Читать книгу Tödliche Zeitarbeit - Ines von Külmer - Страница 8
Kapitel 6: Sebastians Eifersucht
Оглавление„Mit 26 Messerstichen ist Frau Schilling erstochen worden. Einige Stiche drangen bis zu 16 Zentimeter tief in ihren Körper. Dabei wurden auch ihr Herz und ihre Lunge verletzt, das hat schließlich auch zum Tode geführt. Einige Rippen waren durch die Messerstiche durchtrennt worden. Einfach grauenhaft. Der Mörder oder die Mörderin muss Frau Schilling abgrundtief gehasst haben.“
Als die junge Kellnerin vom Bar Celona mit den Getränken für Kriminalhauptkommissar Keller und Sebastian kam, gab sie ihre Bestellung auf. Sie wusste genau, was sie essen und trinken wollte. Schließlich war sie hier praktisch Stammgast.
„Für mich bitte einen Ensalada vegetal und auch einen Lemon-Squash“, sie deutete mit dem Zeigefinger auf Kellers Glas.
„Aber sie muss sich gewehrt haben. Wir haben Hautpartikel unter ihren Nägeln gefunden. Jetzt brauchen wir nur noch den Besitzer der DNA-Probe.“
„Was ist denn eine DNA-Probe?“
Sebastian blickte seinen Vater fragend an.
„Da musst du Frau Dr. Zeisig fragen!“
Die ergriff sofort das Wort.
„Also, Sebastian, die DNA oder DNS – Desoxyribonukleinsäure, das A steht übrigens für die englische Übersetzung „acid“ ist ein Biomolekül und Träger der Erbinformation, also der Gene mit den Informationen für den Bau der Proteine, die für die biologische Entwicklung eines Organismus und den Stoffwechsel in der Zelle notwendig sind.
‚Verstehe nur Bahnhof’ konnte Keller auf dem Gesicht seines Sohnes lesen. Frau Dr. Zeisig lächelte. Sie war in ihrem Element!
„Also diese DNA bestimmt die Eigenschaften eines Menschen, wie er aussieht, zum Beispiel. Allerdings sind nur fünf Prozent der DNA so genannte codierende Bereiche. Das bedeutet, lediglich dieser kleine Bereich ist für die Eigenschaften eines Menschen zuständig. Der Rest der DNA besteht aus Abschnitten ohne prägende Eigenschaften. Kurz gesagt, diese Abschnitte sind unterschiedlich lang und variieren von Mensch zu Mensch. Alle Körperzellen eines Menschen weisen jedoch die gleiche Anzahl von Wiederholungen von Basenabfolgen auf. Diese DNA-Proben kann man beispielsweise in Hautpartikeln lokalisieren und mit der Datenbank des Bundeskriminalsamts vergleichen.“
„Und wenn die DNA des Täters nicht in dieser Datenbank gespeichert ist, was dann?“
Sebastian Keller sah die Medizinerin herausfordernd an.
Kriminalhauptkommissar Keller räusperte sich. Er wollte die bisher gute Stimmung am spanischen Mittagstisch nicht in Gefahr bringen. Er wusste, dass sein Sohn auf Caroline Zeisig eifersüchtig war.
Einmal hatte er die Rechtsmedizinerin nach Dienstschluss am Seziertisch in der Rechtsmedizin aufgesucht.
