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Rückkehr in die Hauptstadt

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Elaine starrte ungläubig in den Spiegel. Sie war doch eben erst zurückgekommen! War denn nicht alles wieder mehr oder weniger in Ordnung? Malvina grinste sie an und winkte sie näher zu sich. Elaine trat zögernd vor und sah, wie ihr Spiegelbild verschwand und nur das Bild von Malvina blieb. Das Mädchen griff in die Falten ihres Rocks, holte einen Lippenstift hervor, machte ihn auf und begann damit zu schreiben. Elaine sah die spiegelverkehrten Buchstaben und schüttelte nur den Kopf. Malvina sah erst irritiert zu ihr, dann auf die Buchstaben und nickte dann. Sie wischte die Schrift mit einem Taschentuch weg und begann von Neuem. Jetzt konnte Elaine auch lesen, was ihr Gegenüber schrieb.

„Hallo Ellie. Lust auf einen weiteren Abenteuerurlaub?“

Elaine sah Malvina mit einem entnervten Gesichtsausdruck an und schüttelte den Kopf.

Das Mädchen schrieb weiter: „Es wäre aber gut, wenn du kommen würdest. Ein paar Freunde brauchen Hilfe und wir haben hier schon alles versucht. Alles, außer dir.“

Elaine seufzte. Das musste ja so kommen. Doch dass ausgerechnet Malvina diejenige sein würde, die sie um Hilfe bat, das war seltsam. War sie denn nicht mit dafür verantwortlich gewesen, dass Elaine überhaupt in die ganze Sache hineingezogen wurde?

„Aber ich bin doch kaum weg gewesen!“, stieß sie aus.

Malvina seufzte und ein weiterer Satz erschien in einer zartrosa Lippenstiftschrift: „Dafür sind bei uns über zehn Jahre vergangen.“

Jetzt erst fiel Elaine auf, dass Malvina tatsächlich etwas anders aussah. War sie bei ihrer ersten Begegnung trotz der gängigen Meinung kaum noch als eine junge Frau zu bezeichnen, so schien ihre Erscheinung jetzt angemessener dafür zu sein. Zumindest waren nun weibliche Formen unter ihrem blauen Kleid zu erkennen. Abgesehen davon schien sich ihr Kleidungsstil auch geändert zu haben. Sie trug keine Schleifen oder Rüschen mehr. Das Kleid war einfacher und erwachsener, ebenso auch ihre Frisur, bei der die blauen Locken fast frei den Rücken hinunter fielen.

Elaine seufzte: „Ja, aber – aber wenn ich diesmal weggehe, wer kann mir garantieren, dass ich auch nur eine Stunde später oder so hier bin, wie vorhin? Meine Freundin ist vermutlich jetzt schon sauer, weil ich mich verspäte, und ich habe immer noch keine Ausrede. Ich kann ihr wohl kaum sagen, dass ich mal eben in einer Parallelwelt war, oder?“

Malvina seufzte erneut und ein weiterer Satz folgte: „Bitte! Ohne einen Träumer haben wir schlechte Karten. Es haben sich einige Dinge geändert. Ich kann dir momentan nicht sagen was, weil diese Kommunikationsmethode nicht sicher ist. Aber deine Freunde brauchen dringend Hilfe.“

Meinte sie damit Corry und die anderen? Dann war es vielleicht tatsächlich ein Notfall, wenn Leute wie sie Hilfe brauchten. Vor allem, wenn darüber hinaus jemand wie Malvina nicht mehr weiter wusste. Malvina war Elaine nicht besonders hilflos vorgekommen, als sie ihren Verstand durch die Mangel gedreht hatte. Wäre Elaine nicht eine Träumerin, wie Irony sie genannt hatte, dann wären ihre Freunde dank Malvina jetzt entweder tot, oder wahnsinnig oder gebrochen – und sie selbst für den Rest ihres Lebens in einer Anstalt eingesperrt. Und doch stand dieses Mädchen vor ihr, ihr unschuldiges Aussehen eine perfekte Tarnung für die Macht, die sich hinter dem puppenhaften Gesicht verbarg, und versuchte immer noch, sie zu überzeugen. Aber so einfach würde das nicht gehen.

„Also, wie sieht es aus mit der Zeit?“

Malvina zuckte die Schultern: „Ich weiß es nicht. Ich denke, du als Träumer könntest darauf Einfluss haben, auf die Zeit deiner Rückkehr, das hat ja dieses Mal gut geklappt. Vielleicht könntest du sogar den Ort deiner Rückkehr bestimmen. Außerdem müsstest du jetzt sowieso einen anderen Eingang nehmen.“

Elaine stutzte: „Wieso? Was ist mit dem Tornado? Ist der Zug etwa kaputt?“ War es nicht so, dass Corry oder ein anderer ihrer Freunde ihr mal gesagt hatte, dass der eigenwillige Zug namens Tornado nunmehr die einzige Möglichkeit war, zwischen den Welten zu wechseln?

Malvina wirkte etwas zerknirscht: „Es ist so...“, sie hielt beim Schreiben kurz inne, als ob sie nach den richtigen Worten suchen musste, „dass der Tornado auf den Prinzen hört und der Prinz...“

„Er hat diese Aktion nicht genehmigt, richtig?“

Malvina nickte: „So ist es. Der Prinz sieht die Gefahr nicht. Das ist eines unserer Probleme.“

Der Prinz sollte die Gefahr nicht sehen? Aber war er nicht derjenige, der so ziemlich alles wusste? War er nicht derjenige gewesen, der Elaine und ihre Freunde geführt und beschützt hatte, damit sie Cerebro und Malvina das Handwerk legen konnten? Elaine kamen Zweifel auf an dem, was Malvina ihr sagte. „Du willst mich doch nur wieder in Schwierigkeiten bringen, oder?“ Sie sah das Mädchen skeptisch an.

Malvina schüttelte energisch den Kopf: „Nein, das ist nicht meine Absicht. Es kann natürlich passieren, aber eigentlich hoffe ich, dass allein deine Anwesenheit das Problem lösen könnte. Bitte, Ellie.“

Es war eine merkwürdige Situation – so wenig Elaine dem Mädchen traute, so sehr spürte sie auch, dass dieser Hilferuf tatsächlich ernst gemeint war und nicht bloß eine Falle darstellte. Es war seltsam, aber es war offensichtlich wahr.

