Früher waren doch in den Personalakten der Mitarbeiter auch die Bewerbungsunterlagen mit abgelegt. Aber, ich vergaß. Sie arbeiten ja hier nach dem Ex und Hopp Prinzip.“
„Wir haben doch so viele Bewerber. Da hätten wir doch gar keinen Platz dafür, all diese Unterlagen aufzuheben. Hinzu kommt, dass viele Bewerbungen heutzutage elektronisch eingehen. Aber auch die forsten wir von Zeit zu Zeit durch, rufen gespeicherte Bewerber an und fragen, ob sie noch Interesse an einer Vermittlung haben. Wenn nicht, dann löschen wir die Dateien.“
Die junge Frau war jetzt ganz rot vor Verlegenheit. Nervös wickelte sie sich ihre langen blonden Haare um den linken Zeigefinger.
„Diese eben von mir beschriebene Dame hat der Anwalt Dr. Grabowski, der seine Kanzlei unter Ihrem Büro hat, gestern Abend die Treppe hinunter kommen gesehen. Sie ist übrigens sehr, sehr schlank.“
Das Gesicht der Empfangsmitarbeiterin war ein Fragezeichen. Ihren Namen hatte Robert Pelzig nicht mitbekommen. Egal.
„Hat Frau Schilling geraucht?“
„Nein, sie hat, seit sie schwanger war, keine Zigarette mehr angerührt. Nur ihr Mann raucht noch, aber er kommt nie hierher. Er arbeitet bei Siemens in Erlangen und ist zudem viel unterwegs.“
Ein Mann, den Pelzig auf ein paar Jahre älter als sich selbst schätzte, kam aus einem Zimmer, das Frau Schillings Büro gegenüber lag. Sein dunkles Haar war nach hinten gegelt. Er war ungefähr einen Kopf kleiner als Pelzig, was dieser mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.
„Das ist Herr Rost, er ist auch Personaldisponent bei uns, er vertritt äh vertrat Frau Schilling und umgekehrt.“
Pelzig stellte sich vor.
Welche Motivation kann ein Mensch haben, als Personaldisponent bei einer Zeitarbeitsfirma zu arbeiten? Pelzig war das schleierhaft. Auch dieser Personaler kannte keine Mitarbeiterin, die eine Perücke trug. Er gab zu, früher mal geraucht zu haben, dieses Laster jedoch vor ein paar Wochen abgelegt zu haben. Und im Zimmer von Frau Schilling hatte er sowieso nicht rauchen dürfen.
Es würde dem jungen Kommissar und seinen Mitarbeitern also nichts anderes übrig bleiben als den Mailverkehr von Frau Schilling genauestens zu überprüfen. Vielleicht konnte man ja in der elektronischen Korrespondenz von der toten Personaldisponentin Hinweise auf die Identität der „Frau in Rot“ finden. Die krank aussehende Frau, die der Anwalt am Mittwochabend im Treppenhaus gesehen hatte, konnte einfach nicht rein zufällig in der PersonalLeasing GmbH gewesen sein. Aber eine Bewerberin zu so später Stunde? Ein Smartphone oder Handy von Frau Schilling hatten sie nicht finden können. Wo war es geblieben? Eine moderne Business-Power-Frau ohne Mobiltelefon? Plötzlich kam ihm eine Idee!