Dr. med. Caroline Zeisig war gerade 43 Jahre alt geworden, von zierlicher Gestalt und unverheiratet. Sie hatte wohl mal vor Jahren eine traumatisierende Beziehung mit einem Alkoholiker durchlitten. Näheres wusste Keller jedoch nicht. Aber eine Gerüchteküche gab es natürlich auch im Polizeipräsidium Nürnberg. Diese bezog auch die Mitarbeiter der Rechtsmedizin in Erlangen ein. Es wurde so einiges gemunkelt. Und Alleinstehende waren ja irgendwie immer verdächtig. Denn warum hatten sie denn keine Familie oder wenigstens einen Partner? An Caroline Zeisigs Aussehen lag es ganz bestimmt nicht. Sie hatte hellblonde, leicht gelockte Haare, meist im Nacken zusammengerafft zu einem Pferdeschwanz. Sie hatte ein gut geschnittenes, schmales Gesicht, einen zarten, sehr hellen Teint. Immer war sie sorgfältig, jedoch dezent geschminkt. Und intelligent war sie auch. Vom Charakter eher zurückhaltend. Die Zusammenarbeit mit der Rechtsmedizinerin verlief immer reibungslos. Über ihr Privatleben verlor sie eigentlich nie ein Wort. Eine unsichtbare Mauer hatte sie um sich herum aufgebaut – Zutritt nicht gestattet. Eigentlich hatte sie Biologie studieren wollen. Das war im Präsidium bekannt. Auffallend war jedoch, dass sich Caroline Zeisig gerne mit Ludwig Keller unterhielt. Die Gespräche drehten sich aber immer nur um dienstliche Angelegenheiten. Im Polizeipräsidium machte man sich darüber schon Gedanken. Aber war sie auch privat an ihm interessiert? Vielleicht war Ludwig Keller auch viel zu sehr in der Vergangenheit seiner Ehe versponnen, um irgendwelche auf eine Partnerschaft abzielende Signale von außen überhaupt wahrnehmen zu können. Vielleicht hatte Sebastian ja Recht, und die Rechtsmedizinerin mochte ihn wirklich über eine kollegiale Freundschaft hinaus. Ludwig Keller wollte eigentlich nur seine Ruhe haben. Seine berufliche Beschäftigung füllte ihn aus. Seine Freizeit verbrachte er sehr gerne mit seinem Sohn. Und sein Beruf beanspruchte, zumindest gedanklich, auch einen wesentlichen Teil seines Privatlebens. Und dann gab es ja noch die Freunde. Meistens Ehepaare, die auch seine Frau Kathrin gut gekannt hatten. Kathrin hatte sich durch ihren neuen Lebensgefährten in Erlangen einen anderen Freundeskreis aufgebaut. An gesellschaftlichen Kontakten mangelte es dem Kriminalhauptkommissar jedenfalls nicht.
Die eigentlich eher verschlossene Caroline Zeisig hatte dem Kriminalhauptkommissar vor ein paar Monaten einmal aus ihrem Privatleben erzählt. So gesprächig hatte Keller die Rechtsmedizinerin noch nie erlebt. Er hatte sie in der Rechtsmedizin in Erlangen besucht. Einen ziemlich brutalen Mord hatte er mit seiner Sonderkommission aufklären müssen. Die Polizei hatte im Dunkeln getappt. Es hatte keinerlei Hinweise auf einen möglichen Täter gegeben. Er war wirklich erstaunt gewesen, was da alles aus der zierlichen Frau heraussprudelte.
„Bevor ich mit dem Studium der Medizin begann, habe ich mal ein Praktikum in einer Pharmafirma in Nürnberg gemacht. Mein Vorbild waren eigentlich immer Biologen, die etwas bewegen. Zum Beispiel Hyazinthpapageien im Urwald retten. Habe vor einiger Zeit mal was im Fernsehen gesehen, über so ein Projekt. Oder Filme machen über vom Aussterben bedrohte Tierarten, wie zum Beispiel Orang Utans, die ihren Lebensraum nach und nach verlieren, weil wir hier in Europa und Amerika in unseren Gärten Möbel aus Tropenhölzern zu Sonderpreisen haben müssen. Aber ich bin eigentlich eher der ängstliche Typ. Viel zu sehr auf Sicherheit fixiert. Und dann monatelang durch den Regenwald robben, um mal eine Aufnahme in den Kasten zu bekommen, die für die sensationsverwöhnten Zuschauer am heimischen Bildschirm sehenswert ist. Also, um auf den Punkt zu kommen, bei diesem Praktikum habe ich dann studierte Biologen und Biologinnen kennengelernt. Da musste man echt aufpassen, wenn man in den Bürofluren hinter ihnen ging, dass man nicht im Schleim versank, den sie absonderten, besonders wenn sie im Schlepptau eines Firmenmitarbeiters der „oberen Etagen“ waren. Nichts für mich! Es lief überhaupt nicht gut für mich, ich fühlte mich auch gemobbt.“
Das Gesicht der Fachärztin für Rechtsmedizin hatte gestresst ausgesehen. Eine leichte Röte hatte sich auf ihren Wangen breit gemacht. Ihre Atmung hatte sich beschleunigt.