Elaine seufzte. Sie hatte wieder dieses Gefühl, dass sie nicht einfach untätig bleiben konnte, wenn jemand sie brauchte. Und dieses Gefühl stellte sich nun ganz von alleine ein, ohne dass der Prinz sich in ihren Kopf schlich. Vielleicht würde es diesmal aber wirklich nur eine kurze Geschichte werden? Als Träumer musste sie doch nur daran denken, dass alles gut werden soll. Wenn sie ihre Rückkehr dann auch noch zeitlich so hinbekommen könnte, dass hier keiner etwas merkte, warum nicht? Es schien wirklich keine große Sache zu sein.

„Werde ich etwas brauchen?“

Malvina wirkte sehr erleichtert über diese implizite Zusage. Dann überlegte sie kurz: „Nimm ruhig ein paar Kleinigkeiten mit. Frei nach Gefühl, meine ich. Und vielleicht noch die Sachen, die ... meine Familie dir geschenkt hat.“

Sie meinte also die Murmeln, die Köder, die Feder und das Fotoalbum, die Elaine von den vier als Andenken mitbekam. Das Packen dauerte nicht lange, Elaine musste nur einige Dinge aus dem Rucksack rausholen und einige wieder hineintun. Ihr kamen ganz seltsame Dinge in den Sinn, in der Tat eher die Kleinigkeiten. Aber sie erinnerte sich noch dunkel daran, wie Boo ein Feuer mit der Sprühsahne gelöscht hatte und wie gut und lange die Geldscheine gebrannt hatten, also gab es sicherlich auch irgendwie für den einen oder anderen Gegenstand unerwartete Verwendung. Und wenn sie die Sachen nicht brauchen würde, dann wogen sie zumindest nicht viel. Es war auch gut so, weil sie keine Lust hatte, einen so riesigen Rucksack mit sich zu schleppen, wie Leo damals.

„Und was war das mit dem Eingang?“

Malvina schmunzelte: „Wir werden etwas Neues versuchen. Es ist eigentlich eine uralte Methode, aber bei euch ist sie schon lange in Vergessenheit geraten. Größtenteils zumindest. Darum sind heute nur wenige in der Lage, andere Eingänge oder Ausgänge zu öffnen. Bei mir müsste es klappen.“

Elaine nickte. Malvina wischte das Geschriebene ab, drehte den Lippenstift dann etwas weiter auf und begann, den Spiegel damit zu umranden.

Elaine dämmerte es: „Ich soll durch den Spiegel gehen?“ Malvina nickte.

Das war merkwürdig – da war schon einmal etwas mit einem Spiegel gewesen, sie hatte einen Alptraum darin gesehen, aus dem ihre Freunde sich gerade noch in den Palast des Fürsten von Südland retten konnten, nur damit sie alle dann der endgültigen Bedrohung gegenüberstehen konnten. Als Elaine diesen Gedanken zu Ende verfolgt hatte, war der Rahmen fertig. Es gab ein kurzes Aufleuchten entlang der Linien und das Glas wurde regelrecht durchsichtig wie Luft, es spiegelte sich kein Licht mehr darin. Dann winkte Malvina Elaine zu sich.

Elaine legte zögernd eine Hand dorthin, wo sie die glatte Spiegeloberfläche vermutete, und das Glas gab nach. Es fühlte sich wie kühles Wasser an. Langsam glitt ihre Hand durch die kalte Scheibe, dann griff Malvina nach ihr und zog sie mit einem Ruck durch. Elaine keuchte überrascht – sie hatte diesen kraftvollen Zug nicht erwartet, ebenso wenig die eisige Kälte, die ihr bis ins Mark ging, als sie durch das Glas gezogen wurde. Es schien fast so, als wäre sie zu einem Spiegelbild gefroren, wenn sie sich nur etwas langsamer bewegt hätte.

In diesem einzigen Augenblick der eisigen Kälte kehrte all das zu ihr zurück, das nach ihrer Rückkehr nach Hause zu verblassen begann – ihre unfreiwillige Ankunft in dieser seltsamen Welt, die neuen Freunde, die sie dort getroffen hatte, die Gefahren, die sie hatten überwinden müssen, und schließlich das Glück, alles heil überstanden zu haben. Sie erinnerte sich und wusste, warum sie wieder zurück gegangen war.

Sie hatte ihre Freunde sehr lieb gewonnen – den lustigen Jungen Boo, den tapferen Athleten Leo, den charismatischen Barden Irony und den Profi Corry, eine wirklich einmalige Frau. Sie hatten damals zusammengehalten, und sie würde sie auch jetzt nicht im Stich lassen. Sie hatten so lange auf sie aufgepasst, bis sie in der Lage war, sich selbst und ihnen zu helfen – und das würde sie auch jetzt wieder tun. Das war das einzige Richtige.

Elaine blickte zurück und sah für einen Augenblick noch ihr Schlafzimmer, dann aber nur noch ihr eigenes Spiegelbild, hinter sich Malvina und dann einen edel ausgestatteten Raum, der ihr vom Einrichtungsstil irgendwie bekannt vorkam. Die Tür ging gerade auf und ein Mann trat ein. Elaine seufzte.

Von allen Orten in der Hauptstadt musste es sie natürlich ausgerechnet zum Grafen von Karpat verschlagen. Sie wusste nur zu gut, dass sie ihn bei ihrer ersten Begegnung am liebsten erwürgt hätte für seine Aufdringlichkeit. Sie wusste nicht, wie er das gemacht hatte, aber er hatte beinahe ihren Willen gebrochen. Doch das Besondere an ihr hatte auf einmal einen edlen Ritter aus dem dekadenten Grafen gemacht, was ihn immer noch nicht daran gehindert hatte, sie zu begehren. Lag es tatsächlich nur daran, was der Prinz in ihrem Kopf geflüstert hatte, dass sie schließlich nachgegeben hatte? Wohl kaum. So ungern sie es sich selbst eingestand, sie hatte viel für ihn übrig, vermutlich gerade weil er nicht gut für sie sein konnte. Und jetzt war sie wieder in seinem Haus. Warum ausgerechnet dort?