„Hatte Frau Schilling gestern Vorstellungsgespräche? Vielleicht handelte es sich ja um eine neue Bewerberin, die jedoch von Frau Schilling erst einmal abgelehnt wurde. Wegen ihres Aussehens? Oder wegen ihres Alters? Vielleicht wollte sie die Personaldisponentin mal in aller Ruhe allein sprechen. War diese „Frau in Rot“ in einer prekären finanziellen Situation? Wollte sie alles auf eine Karte setzen, weil sie dringend einen Job brauchte? Svenja Schilling um eine Anstellung anflehen. Und dann war die ganze Sache eben aus dem Ruder gelaufen. Die „Frau in Rot“ hatte die Nerven verloren und dann einfach zugestochen. Aber wäre sie dazu rein körperlich in der Lage gewesen? Vielleicht gab es ja auch zwei Täter. Also jemanden, der Frau Schilling vor Wut die Zähne ausgeschlagen hatte. Aus Wut, Verzweiflung, weil sie keinen Ausweg aus ihrer Misere mehr sah. Vielleicht befand sich ja die „Frau in Rot“ wieder auf dem Wege der Besserung. Nach einer erfolgreichen medikamentösen Behandlung ihrer Krebserkrankung. Und dann hatte diese arrogante und ignorante Zeitarbeitsmitarbeiterin ihre Hoffnung auf ein normales Leben mit geregeltem Einkommen auf einen Schlag zunichte gemacht. Aber wer kam dann als Mörder in Frage?“
Robert Pelzig hatte seinen Ohren nicht trauen wollen. Diese Kaltschnäuzigkeit in der Stimme der Mitarbeiterin am Empfang. Wie war doch gleich ihr Name gewesen? Plötzlich fiel es ihm wieder ein. War das nicht diese Maren Weidlich, die Ludwig Keller gestern die Telefonnummer von Jens Schilling, dem Ehemann der Toten, herausgesucht hatte?
Offiziell durften ja alle Bewerbungen nur neutral und gleich behandelt werden. Ausbildung, Berufserfahrung - Qualifikationen sollten ausschlaggebend sein für die Auswahl der Aspiranten auf einen Arbeitsplatz. Anonyme Bewerbungen, wie in anderen europäischen Ländern, waren aber in Deutschland nicht üblich. So konnte man mit „Qualifikationen“, die angeblich beim Bewerber nicht vorhanden waren, jedoch für die Stellenausschreibung unbedingt erforderlich seien, hinreichend argumentieren, den einen oder anderen Bewerber, aus Altersgründen beispielsweise, abzulehnen. Da konnte sich bei einem in die Jahre gekommenen Mitarbeiter schon eine ganze Menge Wut aufstauen, wenn es nur noch Absagen hagelte.
Und die Rechtsmedizinerin hatte gemeint, das müsse ein emotional aufgeladener Mord gewesen sein. Da sei wohl ganz viel Hass im Spiel gewesen. Würde jedoch eine negative Reaktion einer Zeitarbeitsfirma auf eine Bewerbung ausreichen? Zeitarbeitsfirmen gab es doch wie Sand am Meer. Aber was, wenn die kranke Bewerberin Schulden angehäuft hatte? Aus welchen Gründen auch immer. Teure Medikamente, die die Krankenkasse nicht bezahlte. Für Behandlungen zum Beispiel, welche eine Chemotherapie linderten. Oder für Heilmittel, die der Arzt nicht mehr verschreiben konnte, weil er sein Budget für das Quartal bereits überzogen hatte. Die Motive für Verzweiflungstaten waren grenzenlos.
