Читать книгу Novemberzauber 1989 - Inga Droemer - Страница 8

Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. ODER: Das allererste mal

Оглавление

Es war ein kalter, wolkenverhangener Novembertag, an dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür gejagt hätte. Die Scheiben unseres weißen Skoda`s waren fest zugefroren. Mein Mann war immer schon zum Auto gegangen, ließ den Motor laufen und kratzte in seiner warm gesteppten Winterjacke, mit Schal, Mütze und Handschuhen von draußen die Scheiben frei. Ein Weilchen später verließ ich mit den Kindern das Haus. Ich war irgendwie angespannt, aufgewühlt und trotzdem unwahrscheinlich neugierig auf diesen Tag und musste zusätzlich schon wieder mit unserem ältesten Sohn schimpfen. Er war ein wilder Junge, hielt sich nicht an die Regeln und wollte schon wieder die erste Geige spielen. Entnervt von ihm stiegen wir bepackt mit unseren dicken Wintersachen ins Auto.

Unsere Freunde warteten schon auf uns. Sie saßen genauso eingemummelt in ihren dicken Jacken hinter dem Lenkrad ihres Wartburg´s wie wir und ließen den Motor laufen. Gemeinsam starteten wir in die für mich aufregendste, emotionalste Autofahrt meines Lebens.

Ich zerbrach mir den Kopf mit der Frage, was mich an diesem Tag erwarten würde, hatte ein wenig Angst davor, mehr vor meinen Gefühlen als vor allem anderen. Wie oft begleiteten wir meine liebe Oma in die naheliegende Friedrichstraße, wenn sie zu Tante Irmgard, ihrer Cousine, nach Charlottenburg fahren wollte, sahen von fern die weißen Hochhäuser weit über Berlin ragen. Sie standen im Westen, waren einen Steinwurf von uns entfernt aber trotzdem unerreichbar für uns Menschen im Osten. Jedes mal rechnete ich insgeheim die noch vor mir liegenden Jahre aus, bis ich 65 und endlich offiziell hätte rüber fahren dürfen. Und heute sollte dieser Tag sein, vierunddreißig Jahre früher als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Freudentränen kamen immer wieder während der Fahrt über meine Wangen gerollt, ich konnte nichts dagegen tun.

Während der Fahrt, egal wann und wohin, streckte ich meinen Kindern immer meine linke Hand entgegen, damit wir uns spüren und festhalten konnten. Ein Ritual, was ich auch heute immer wieder genauso machen würde.

Kilometerlange Autoschlangen schoben sich langsam und stockend in Richtung Grenzübergang, es war eine Völkerwanderung auf Rädern, fast gespenstisch. Der quietschende Scheibenwischer strich immer wieder den Nebel von der Frontscheibe, es war so diesig und wollte einfach nicht hell werden. Nur diese eine Straßenseite nach Berlin war befahren, auf der Gegenüberliegenden blieb der Verkehr komplett aus. Ich hatte mich nur einmal während der Fahrt umgedreht, um aus dem Rückfenster zu sehen. Es war gruselig, fast wie im Krimi, als verfolgten uns Hunderte von Autos. In jeder Kurve, die wir gerade gefahren waren, fuhren pausenlos neue, sich dahin schiebende Trabis, Wartburg´s und Skoda`s. Ein völlig neues Bild bot sich uns!

Irgendwann fuhren wir noch langsamer, die Autos vor und hinter uns begannen mit einem Hupkonzert, ich traute mich kaum noch, aus dem Fenster zu sehen, bekam eine Gänsehaut nach der anderen. Bewegte winkenden Menschenmassen standen zu Tausenden am Straßenrand, jubelten und applaudierten uns zu, als kämen wir gerade als Sieger ins Ziel. Plötzlich klopfte jemand vorsichtig an meine Autoscheibe. Ich erschrak, war darauf gar nicht gefasst. Eine junge Frau suggerierte mir, ich solle die Scheibe herunter lassen. Ich tat, was sie wollte. Mit den Worten: „Es ist ja so kalt!“ legte sie mir eine Tüte Ma-o-am in meinen Schoß und schenkte mir ein Buch von Pinokio für unsere Kinder. Ich konnte mich kaum bei ihr bedanken, sie rieb ihre Hände vor Kälte aneinander, hauchte in ihre offenen Handflächen und war augenblicklich wieder in der Menschenmasse verschwunden.