Malvina kicherte, als sie Elaines Gesichtsausdruck sah und der Graf grinste über das ganze Gesicht: „Ich glaube, ich sollte demnächst selbst für ein, zwei Katastrophen sorgen, dann sehe ich Euch öfters, Ellie.“ Dann fügte er leise hinzu: „Ich habe Euch sehr vermisst.“

Elaine ging zu ihm und lächelte: „Und ich hätte nicht gedacht, dass wir uns überhaupt jemals wiedersehen, geschweige denn so bald.“

Von Karpat sah überrascht zu Malvina: „Wie viel Zeit ist in ihrer Welt denn vergangen?“

Malvina schmunzelte: „Kaum mehr als eine Stunde.“

Der Graf seufzte: „Es ist beängstigend.“

Elaine sah ihn erneut an, diesmal genauer, und stellte fest, dass er sich in den zehn Jahren, die angeblich vergangen sein sollten, äußerlich kaum verändert hatte. Er wirkte anders, aber das war nicht darauf zurückzuführen, dass er physisch älter geworden war. Dann sah er auch zu ihr, lächelte kaum merklich, ging auf sie zu und küsste sie voller Leidenschaft.

Offensichtlich hatte er sie in dieser Zeit nicht vergessen, so viel stand für Elaine fest. Sie war darüber irgendwie erleichtert. In ihrem Inneren hatte sie es gehofft, aber nicht erwartet, dass er noch einen Gedanken an sie verschwenden würde, wenn sie erst einmal in ihre Welt zurückgekehrt war. Es hätte natürlich alles nur ein Spiel sein können, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er die Wahrheit sprach – und dass dieser Kuss ebenfalls nicht lügen konnte. Er konnte wirklich hervorragend küssen. Es war geradezu berauschend, so etwas hatte sie noch nie erlebt.

Noch jemand betrat den Raum, kaum hörbar, und räusperte sich dann: „Ähem, könnten wir das auf später verschieben und erst zu den dringenderen Angelegenheiten kommen?“

Das Paar unterbrach den Kuss widerwillig und Elaine sah überrascht zu Kryss: „Hallo! Ähm... wie geht es dir?“

Kryss hatte sie als letzten in diesem noblen Haus erwartet. Jemand, der in der Kanalisation hauste, der sich offensichtlich mit Vorliebe in Lumpen hüllte, obwohl ihm ein reicher Fundus hervorragender Kleidung zur Verfügung stand, der manchen Abfall sammelte und sich mit ekelhaftem Ungeziefer und schrecklichen Kreaturen umgab, was hatte so jemand im Haus des Grafen verloren? Selbst wenn der Graf von Karpat ihn eingeladen hatte, hätte Elaine nie im Leben gedacht, dass Kryss annehmen würde. Er war nicht der Typ dafür – und doch war er hier.

Dieser einsiedlerische Mann wirkte ebenfalls nicht viel älter als früher, auch war er weder schöner noch hässlicher geworden, nur seine Kleidung hatte sich verändert. Es waren keine Lumpen mehr, es waren vielmehr Bandagen, wie man sie von Mumien kannte. Nur waren diese Bandagen schwarz.

Er grinste: „Oh, danke der Nachfrage, nur leider nicht besonders gut. Aber dazu später irgendwann.“ Er wandte sich an die anderen: „Wir sollten Ellie mal auf den neuesten Stand bringen und ihr erklären, warum wir sie hier brauchen, meint ihr nicht?“

Malvina nickte und von Karpat ebenfalls. Dann kam ein Butler herein, mit einem Servierwagen, auf dem sich vier Teetassen und eine Teekanne befanden, dazu noch Teegebäck. Elaine fragte sich, woher der Butler wusste, dass er ausgerechnet in diesem Augenblick das Zimmer betreten sollte – dann wiederum, bei dem, was sie bisher in dieser Welt erlabt hatte, sollte es sie nicht wundern. Wenn Wände einen unterstützen und Aufzüge einem nach dem Leben trachten konnten, war alles möglich. Von Karpat deutete auf eine Sitzgelegenheit und sie nahmen Platz. Nachdem alle ihren Tee hatten, ging der Diener und ließ sie allein.

„Also, was ist denn jetzt eigentlich los?“, frage Elaine.

Malvina seufzte: „Ich glaube, ich fange am besten an. Wie du noch mitbekommen hast, habe ich mich nach dieser Geschichte freiwillig in eine Art Exil begeben. Ich verbrachte fast die gesamten zehn Jahre außerhalb der Hauptstadt, ich wanderte durch das Land und litt unter meinem Gewissen. Irgendwann hatte ich schließlich das Gefühl, dass es an der Zeit war, in die Hauptstadt zurückzukehren. Mein Gefühl sagte mir, dass ich meine Schuld jetzt begleichen könnte.“

Sie machte eine kurze Pause und sprach weiter: „Also kehrte ich zurück und ich freute mich sehr darauf, meine Familie wieder zu sehen. Doch als ich schließlich hier eintraf, musste ich feststellen, dass sich einiges verändert hat. Meine Familie, sie waren nicht mehr sie selbst. Ich habe zuerst versucht, selbst herauszufinden, was passiert ist, aber ohne Erfolg. Als Detektiv tauge ich ohnehin nicht viel. Darum wandte ich mich an Kryss, in der Hoffnung, dass er mehr wuss¬te. Schließlich war er die ganze Zeit über hier gewesen.“ Damit endete sie und sah zum Mann in den Bandagen.

Kryss nickte: „Ja, es wäre eine ganz schöne Überraschung gewesen, als sie vor meiner Höhle stand, wäre ich nicht bereits über ihr Eintreffen hier informiert gewesen. Mir war auch ziemlich klar, warum sie zu mir kam. Es ist mir nicht entgangen, was sie versucht hat. Sie hat immer noch eine Schuld gut zu machen. Und ich habe bereits vor ihr versucht, diese Entwicklung aufzuhalten, ebenfalls ohne Erfolg. Wie auch immer, ich habe sie darüber informiert, was passiert ist und das werde ich dir jetzt auch erzählen.“ Kryss nippte an seinem Tee.