‚Was man einmal Unangenehmes erlebt hat, kann man zwar in einer hinteren Schublade des Gehirns ablegen, aber man wird es nie so richtig wieder los‘. So war es Keller durch den Kopf geschossen. Bei ihm war es die Scheidung gewesen. Immer wieder hatte er sich gefragt, was er wohl falsch gemacht hatte. Warum hatte Kathrin nie von der Unzufriedenheit gesprochen, die sich im Verlauf ihrer Ehe in ihr breit gemacht hatte? Hatte er Warnsignale übersehen?
Die Fachärztin hatte Keller aus seinen trüben Gedanken gerissen.
„Ich habe mich dann für das Studium der Medizin entschieden. Ich wollte im naturwissenschaftlichen Bereich bleiben.“
Sie beugte sich über das ziemlich entstellte Gesicht eines ermordeten Mannes in den Vierzigern, der auf dem Seziertisch lag.
„Auch wieder so ein Gefühl der Angst. Tote können einen für Behandlungsfehler nicht verklagen.“
Sie hatte den Mageninhalt des Ermordeten untersucht. Keine Hinweise, dass der Ermordete etwas zu sich genommen hatte, was seinen Tod hätte verursachen können. Das verkrustete Blutgemisch am Mund wies keine fremden DNA-Spuren auf. Der Tote war durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand so lange malträtiert worden, bis er schließlich gestorben war.
Kriminalhauptkommissar Keller blickte in ihre blauen Augen.
„Nicht alle Todesfälle sind belastend.“
Frau Dr. Zeisig hatte das auf die unausgesprochene Frage des Nürnberger Kripomannes erwidert.
„Man muss den nötigen emotionalen Abstand zu den Menschen auf dem Seziertisch wahren, sonst kann man früher oder später diesen Beruf an den Nagel hängen. Nur bei Kindern, da ist das etwas anders. Ich habe ja selbst keine Kinder…“
Ihre Stimme wurde brüchig.
„Tote Kinder gehen mir ans Herz. Das geht auch meinen männlichen Kollegen so. Ich habe einen Kollegen, der mir gesagt hat, er müsse beim Anblick von extrem übel zugerichteten Kinderleichen immer an seine Enkel denken und daran, dass es auch sie sein könnten. Rein theoretisch natürlich. Aber sehr oft sind solche Täter ja im Umfeld der Opfer zu finden.“
„Hoffentlich kann Pelzig bei den Mitarbeitern der Personalleasingfirma mehr herausfinden.“
Kriminalhauptkommissar Keller war auch gedanklich wieder in dem spanischen Tapas-Lokal.
Mittlerweile war es fast fünf Uhr, als das Smartphone des Hauptkommissars wieder einmal klingelte.
„Ist Sebastian vielleicht bei dir? Ich mache mir Sorgen, dass er noch nicht zu Hause ist. Ich bin eben erst gekommen. Er hatte doch heute um zwei Uhr Schule aus.“
„Die letzten beiden Stunden waren ausgefallen. Und da ist er zu mir nach Nürnberg mit dem Zug gefahren. Ich weiß, dass ich ihn erst nächstes Wochenende wieder habe. Ich werde ihn zum Zug bringen.“
Sebastian hatte sich, nachdem der private Lehrvortrag über Gentechnik von Caroline Zeisig ausgestanden war, mit den Zeichnungen von Insekten und Käfern in seinem privaten Naturkundeheft beschäftigt.
„Oh, die sind aber toll, die Zeichnungen, hast du die gemacht?“
Caroline Zeisig wollte einfach nur was Nettes zu Sebastian sagen.
„Wer denn sonst, Papa kann nicht zeichnen, und Mama auch nicht. Ich möchte nicht zu Gerd nach Erlangen, der mault nur immer an mir herum, ich soll mehr Mathe lernen, weil ich in der letzten Schulaufgabe eine drei hatte. Die Note drei ist doch nicht schlecht, Papa, oder?“
„Nein, natürlich nicht“, beschwichtigte ihn Kriminalhauptkommissar Keller.