Was für ein besonderer Augenblick menschlicher Wärme war das denn? Für mich bleibt diese kleine, liebevolle Geste bis heute unvergessen!

Wir fuhren tief beeindruckt von diesem ganz besonderen Augenblick über die Grenze nach Westberlin, ich weiß nicht mehr, wo das war und ob wir unseren Personalausweis vorlegen mussten, das weiß ich auch nicht mehr. Ich erinnere mich nur an diesen Mann, nein, das war kein Mann, das war ein gut aussehender, schlanker Herr. Er kam uns entspannt lächelnd mit seinem grauen Lodenmantel entgegengelaufen, als wir nach dem Parken gerade aus unserem Skoda gestiegen waren, hatte seine Kragenecken hochgeschlagen, eine flotten Hut auf dem Kopf, einen bunten warmen Kaschmirschal um seinen Hals geknotet, wie ich es davor nur aus Filmen kannte, seinen Dackel an der Leine und sagte vornehm sympathisch zu uns: „Ich begrüße sie recht herzlich in Westberlin!“

In dem Augenblick brach ich leise für mich in Tränen aus. Dieser Mann gab uns zu verstehen, ihr seit willkommen. Wir waren im goldenen Westen, dafür bestand für mich kein Zweifel mehr.

Doch das dauerte nicht lange. Als wir die verschmutzten Bahnhöfen sahen, die mit Graffiti beschmierten Wände, die Hundekacke überall, unsaubere Bürgersteige, viel zu volle Müllbehälter, aus denen diverse Flaschen und zerknülltes Papier quoll, das sich bereits selbständig gemacht hatte und wild umher tanzte, wurde unser anfangs positiver Eindruck von Berlin drastisch geschmälert und getrübt. Wir fühlten uns unwohl und fremd in dieser lauten, unpersönlich stinkenden Stadt, kannten uns nicht aus. Dieser unzähmbare Verkehr, hektisch und aufregend, machte mich schon vom Zusehen nervös.

Die Autos rasten, verschafften sich durch langes Hupen ihr Recht, drängelten sich noch gerade so dazwischen. Sie parkten dicht beieinander halb auf den matschigen, belaubten Gehwegen und ließen jeden Trabi zwischen ihnen lächerlich erscheinen. Beeindruckt war ich von den bunten Doppelstockbussen, das gebe ich ehrlich zu. Und die vielen Menschen? In unserer Kleinstadt kannte jeder jeden, und hier liefen alle fremd und anonym aneinander vorbei, waren nur bei sich, ohne den Anderen überhaupt wahrzunehmen, als wäre er gläsern und unsichtbar .

Mit zunehmender Dunkelheit fing ganz Berlin auf einmal an zu funkeln und weihnachtlich zu erstrahlen. Tausende von Kerzen erhellten die bis eben noch so fremde, schmutzige Stadt und steckte sie in ein ganz besonderes Festtags Kleid, krempelte unsere Eindrücke und Gefühle noch einmal um und betörte unsere Sinne unvergessen. Wir hielten uns und unsere Kinder fest an den Händen, standen wie festgewurzelt und waren voller ehrfürchtiger Anmut über diese wunderschöne kilometerlange Weihnachtsdekoration. Wohin wir auch sahen, glitzerte und leuchtete es, als hätte der Herrgott einen Schalter umgelegt. Selbst die kahlen Bäume am Straßenrand erstrahlten zauberhaft, Koniferen steckten in Kübeln vor den Geschäften und waren liebevoll herausgeputzt worden mit roten Weihnachtskugeln und passenden brennenden Kerzen. Warum war

uns das in der DDR nicht eingefallen? Warum gab es bei uns nicht einmal eine Lichterkette zu kaufen?

Bei dem ganzen Wirrwarr und dem individuellen Wechselbad der Gefühle mussten wir noch zur Toilette, bevor es nachhause ging. Nie im Leben hatte ich mir bis dahin Gedanken über ein „Westklo“ gemacht, weder über dessen Bedienung noch Handhabe. Das sich daraus eine unvergessene Situationskomik ergeben würde, damit konnte ich nicht rechnen.