„Es fing an bereits kurz nachdem Malvina gegangen war, aber da war die Entwicklung noch zu subtil und zu schwach, um sie zu erkennen. Es begann um genau zu sein damit, dass der Prinz, um euch seine Dankbarkeit zu zeigen, unsere vier Freunde in gewisser Weise unantastbar vor dem Adel machte, beziehungsweise dir die Rückkehr erlaubte. Und du erinnerst dich sicherlich auch daran, dass Corry vom Prinzen beauftragt wurde, im Profi-Hauptquartier nach dem Rechten zu sehen.“ Elaine nickte.

Kryss nahm einen Schluck Tee und erzählte weiter: „Das tat sie dann auch, nicht lange nachdem du gegangen bist. Was folgte, war eine Welle von Entlassungen und eine ziemlich gewaltige Umstrukturierung der Behörde. Corry hat ganze Arbeit geleistet und man muss es ihr lassen, sie versteht etwas von ihrem Job. Sie fand auch einen angemessenen Nachfolger für Cerebro. Es mangelte ihm zwar noch etwas an Erfahrung, aber sie sollte ihn ohnehin unterstützen, also schien das kein allzu großes Problem zu sein. Übrigens, Cerebro fristet jetzt als Beamter sein Dasein.“

„Nun ja, Corry hat ihr bestes getan, aber anscheinend war das Problem mit den Profis nicht allein auf das Personal oder die Strukturen der Behörde zurück zu führen. So genau wissen wir das immer noch nicht, zumal sowohl am Anfang als auch einige Zeit später alles prima zu sein schien. Corry wollte die Profis ja nicht anführen, das Beaufsichtigen war ihr bereits zu viel. Es ist immer derselbe Gedanke – Macht korrumpiert. Und Corry hatte immer Angst davor – aber es war nur so ein Gefühl und sie konnte sich schlecht ohne einen guten Grund der Anweisung des Prinzen widersetzen. Sie hatte eben nur so ein Gefühl, keine stichhaltigen Beweise. Früher hätte ein Gefühl genügt, heute leider nicht mehr. Wir sollten uns wohl bei deiner Welt in der Hinsicht bedanken“, Kryss grummelte.

„Im Übrigen steht sie seit deiner Abreise im Dienst seiner Hoheit. Sozusagen als seine persönliche Agentin. Es kam etwas unerwartet und wir alle hatten kein gutes Gefühl bei der Sache, aber so schlimm schien es auch nicht zu sein. Der Prinz ist ja zum Glück kein solcher Kerl wie der Fürst von Südland.“ Er nahm noch einen Schluck Tee.

„Der Vollständigkeit halber sollte ich auch das Schicksal der Verschwörer erwähnen. Gräfin Pepper wurde im Großen und Ganzen unrechtmäßig verhaftet, also hat man sie wieder auf freien Fuß gesetzt und sie hat für ihre unfreiwillige Mithilfe sogar eine geringe Belohnung erhalten. Villa Pepper befindet sich inzwischen in einem besseren Zustand und sie könnte auch zum Hof zurückkehren, wenn sie möchte. Das tut sie aber nicht und vielleicht war das keine schlechte Entscheidung von ihrer Seite, es bleiben zu lassen. Womöglich sollten wir sie mal besuchen. Wenn es um Gerüchte vom Hof geht, ist sie keine schlechte Quelle, obwohl sie dort nicht persönlich anwesend ist“, Kryss schmunzelte.

„Was die anderen angeht, also diejenigen, die tatsächlich gegen den Prinzen gearbeitet haben, sie wurden sozusagen entmachtet. Sie haben immer noch ihre Titel behalten und das alles, aber de facto sind sie jetzt ebenso wenig privilegiert wie die Gemeinen. Nun ja, sollten mal Erben die Nachfolge antreten, wird sich dieser Beschluss sicherlich nicht auf sie erstrecken, aber für die Verschwörer ist er sehr wohl gültig. Ich glaube, das hat sie härter getroffen, als es kaum ein anderer Richterspruch hätte tun können. Herzogin von Herz kommt zwar noch recht gut damit zurecht, wie es aussieht, aber Fürst von Südland oder Herzog von Helwick, denen muss es jetzt ziemlich dreckig gehen. Vor allem dem letzteren. Nicht nur, dass er entmachtet wurde, er wird jetzt auch noch von seinen Mitverschwörern schikaniert. Sie nehmen es ihm wohl sehr übel, dass er so von seiner Gier nach einer gewissen Comtessa verblendet wurde, dass er alle Vorsicht vergaß.“

Kryss kicherte und nahm einen weiteren Schluck Tee. Elaine rollte die Augen. Es war nicht ihre Idee gewesen, dass ihre Rolle als Comtessa du Lac zumindest den Gerüchten nach zu einem Flittchen ausgeartet war. Es war notwendig gewesen, um die Verschwörer in Sicherheit zu wiegen, aber gefallen hatte es ihr nie. Kryss redete inzwischen weiter.

„Tja, weiter geht’s. Irony ist inzwischen wieder am Hofe, wie früher. Er schreibt zwar immer noch nichts für die Öffentlichkeit, ich glaube, bis auf Corry kriegt kaum noch jemand etwas von seinen Gedichten oder Liedern mit. Aber er hat dafür andere Betätigungsfelder gefunden.“

Elaine stutze: „Er ist doch nicht etwa ein Politiker geworden, oder?“

Kryss riss die Augen auf und verschluckte sich fast an dem Schluck Tee, den er gerade nehmen wollte. Er sah regelrecht entsetzt aus, förmlich zu Tode erschrocken: „Du meine Güte, nein! Das wäre ein Alptraum! So weit ist es noch nicht gekommen. Er hat aktuell nur eine Beraterfunktion ohne Entscheidungsmacht inne, weiter nichts. Damit ist er immer noch ein Höfling, was zwar fast genauso schlimm wie ein Politiker ist, aber eben nicht ganz. Unser Barde hat nämlich einiges auf dem Kasten und er weiß eine ganze Menge. Politiker, also, wenn er das werden sollte, dann können wir gleich zum Weltuntergang posaunen!“ Kryss schüttelte sich.