„Aber wir können uns erst am nächsten Wochenende wieder treffen. Wenn ich die gerichtlich festgelegten Zeiten nicht einhalte, kriege ich Ärger mit deiner Mutter. Und dann kannst du vielleicht gar nicht mehr nach Nürnberg kommen.“
„Mit zwölf Jahren habe ich ein Mitspracherecht, wo ich bleiben will.“
Sebastian war schlecht gelaunt. Einmal wegen des Lebensgefährten seiner Mutter und dann noch wegen der Rechtsmedizinerin, die seiner Meinung nach viel zu viel privates Interesse an seinem Vater zeigte. Aber jetzt kamen die bestellten Tellergerichte. Da hellte sich Sebastians Miene schnell wieder auf, er strahlte seinen spanischen Burger an.
Die Rechtsmedizinerin nahm den Gesprächsfaden von vorhin wieder auf.
„Die Totenstarre war bei Frau Schilling schon eingetreten. Wir haben sie um halb neun Uhr aufgefunden. Der Mord muss also gegen 0:30 Uhr stattgefunden haben.“
„Pelzig hat mir erzählt, dass der Anwalt die „Frau in Rot“ um neun Uhr abends im Treppenhaus auf dem Weg von oben angetroffen hat. Vielleicht hat diese Frau ja dann gar nichts mit dem Mord zu tun. Oder sie ist noch mal zurückgekommen. Es ist jedenfalls die einzige Spur, die wir im Moment haben. Oder hat die Tote noch gelebt, als der Mörder das Gebäude verlassen hat?“
„Durch einen Stich in die Lunge ist der Lungenflügel kollabiert. Das führt normalerweise zum Tod durch Ersticken. Aber der eine Stich ins Herz, direkt in die Herzkammer, der war sofort tödlich. Eingedrungen ist das Messer zwischen der vierten und fünften Rippe direkt in die linke Herzkammer.“
„Dann passt das aber zeitlich nicht zusammen, dann muss das Verbrechen ja mindestens drei Stunden später stattgefunden haben.“
„Vielleicht wollte die „Frau in Rot“ ja im Restaurant eine Kleinigkeit essen, um sich für ihre Messerstecherei zu stärken?“
Caroline Zeisig sah Kriminalhauptkommissar Keller verschmitzt an. Ludwig Keller räusperte sich.
„Nein, mal im Ernst. Selbst wenn die „Frau in Rot“ als Täterin nicht in Frage käme. Aber was wollte sie zu so später Stunde noch bei Svenja Schilling? Eine Kundin oder eine Mitarbeiterin kann sie also wohl kaum gewesen sein.“
„Vielleicht wollte sie ganz bewusst Svenja Schilling allein im Büro antreffen. Und vielleicht wollte sie auch von niemandem gesehen werden. Das mit dem Anwalt, das war eben purer Zufall, dass der noch so lange gearbeitet hat. Vielleicht ging es ja auch um etwas Privates. Vielleicht gibt es ja überhaupt keine Verbindung zwischen dieser „Frau in Rot“ und dem eigentlichen Mörder der Personaldisponentin.“
Das Smartphone von Keller klingelte erneut. Es war wieder seine Ex-Frau. Sie hatte einen Anruf von ihrer Mutter aus Köln bekommen, beziehungsweise aus dem Krankenhaus. Ihre Mutter war gestürzt. Und jetzt hatte sie einen gebrochenen Wirbel. Sie musste also schleunigst nach Köln fahren und sich um ihre Mutter kümmern. Ein paar Tage würde sie ganz bestimmt in der rheinischen Metropole bleiben müssen. Urlaub hatte sie auch umgehend bekommen. Hoffentlich stand jetzt kein längerer Krankenhausaufenthalt der Mutter bevor! Kathrin wollte natürlich versuchen, ihre Mutter nach Erlangen zu bringen. Schließlich war das Haus ihres Lebensgefährten groß genug, um auch, zumindest vorübergehend, Sebastians Großmutter zu beherbergen.