„Ich kann Ihnen die eingegangenen Bewerbungen, die Frau Schilling betrafen, mal zeigen. Wenn ein Vorstellungsgespräch einberaumt wird, das heißt, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin in die engere Wahl kommen, drucke ich ihr die Bewerbungen aus, allerdings nicht in Farbe.“
In dem Stapel waren auch einige Bewerbungen dabei, die mit der Post geschickt worden waren. Anhand der Bilder konnte der Kommissar diese jedoch als Tatverdächtige aufgrund der Beschreibung von Dr. Grabowski ausschließen. Dem Anwalt war die Frau im Treppenhaus aufgefallen, weil sie ausgesprochen dünn war und krank aussah. Oder war diese „Frau in Rot“ vielleicht einfach so knapp bei Kasse, dass das Geld für eine gesunde Ernährung schlichtweg nicht mehr ausreichte. Wenn man sich nur von billigen Fertiggerichten ernährt, sieht man eben nicht mehr aus wie das blühende Leben. Und wenn man dann keine mitleidige Seele kennt, der einem mal ein paar Euro zusteckt. Welche Kriterien muss man erfüllen, um bei der „Tafel“ Lebensmittel abholen zu können? Wenn man einen Tafel-Ausweis beantragen muss, dann ist man wirklich auf der unteren Sprosse der sozialen Leiter angekommen. Welche Überwindung muss es einen Menschen kosten, der es gewohnt war, sein Leben durch sein selbst verdientes Gehalt zu finanzieren, das letzte bisschen Würde abzulegen, um für gespendetes Essen, das sonst in die Mülltonne wandern würde, Schlange zu stehen? Pelzig schauderte es bei diesem Gedanken. Er steuerte auf das Büro von Frau Schilling zu. Offenbar war gelüftet worden. Den Zigarettengeruch, den Ludwig Keller erwähnt hatte, konnte von dem Kriminalkommissar nicht mehr wahrgenommen werden. Die Festplatte von Frau Schillings Computer hatten die Kollegen mitgenommen, das Laptop ebenfalls. Robert Pelzig kramte sein Smartphone hervor, um die Nummer von seinem Kollegen von der Spurensicherung einzugeben.
„Hallo Karl, hast du schon was herausgefunden?“
„Wir haben auf dem blauen Stuhl vor dem Schreibtisch der Ermordeten rote Fusseln gefunden, offensichtlich von einem Wollpullover oder einer Jacke“.
„Von einer roten Wolljacke.“
Pelzig gab die Aussage von Dr. Grabowski an seinen Kollegen von der Spurensicherung weiter.
„Ja, und dann haben wir den Zigarettenstummel im Aschenbecher, der auf dem kleinen Besprechungstisch stand, analysiert und mit einer DNA-Probe der Toten verglichen. Negativ. Bei der Zigarettenmarke handelt es sich um Gauloises, also echte Stinkbomben. Und wir haben eine leere Schachtel von dieser Zigarettenmarke vor dem Bürogebäude in der Neumeyerstraße sicherstellen können, auf die uns die Frau am Empfang der PersonalLeasing GmbH aufmerksam gemacht hatte. Aber Fingerabdrücke von Svenja Schilling waren nicht zu identifizieren.“
„Laut Aussage ihrer Mitarbeiter ist Frau Schilling Nichtraucherin gewesen, und der Kollege im Büro gegenüber hat ausgesagt, jetzt Nichtraucher zu sein und früher nicht im Büro seiner Kollegin geraucht haben zu dürfen.“
Ob die geheimnisvolle Dame in Rot Raucherin war? Wer hatte noch an diesem Abend, als der Mord stattfand, das Bürogebäude in der Neumeyerstraße betreten? Der Anwalt hatte doch erwähnt, er sei an jenem Abend noch eine Kleinigkeit in dem italienischen Lokal gegenüber essen gewesen. Hoffentlich konnte die Rechtsmedizinerin bald nähere Angaben zum Todeszeitpunkt machen.
„Ach ja, und auf den mitgenommenen Papierstapeln – Bewerberunterlagen – habe wir auch nur die Spuren der Toten entdecken können“, sagte Karl Guthmann. Vielleicht würden ja die Mails mehr Hinweise geben können.
„Ich kann das gar nicht verstehen, Frau Schilling war sehr beliebt und vor allem bei den Kunden wegen ihrer Kompetenz in Bezug auf die Mitarbeiterbeschaffung sehr angesehen.“
Diese dämliche Maren Weidlich ging Robert Pelzig allmählich auf die Nerven.
„Und warum ist sie jetzt eines unnatürlichen Todes gestorben?“
Robert Pelzig sah der jungen Empfangskraft direkt in die Augen.