Malvina rollte die Augen: „Du solltest unseren Barden doch gut genug kennen – etwas Intrigantes würde er nie im Leben machen, solange er bei klarem Verstand ist.“

Elaine nickte. So wie er sich dagegen gesträubt hatte, einen Beamten oder Anwalt lediglich zu mimen, müsste er wirklich nicht mehr bei klarem Verstand sein, um ein waschechter Politiker zu werden.

Von Karpat ergänzte: „Es sollte dich nicht wundern, dass Irony ein Berater des Prinzen ist, so wie Corry seine Agentin. Leute ihres Kalibers sind wirklich einmalig und der Prinz verdient nun mal das Beste und die Besten. Jedenfalls, Irony ist so gut wie immer in der Nähe seiner Hoheit, während Corry öfters im Auftrag des Prinzen unterwegs ist. Das heißt, sie sehen sich in der Regel nicht so oft, wenn sie zu tun haben, aber sie arbeiten auch öfters zusammen. Und eines könnt Ihr mir glauben, wenn diese zwei auf jemanden angesetzt werden, dann möchte ich nicht in dessen Haut stecken. Vor allem nimmt Corry ihre Aufgaben nicht nur todernst, sie ist auch immer mit vollster Hingabe und Leidenschaft dabei. Und ich habe selten erlebt oder gehört, dass Irony mal ein grober Fehler unterlaufen ist, der sich nicht mehr korrigieren ließ. Nein, diese zwei will ich sicherlich nicht zu Feinden haben, erst recht nicht, wenn der Prinz hinter ihnen steht.“

„Sie sind mir nicht so... extrem vorgekommen, beim letzten Mal“, warf Elaine ein.

Von Karpat sah sie an: „Es mag durchaus sein, dass sie sich wegen vielerlei Gründe haben zügeln müssen, aber jetzt ist das nicht der Fall. Der Prinz hätte sie ebenso gut in den hohen Adelsstand erheben können. Nun ja, fast ebenso gut.“

Elaine zog eine Augenbraue hoch: „Sie sind jetzt sozusagen so mächtig wie Adlige, nur dass sie keinen Titel tragen?“

Von Karpat nickte: „Exakt. Ich will mich nicht beschweren, diese beiden haben sicherlich diese Anerkennung verdient, mit Sicherheit mehr verdient, als so mancher Adlige, der diesen Titel durch Geburt innehat. Aber es scheint dennoch einen Haken bei der Sache zu geben.“

Elaine nickte. Kryss wollte noch etwas anmerken, aber er schüttelte nur den Kopf und sprach weiter: „Na ja, abgesehen davon verbringen Corry und Irony ihre Freizeit jetzt fast ausschließlich miteinander. Man merkt ihnen in der Öffentlichkeit kaum an, dass sie ein Paar sind, aber es gibt ja Leute, die sie gut genug kennen.“

Er warf einen Blick in die Runde und setzte fort: „Abgesehen davon, ist es am Hof und eigentlich in der ganzen Hauptstadt eine Art offenes Geheimnis, dass sie seit damals zusammen sind. Ich schätze nur, dass sie sich bewusst meist so verhalten, als hätte sich nicht viel zwischen ihnen geändert. Und das ist auch gut so, weil allein die Tatsache, dass sie zusammen sind mit eines der Probleme, die wir haben, ist.“

Elaine zog eine Augenbraue hoch „Wieso denn? Sollten wir uns nicht für sie freuen?“

Kryss seufzte: „Ja, sicherlich. Es ist nur so, dass die zwei nicht mehr so wachsam sind wie früher. Das Glück trübt den Blick, fürchte ich.“ Er seufzte wieder.

Elaine schüttelte den Kopf und Malvina sah Kryss interessiert an: „Abgesehen davon, ich glaube, da spricht auch etwas die Eifersucht aus dir, oder Kryss? Gib es zu, du bist schon lange in meine Schwester verliebt.“

Kryss räusperte sich: „Das tut nichts zur Sache, Kleine. Das verstehst du nicht, also rede auch nicht darüber.“

Darum also die verstohlenen Eifersüchteleien zwischen Irony und Kryss, obwohl keiner von beiden damals gestanden hatte, was er für Corry empfand? Irony schien es sogar sich selbst nicht eingestehen zu wollen, aber verraten hatte er sich bereits oft genug, wenn man wusste, was dahinter war und nicht daran glaubte, dass Malvina seine verlorene Liebe sein sollte. Aber Kryss war das Thema offensichtlich unangenehm und Elaine konnte ihn irgendwie versehen.

Sie seufzte: „Können wir das Thema sein lassen und beim Wesentlichen bleiben?“

Kryss nickte: „Meine Rede. Jedenfalls, das Problem, das ich sehe ist, dass Corry und Irony immer mehr vom Hof vereinnahmt werden und dass sich das nicht gerade positiv auf sie auswirkt.“

Von Karpat zog eine Augenbraue hoch, schwieg aber dazu. Elaine zuckte die Achseln: „Aber es scheint ihnen zu gefallen, sonst würden sie es doch nicht mit sich machen lassen, oder? Abgesehen davon, Leo und Boo scheinen darin offensichtlich auch kein Problem zu sehen, so wie es scheint. Sonst wären sie auch hier, stimmt’s?“

Kryss grummelte: „Das alles ist nicht so einfach, Ellie. Leo ist mit Siren zusammen, falls du das nicht vergessen hast und glaub mir, er hat nur noch Augen für sie. Für ihn war es ja die Liebe auf den ersten Blick, wie du dich sicher erinnerst, und sie hat sich wohl bei ihrer Rettung in ihn verliebt und ist seinetwegen hier in der Stadt geblieben, als dieses Gefühl sich vertieft hatte. Sie arbeitet jetzt als fest angestellte Sängerin im Humpty Dumpty und er unterstützt sie so gut er kann. Sie haben etwa zwei Jahre nach deiner Abreise geheiratet und haben jetzt einen siebenjährigen Sohn, Rick.“