Keller hatte seine frühere Schwiegermutter schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Es bestand ja auch kein Anlass dazu. Aber in zwei Jahren, wenn Sebastian konfirmiert werden würde, dann würde es ein Wiedersehen geben. Er hegte keinen Groll gegen seine Schwiegermutter. Im Gegenteil – sie hatte Kathrin schwere Vorwürfe gemacht wegen der Scheidung. Die Begründung ihrer Tochter, sie fühle sich unverstanden, Ludwig würde so viel arbeiten, hätte so wenig Zeit für sie und ihren Sohn Sebastian, und sie würde Ludwig einfach nicht mehr lieben, konnte die gebürtige Kölnerin einfach nicht gelten lassen. ‚Wächst das Geld etwa auf den Bäumen‘, hatte sie ihre Tochter gefragt. Und bei ihr und ihrem Vater sei ja auch nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen gewesen. Trotzdem hätte sie nie auch nur einen Augenblick lang mit dem Gedanken gespielt, ihren Mann zu verlassen, oder sich gar von anderen Männern den Kopf verdrehen zu lassen. Ludwig Kellers Schwiegermutter war immer eine tatkräftige und auch lebenslustige Frau gewesen. Dass er bei der Kripo viel arbeitete und sich auch seinem Job ausgiebig widmete, waren für Kathrins Mutter eher Pluspunkte gewesen. So hilflos mit gebrochenem Wirbel konnte er sich die eigentlich rüstige Mittsiebzigerin gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich hielt sie das Krankenhauspersonal in Köln mit ihrem nicht ganz einfachen Charakter ganz schön auf Trab. Ob er sich mal bei ihr telefonisch melden sollte? Oder sie gar besuchen sollte? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage! Dann müsste er ja in die „Höhle des Löwen“, beziehungsweise in das Haus des jetzigen Lebensgefährten von Kathrin. Er würde Sebastian mal fragen, wie es der Oma so ging, wenn sie im Frankenland angekommen sein würde.
„Kann Sebastian bei dir bleiben? Ich rufe wieder an, wenn ich mehr weiß, vor allen Dingen, wann ich wieder zurück in Erlangen bin. Und Gerd muss wieder auf Geschäftsreise. Danke.“
Typisch Kathrin! Wenn bei ihr Not am Mann war, war es selbstverständlich, dass er, Ludwig Keller, sofort einsprang! Aber in diesem Fall war er sehr glücklich, seiner Ex-Frau helfen zu können. Sebastian war ebenfalls begeistert, als er hörte, dass er jetzt auf unbestimmte Zeit bei seinem Vater bleiben durfte. Aber natürlich tat ihm seine Oma sehr Leid.
„Am besten, wir fahren dann gleich nach Erlangen, damit du ein paar Sachen holen kannst. Deine Mutter weiß noch nicht, wie lange sie in Köln bleiben muss.“
Jetzt wurde auch Frau Dr. Zeisigs Essen gebracht. Schon wieder machte sich das Mobiltelefon von Kriminalhauptkommissar Keller bemerkbar. Diesmal war Pelzig am Apparat, der ihm mitteilte, dass sich die „Frau in Rot“ als Tatverdächtige erhärtet hatte, und zwar durch die konkrete Aussage des Anwalts aus dem dritten Stock. Er teilte Keller auch mit, was er in der Zeitarbeitsfirma erfahren hatte.
„Wir müssen unbedingt herausfinden, wer die unbekannte Frau im Treppenhaus ist. Die Mitarbeiter der Zeitarbeitsfirma konnten mit der Beschreibung nichts anfangen. Ob man mal in Krankenhäusern nachfragen kann, so wie sie laut Aussage des Anwalts aussah, muss sie schwer krank sein. Vielleicht leidet sie ja wirklich an Krebs? Das würde die Perücke erklären, Haarausfall durch Chemotherapie. Und weil die Haare sehr künstlich aussahen, hat die Frau wahrscheinlich wenig Geld. Welches weibliche Wesen würde ausgerechnet an seinem Ersatz-Haupthaar sparen? Vielleicht ist sie sogar arbeitslos. Vielleicht sogar Arbeitslosengeld II. Wie viele krebskranke Frauen gibt es, die zuvor bei einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet haben?“
„In Frage kämen Krankenhäuser in Nürnberg oder Erlangen. Aber schon mal was von ärztlicher Schweigepflicht gehört?“, meinte Kriminalhauptkommissar Keller.
„Ich kenne jemanden, eine Ärztin, in der Frauenklinik in Erlangen. Irgendwie werde ich da was rausbekommen können.“
„Caroline Zeisig hat aber gesagt, der Tod müsse bei Svenja Schilling so gegen 0:30 Uhr eingetreten sein. Wie passt das dann zusammen? Die „Frau in Rot“ hat Dr. Grabowski um 21:00 Uhr im Treppenhaus gesehen. Der Anwalt war sich bei der Zeitangabe sehr sicher. Und was ist mit der Zigarettenschachtel, die wir vor der Haustür sichergestellt haben? Vielleicht stammt ja die vom Täter.“
Robert Pelzig räusperte sich.