„Was ich so in den letzten Jahren über Zeitarbeit gehört und gelesen habe, verschafft mir eher den Eindruck, dass diese Branche eher verachtenswert ist.“
„Das ist sehr ungerecht, uns das alles in die Schuhe zu schieben“.
Jetzt mischte sich der Personaldisponent Norbert Rost in das Gespräch ein.
„Die Industrie ist es doch, es sind die Unternehmen, die keine festen Mitarbeiter mehr wollen. Wir verhalten uns lediglich so, wie es der Markt uns vorgibt.“
„Immer die Ausrede mit dem Markt, das sind doch reale Menschen, die hinter diesem Begriff stehen“.
Pelzig stand wieder kurz davor, sich in Rage zu reden. Er musste sich im Zaum halten.
„Und ihr zockt die Hälfte von dem ab, was ihr für eure Leiharbeiter bekommt.“
So, jetzt hatte der junge Kripomann aus Nürnberg seine Kritik am modernen Arbeitsmarkt an einen direkt Beteiligten gebracht!
„Wir haben auch hohe Unkosten, und tragen das Risiko, wenn es mit dem einen oder anderen Leiharbeiter beim Kunden nicht klappt. Und wir müssen auch bezahlen, wenn der Leiharbeiter während seines Einsatzes krank wird. Und wenn der Leiharbeiter, den wir schicken, nicht zur Zufriedenheit des Kunden arbeitet, dann wirft das ein schlechtes Licht auf unser Unternehmen. Und wir haben dann Probleme, für Folgeaufträge unsere Mitarbeiter einzubringen.“
„Mir kommen gleich die Tränen!“
Robert Pelzigs Stimme hatte einen sarkastischen Unterton angenommen.
„Die Hälfte abzukassieren, das ist dennoch zu viel. Außerdem haben Leiharbeiter weniger Urlaub. Und wenn der Einsatz vorüber ist, dann wird den Angestellten auf Leiharbeiterbasis prophylaktisch gekündigt, mit dem Hinweis, wenn es einen Folgeauftrag gebe, würde man sie wieder einstellen. Das weiß ich von einer Bekannten. Bei der ist es auch so gewesen. Und wenn man sich wegen unmöglicher Arbeitsbedingungen oder Ähnlichem beschwert, ist man doch bei Euch sofort auf der Abschussliste.“
Personaldisponent Rost schwieg sich aus. Pelzig wollte einfach nur hier weg.
„Ich hätte gerne noch eine Liste mit Ihren Kunden“, sagte er zu Rost.
„Ungern, wir möchten unsere Kunden hier nicht mit reinziehen. Das wirft ein schlechtes Licht auf unser Unternehmen.“
„Es geht hier um einen ungeklärten Mordfall, den wir, die Mordkommission der Kriminalpolizei in Nürnberg, aufklären müssen. Es geht nicht um irgendeinen Ruf.“
Rost sah verlegen zu Boden.
„Wissen Sie, wir sind auch in einer sehr unsicheren Position unseren Kunden gegenüber. Wenn es bei uns nicht funktioniert, dann gehen sie eben zur Konkurrenz“.
‚Dein Pech’, dachte sich Pelzig und ging in Richtung Ausgangstür.
„Also, denken Sie bitte daran, mir eine Liste mit den wichtigsten Kunden zu geben. Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich an, wenn Sie fertig sind. Kann mir jemand das Passwort von Frau Schilling geben, dann haben es meine Kollegen leichter mit der Durchforstung ihres Mailverkehrs?“
„Hier kennt niemand die Passwörter der Kollegen. Wenn jemand in Urlaub geht, dann leitet er den Mailverkehr auf den Computer eines Kollegen.“
Rost sah Pelzig etwas vorwurfsvoll an. Und dann stapfte Pelzig aus der Personalleasingfirma im vierten Stock des Bürogebäudes, wo der furchtbare Mord stattgefunden hatte. Die Technik würde das Passwort von Frau Schillings Computer schon knacken!