Das Humpty Dumpty also. Nicht nur, dass der Eigentümer des Lokals ein guter Freund von Leo war, jetzt arbeitete also auch seine Frau dort. Vermutlich war er kaum noch dort wegzubekommen. Elaine lächelte: „Dann ist doch alles bestens, oder?“

Kryss seufzte: „Ja, so gesehen schon. Nur, jetzt wo er häuslich geworden ist, zieht es ihn dementsprechend weniger auf die Straßen oder so. Und er sieht Corry und Irony nicht mehr so oft, weil er jetzt eine eigene kleine Wohnung mit seiner Familie hat. Es ist so, Leo wäre an sich jemand gewesen, dem solche gefährlichen Veränderungen aufgefallen wären. Er hat irgendwie ein gutes Gespür für Menschen. Leider ist seine Aufmerksamkeit jetzt nicht mehr bei seinen Freunden, und zudem sieht er sie wie gesagt nicht mehr so oft. Er hat irgendwie den Anschluss an sie verloren.“

Elaine seufzte erneut. So etwas kam nun mal vor, wenn Menschen ihren Lebenspartner fanden. „Und was ist mit Boo?“

Von Karpat setzte wieder das von ihm bekannte leicht grausame Schmunzeln auf und Kryss wirkte sehr unzufrieden: „Der Junge ist keine große Hilfe. Erstens, in der Zeit seit deiner Abreise ist er tatsächlich ein wenig älter geworden – jetzt ist er so um die sechzehn. Er ist ein einziges Nervenbündel. Die Hormone, wenn du verstehst was ich meine. Und zweitens, nachdem auch er vom Prinzen damals wegen seiner Mithilfe gegen Cerebro geehrt wurde, hat auch ihn der Hof eingenommen. Es mag ja sein, dass das höfische Leben einem viel Spaß machen kann, wenn man nichts zu befürchten hat, aber auf Boo hatte das sicherlich keine gute Auswirkungen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ihm nicht irgend ein hübsches Gesicht den Kopf verdreht.“

Der Graf grinste wieder nur dazu, ohne ein Wort zu sagen – aber seine Mimik sagte mehr als Tausend Worte.

Elaine seufzte: „Aber wenn er sechzehn ist, wie du sagst, dann ist es doch völlig normal.“

Kryss sah Elaine ernst an: „Wenn du Boo erst einmal wieder getroffen hast, wirst du verstehen, was ich meine. Das ist selbst für einen Jugendlichen mit Hormonüberschuss zu viel.“

Der Graf nickte: „Wo er recht hat, hat er recht. Er ist ganz schön verzogen, wenn man mich fragt. Selbst der Prinz konnte sich seinerzeit nicht so viel herausnehmen, glaube ich. Nur, warum auch immer lässt man es Boo durchgehen, was er auch immer macht. Wenigstens hat er noch nicht völlig den Verstand verloren, aber viel fehlt nicht mehr.“

Elaine sah besorgt zu ihm. Sie hatte schon erlebt, wie unmoralisch der Graf sein konnte. Wenn jemand, der etliche von ihm verführten Frauen einfach so zum Gebrauch weiter reichte, trotzdem etwas missbilligte, dann musste die Lage ernst sein.

Elaine seufzte: „Nachdem was ihr mir so erzählt habt, scheint der Hof wieder einmal unser Problem zu sein, richtig?“

Kryss nickte und der Graf ebenfalls: „Ja. Ich glaube, das Problem ist, dass sie etwas unvorbereitet da hineingezogen wurden. Wenn so jemand wie Corry und Irony überrumpelt werden können, kann man es Boo noch verdenken? So naiv wie der Junge ist...“, der Graf schüttelte den Kopf. „Ich habe das höfische Leben sozusagen schon mit der Muttermilch in mich eingesogen, aber er wurde damit geblendet. Und ich fürchte, ich bin nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung. Dann wiederum, es war sicherlich nicht meine Absicht, was passiert ist. Und ich hatte mich ja auch noch um meine Geschäfte zu kümmern.“

Elaine zog eine Augenbraue hoch: „Geschäfte? Etwa solcher Art wie...“

Der Graf schmunzelte: „Ist das etwa Eifersucht, meine Liebe?“

Elaine verzog den Mund: „Nein, herrje!“

Der Graf grinste: „Schon in Ordnung. Nein, ich betätige mich jetzt auf einem anderen Feld, keine Sorge.“

Sie sah ihn fragend an und er schmunzelte: „Nun ja, ich habe wieder Verwendung für mein ehemals erworbenes strategisches Wissen gefunden. Wir haben zwar keinen Krieg und es ist auch keiner in Sicht, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht. Abgesehen davon, ich denke, wenn der Prinz die Notwendigkeit dafür sieht, dann wird er schon seine Gründe dazu haben.“

Elaine seufzte. Männer und Krieg, das war ja klar.

Malvina fuhr sich durchs Haar: „So in etwa sieht die momentane Lage aus. Meine Schwester und Irony genießen ihre Liebesbeziehung und die Privilegien als Vertraute des Prinzen, Leo ist sesshaft geworden und Boo lebt gedankenlos in den Tag hinein. Schon seltsam, das. Sie haben dir geholfen, mich aufzuwecken, aber jetzt sind sie selbst wie verhext.“

Kryss warf dem Mädchen einen Blick zu: „Oder es sind einfach Charaktereigenschaften ans Tageslicht gekommen, die sie früher besser unter Kontrolle hatten. Was auch immer, der Hof ist in meinen Augen die Ursache. Ich bezweifle, dass es irgend jemanden gibt, der in diesem Dunstkreis nicht früher oder später korrumpiert wird. Nichts für ungut“, er sah zum Grafen.

Dieser schmunzelte: „Schon in Ordnung. Ich bin kein Heiliger, das ist mir durchaus bewusst. Und wenn ich ehrlich sein soll, ich will auch keiner sein.“

Kryss verzog den Mund: „Das ist vielleicht genau das Problem. Aber egal. Wir sollten uns jetzt mal überlegen, was wir vorhaben.“

Elaine nickte und trank wieder ihren Tee. Er war immer noch warm, fast zu warm, um zu trinken, aber eben nur fast. Eigentlich war er genau richtig temperiert. Ihr fiel auf, dass es ziemlich warm im Raum war, aber es war nicht die Art Wärme, wie man sie vom Sommer kannte. Und es war dunkel draußen, im Sommer zu dunkel für die Uhrzeit, wie sie auf der Standuhr abzulesen war. Sie warf einen Blick durch das Fenster, das nicht ganz von den schweren Vorhängen verschlossen war und sah überrascht auf den verschneiten Garten.