„Die Spur der Frau mit der roten Wolljacke müssen wir dennoch weiterverfolgen. Selbst wenn sie nicht als Täterin in Frage käme, so könnte sie uns doch wichtige Hinweise liefern, was sich am Mittwochabend in der PersonalLeasing GmbH abgespielt hat. In welcher Beziehung stand sie zu Svenja Schilling? Diese Frau ist – ob sie nun tatsächlich als Täterin in Frage komme oder nicht – wahrscheinlich die letzte Person, die Svenja Schilling noch lebend gesehen hat.“
„Hast du was herausgefunden über das Privatleben von Frau Schilling?“
„Sie war sehr beliebt bei den Kunden, weil sie immer erfolgreich vermittelt hat. Sie ist verheiratet, hat einen Sohn von zwei Jahren, den sie in die Firma mitbringen kann, wenn ihre Schwiegermutter mal keine Zeit hat, auf ihn aufzupassen. Ob sie sich mit ihrem Mann gut verstand, konnte niemand von den Mitarbeitern sagen. Sie kannten sich privat nicht so gut. Sie kam sehr gut mit der Firmeninhaberin, Frau Link, klar. Und die war heute nicht im Büro“.
„Wer hat denn den Ehemann benachrichtigt?“
„Zuerst haben die Mitarbeiter die Firmeninhaberin angerufen. Und die hat, glaube ich, dann sofort den Ehemann benachrichtigt.“
Kriminalhauptkommissar Keller sagte Pelzig noch, dass er sich um den Ehemann kümmern wolle.
„Ich rufe gleich mal im Büro an, um die Nummern von Festnetz und Handy zu erfahren. Wissen Sie, wo Frau Schilling wohnt beziehungsweise wohnte?
„In Heroldsberg, das ist zwischen Nürnberg und Erlangen. Genaue Adresse hat das Büro. Aber Moment mal, hat Ihnen nicht die Dame vom Empfang der Zeitarbeitsfirma die Telefonnummer von Jens Schilling gegeben?“
„Ja, aber die ist mir irgendwie abhandengekommen. Mit Zetteln aufheben habe ich es nicht so, das wissen Sie doch, Pelzig.“
„So was verwalte ich jetzt elektronisch.“
Aber Robert Pelzig wusste ja, was sein Chef von den modernen kommunikativen Geräten hielt. Überall klebten im Büro gelbe Notizzettel von Ludwig Keller, die er bekritzelte, wenn ihm irgendetwas Wichtiges durch den Kopf schoss. Kein Wunder, dass man sich da nicht mehr auskannte.
Sebastian war inzwischen mit seinem Burger fertig und freute sich auf das kommende Wochenende.
„Hast du noch Hausaufgaben zu machen?“
„Ja, die mache ich dann gleich, wenn wir zu Hause sind. Wir können doch morgen nach Erlangen fahren, um noch mehr Sachen von mir zu holen. Waschsachen und so sind doch alle bei dir. Und ein paar Klamotten für den Notfall sind doch auch bei dir gebunkert. Außerdem brauche ich nicht so viel zum Anziehen.“
„Gut“, sagte Kriminalhauptkommissar Keller. Es war wirklich ein Segen, dass sein Filius gegen den Markenwahn einiger seiner Schulkameraden immun war. Und zum Glück gab es in seiner Klasse genug Jungen, die so dachten wie Sebastian. Ob er die Leidenschaft für das Käferzeichnen von einem seiner Freunde abgeschaut hatte? Sein Sohn hatte Ludwig Keller auch mal berichtet, dass im Deutschunterricht über den fairen Handel diskutiert worden war. In diesem Zusammenhang hatte die Lehrerin wohl auch erwähnt, dass preisgünstigere Kleidung in denselben Sweat-Shops produziert werden würde wie die teure Markenware. Warum dann nicht gleich zu geldbeutelfreundlichen Klamotten greifen?
„Wir fahren dann mit der U-Bahn nach Hause, und ich rufe dann Herrn Schilling an.“