Gut, es war scheinbar auch eine bessere Örtlichkeit, die wir rein zufällig aufgesucht hatten. Meine sechsjährige Tochter Stefanie und ich betraten schnurstracks die dafür vorgesehene WC-Kabine. Als hätte die Plackerei mit den dicken Wintersachen in dieser Enge nicht schon ausgereicht, da erwartete mich anschließend noch eine viel größere Überraschung! Ich fand keine Klokette, an der ich hätte ziehen können, das war zu dieser Zeit bei uns in den öffentlichen Toiletten so üblich, und keinen Klospüler. Wo hatte der sich versteckt? Mir wurde immer wärmer und ich wurde hektischer, hampelte in diesem winzigen Raum umher und suchte gemeinsam mit Stefanie vergebens und verzweifelt danach. Irgendwann beschlossen wir, zu gehen, heimlich zu verschwinden, es blieb uns ja gar nichts weiter übrig! Als wir die Toilettentür öffneten, ging auf einmal die Spülung an! Was? Wir sahen zurück und guckten uns sprachlos in die Augen, das grenzte schon an Hexerei! Schnell wollten wir unsere Hände waschen, doch es kam auch hier kein Wasser aus den Wasserhähnen, weder Warmes noch Kaltes, all mein verzweifeltes Drücken und Drehen half nichts, immer wieder versuchte ich mein Glück. „Na gib`s denn so was?“ stammelte ich. „Ist das auch kaputt?“ fragte mein Töchterchen besorgt. Sie hatte bereits die Ärmel ihrer Jacke bis zum Ellenbogen hochgezogen, hing mit beiden Armen im Waschbecken und wartete auf warmes Wasser, das machte sie immer so.

In dem Moment trat eine Dame ein und ging in den nächsten Raum zur Toilette, eine weitere folgte ihr. Ich schnappte mir meine Handtasche, nahm meinen Lippenstift und meine Haarbürste und begann augenblicklich, mir meine Lippen sorgfältig nachzuziehen und meine Haare ganz langsam zu frisieren. Das wäre doch gelacht, dachte ich, wenn ich nicht herausfinden würde, wie die hier im Westen einen Wasserhahn bedienten. Ich wollte mir Klarheit verschaffen für ein nächste Mal, das hatte mit menschlicher Neugier nichts zu tut, das war Nützlichkeitsdenken.

Irgendwann trat die Fremde an das Waschbecken. Ich beobachtete sie unauffällig von der Seite, als sie fast lächerlich zu meiner Tochter sagte: „Na, willst du dir deine Händchen waschen?“ Sie schenkte mir einen Blick der besonderen Art, hielt ihre Hand unter den Wasserhahn und schon kam der Wasserstrahl gelaufen und hörte nicht wieder auf. Meine Tochter freute sich wie Bolle darüber. Nichts ist ja bekanntlich ansteckender als die Freude eines Kindes, aber mir blieb die Spucke weg. So simpel? So einfach und ohne Kraftaufwand? Und ich hatte fast den Hahn abgerissen.

Das war im Nachhinein wirklich witzig! Hier funktionierte alles mit Lichtschranken, hier gab es kein Drücken oder Drehen mehr. Wer hätte das gedacht! Die im Westen wussten natürlich sofort, woher wir kamen, merkten uns die Schüchternheit hinter jedem verlegenen Lächeln an. Aber das war nicht schlimm für mich, wir mussten doch erst unsere Erfahrungen mit dem Westen machen.

Mit knallroten Lippen und halbtot von den gewonnenen Eindrücken stiegen wir in unser Auto, und fuhren in kilometerlangen Autoschlangen durch die Dunkelheit zurück nachhause. Es gibt Tage, die haben es wirklich in sich und dieser war einer von ihnen. Unsere Kinder waren längst eingeschlafen, als wir das hell geschmückte Berlin verließen. Ich war viel zu müde zum Sprechen, dekorierte in Gedanken meinen halben Garten auf Weihnachten und bedankte mich insgeheim für dieses Geschenk der Freiheit an diesem unvergessenen Tag.

Novemberzauber 1989

Подняться наверх