Malvina folgte ihrem Blick und lächelte: „Ja, wir haben Winter. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Jahreswechsel und dem großen Maskenball. Wenn es sich hinziehen sollte oder du dann noch etwas bleiben willst, dann wirst du ein erstaunliches Schauspiel miterleben.“

Trotzdem war da keine Begeisterung aus der Stimme des Mädchens herauszuhören, ganz im Gegenteil. Sie war an so einem Ball entführt worden, man hatte ihr eine üble Gehirnwäsche verpasst und sie auf ihre eigene Familie gehetzt. So etwas konnte man nicht einfach so vergessen.

Elaine wunderte es nicht mehr, dass sie in der falschen Jahreszeit gelandet war, schließlich war das nichts im Vergleich zu über zehn Jahren, die in einer Stunde verflogen waren. Sie sah noch mal zum Fenster. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht beim Anblick von Eisblumen auf dem Glas und als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass sie meist weibliche Formen hatten. Sie zog verwundert beide Augenbrauen hoch.

Der Graf folgte ihrem Blick und grinste: „Es ist mein Haus, so etwas sollte Euch nicht wundern.“

Sie schloss für einen Augenblick die Augen. Natürlich, wie konnte sie das vergessen. Der Graf und seine zahlreichen Affären. Es würde sie nicht wundern, sollte er sich in diesen zehn Jahren bestens amüsiert haben, obwohl oder gerade weil er sie vermisst hatte. Dann wiederum, Eifersucht war hier wirklich unangebracht und Elane war froh, dass sie nichts dergleichen spürte. Sie war lediglich etwas enttäuscht drüber, dass er seinen Lebenswandel wohl kaum geändert hatte.

Kryss grübelte vor sich hin und auch Malvina wirkte nachdenklich. Elaine sah zu ihnen und stellte einfach eine Idee in den Raum, die ihr spontan in den Sinn kam: „Ich bin eine Träumerin. Ich habe es letztens geschafft, allein durch Wünschen alles in Ordnung zu bringen. Würde es nicht reichen, wenn ich mir einfach wünsche, dass die vier wieder die alten werden und in Zukunft auch so bleiben?“

Kryss sah zu ihr und wirkte nicht allzu begeistert von diesem Vorschlag. „An sich keine schlechte Idee, ich sehe allerdings zwei Probleme dabei. Erstens, ich bin mir nicht sicher, ob das klappt. Die Situation heute ist doch etwas anders als damals. Der Stressfaktor fehlt zum Beispiel völlig. Und es ist eine Sache, jemanden körperlich zu verändern oder zu heilen, und eine andere, wenn es sich um das Wesen der Person geht. Abgesehen davon wissen wir immer noch nicht, was genau los ist.“

„Und zweitens, Wünsche können auch nach hinten losgehen. Es hat zwar bisher geklappt, aber nur weil du im Großen und Ganzen einen gewaltsamen Eingriff verhindert oder rückgängig gemacht hast. Jetzt aber würdest du einen gewaltsamen Eingriff vornehmen, denn was den vier auch immer zugestoßen ist, es ist sozusagen mehr oder weniger auf natürlichem Weg passiert, sie haben sich zumindest nicht dagegen gewehrt, scheint es. Und abgesehen davon, wenn es tatsächlich klappt und sie für immer so bleiben, wie du sie in Erinnerung hast – vielleicht wird es ihnen mehr schaden, als nutzen. Manchmal muss man sich an die Gegebenheiten anpassen.“

Elaine nickte: „Das ist mir klar. Und warum bin ich dann hier? Wenn es ein mehr oder weniger natürlicher Vorgang der Anpassung ist?“

Kryss atmete tief durch: „Weil da noch etwas anderes dahinter steckt. Wenn du die vier jetzt manipulierst, dann wäre das nur die Behandlung von Symptomen, aber die Krankheit bleibt immer noch bestehen.“

Elaine erinnerte sich daran, dass Corry schon einmal die Stadt als krank bezeichnet hatte. Damals spielte sie vermutlich auf die Verschwörung an, aber anscheinend gab es da noch mehr Probleme. Sie schloss kurz die Augen und lehnte sich zurück. Es würde wohl etwas länger dauern. Hoffentlich würde das mit der Zeit ihrer Rückkehr klappen.

„Andere Vorschläge?“, hörte sie Kryss wenig später sagen und öffnete die Augen wieder.

Malvina sah zu ihm: „Vielleicht sollten wir aber tatsächlich damit anfangen, die Symptome zu behandeln. Es mag sein, dass wir vier schon einiges ausrichten könnten bei diesem Problem, aber ich denke nicht, dass die Hilfe meiner Familie schaden könnte. Zudem bin ich in erster Linie ihretwegen hier. Die Hauptstadt ist mir ziemlich egal“, sie zuckte die Schultern.

Kryss sah das Mädchen leicht missmutig an: „Vielleicht wirst du mich verstehen, wenn du etwas älter bist, aber du hast nicht ganz unrecht. Wir sollten bei ihnen anfangen. Allerdings wird es wohl mehr brauchen, als sich nur zu wünschen, dass sie wieder wie früher sind. Wir müssten Kontakt aufnehmen, damit Elaine wirklich Bescheid weiß.“

Elaine sah ihn fragend an: „Weiß ich denn nicht schon das Wichtigste?“

Kryss lächelte: „Das schon, aber ich denke, es wäre sicherer, wenn du dir ein eigenes Bild von der Situation machen kannst. Damit du die Unterschiede zwischen dem Jetzt und dem Früher genauer eingrenzen kannst. Und vielleicht haben wir so viel Glück und allein die Konfrontation mit dir wird sie wachrütteln. Wenn du plötzlich wieder vor mir stündest, würde ich mir schon denken, dass etwas gewaltig nicht stimmt.“

Da war etwas dran. Man hatte ihr immer wieder gesagt, dass Ausländer nicht einfach so auftauchten, sondern dass da immer ein wichtiger Grund dahinter steckte, und wenn es nur war, dass sie Glück bringen sollten wie Boo. Elaine lächelte und widersprach trotzdem: „Und es könnte nicht einfach nur ein Freundschaftsbesuch sein?“

Er grinste: „Du weißt es doch schon, zu einer anderen Zeit war es üblich, heute verschlägt es die Träumer nur unter außergewöhnlichen Umständen hierher, leider.“

Sie nickte. Dieser Zweifel konnte also ausgeräumt werden. „Und mit wem sollen wir anfangen, mit Boo?“

Kryss schüttelte den Kopf: „Nein, ich denke, wir sollten als erstes Leo einen Besuch abstatten. Er hat am wenigsten mit dem Hof zu tun, darum wird es wohl auch am leichtesten sein, ihn aufzuwecken. Die Frage ist nur, ist Leo der Familienvater ebenso bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen, wie Leo der Junggeselle?“

Malvina kicherte: „Ach, ich denke, wenn wir ihn an die bevorstehende Midlifecrisis erinnern, wird er schon in die Gänge kommen.“

Der Graf zog eine Augenbraue hoch: „Glaubt Ihr, ja? Leo ist doch noch lange nicht so alt.“

Malvina rollte die Augen: „War nur ein Vorschlag. Vielleicht wird er sich ja auch denken, bei seiner Ehre als Mann sollte er uns helfen,“ sie zwinkerte Elaine zu.

„Oder vielleicht reicht es, ihn um Hilfe zu bitten?“, sagte Elaine einfach.

Alle lächelten. Kryss nickte: „Vielleicht reicht das, wenn du ihn um Hilfe bittest. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich dann dazu bereit erklärt.“

Elaine sah ihn fragend an und er lächelte: „Ich meine doch nur, dass du vermutlich eine große Rolle dabei gespielt hast, dass seine große Liebe jetzt seine Frau ist, sozusagen.“

Der Graf schmunzelte: „Manche Männer würden aber behaupten, dass er Elaine dafür auch verfluchen könnte. Die Ehe ist für viele ein Schreckgespenst.“

Elaine zog eine Augenbraue hoch: „Graf, Ihr solltet nicht von Euch auf andere schließen.“

Er grinste: „Touchée. Ihr habt recht, ich habe diesen jungen Mann als bodenständig kennen gelernt. Er ist sicherlich ein besserer Ehemann als ich jemals sein könnte und vermutlich kann er sich nichts schöneres vorstellen, als die Ehe, wenn es um Liebesdinge geht. Jedem das Seine, nicht wahr?“

Elaine schmunzelte: „Sozusagen. Also werden wir jetzt Leo einen Besuch abstatten?“

Kryss nickte, Malvina ebenfalls. „Sieht ganz so aus. Na schön. Wollen wir hoffen, dass es klappt.“

Alle erhoben sich, der Butler betrat wieder den Raum, diesmal um das Geschirr abzuholen. Von Karpat ging voran in Richtung Ausgang. Die Gänge waren erstaunlich hell erleuchtet, obwohl Elaine nur hier und da einige Kerzen sah. Aber das kannte sie bereits von ihrem letzten Besuch beim Grafen, der nach ihrem Gefühl erst einen Tag und für die anderen drei mehr als ein Jahrzehnt zurück lag. Jetzt bemerkte sie, dass der Graf anscheinend mindestens ein Mal das Haus hatte größtenteils umdekorieren lassen. Aber das war wohl kaum ungewöhnlich. Wenn man erst einmal genug Geld hatte, dann fand man schon irgend einen Weg, es auszugeben.

Am Ausgang warteten wieder zwei Diener auf sie. Einer von ihnen reichte Kryss etwas, das entfernt nach einem zerlumpten Wintermantel aussah, dann half er Malvina in ihren Pelzmantel. Elaine war ein wenig überrascht über dessen kostspieliges Aussehen, aber dann erinnerte sie sich daran, dass ihre Freunde jetzt wohl kaum Geldsorgen haben würden. Nicht, wenn Corry und Irony für den Prinzen persönlich arbeiteten. Sie musste zugeben, das Mädchen sah darin richtig niedlich aus, vor allem als dann auch die Pelzmütze und der passende Muff hinzukamen. Nicht im Geringsten wunderte es sie dagegen, dass auch diese Kleidungsstücke in einem schönen Blau gehalten waren. Wenn es Menschen mit blauem Haar gab, warum nicht auch Tiere mit eben solchem Pelz?

Der Graf ließ auch für Elaine die passende Winterkleidung bringen. Auf ihren fragenden Blick hin lächelte er: „Als es fest stand, dass Ihr hier wieder gebraucht werdet, dachte ich, ich sorge schon mal vor. Es ist ja nicht so, dass diese Ausgaben mich in existentielle Nöte stürzen.“

Also hatten sich Kryss und Malvina schon vorher an den Grafen gewandt. Das erklärte einiges. Und wenn sich ohnehin alles um den Hof drehte, dann war dieser Gedanke auch einleuchtend. Elaine lächelte und schlüpfte in ihren Wintermantel, ebenfalls aus Pelz, der aber weiß war.

Der Graf selbst sah nicht so aus, als ob er mitkommen wollte. Auf Elaines fragenden Blick hin erklärte er: „Ich denke nicht, dass meine Anwesenheit dringend benötigt wird. Ihr drei könnt es sicherlich selbst regeln, abgesehen davon, so gut kenne ich Leo nun auch wieder nicht. Ich werde einfach auf eure Rückkehr warten und mich solange um meine eigenen Pflichten kümmern.“

Kryss und Malvina nickten, Elaine zuckte die Schultern: „Wie Ihr meint.“

Er schmunzelte: „Schön, dass wir uns da einer Meinung sind. Meine Kutsche steht Euch selbstverständlich zur Verfügung.“

Es folgte wieder ein Nicken von den anderen zwei. Elaine lächelte: „Man kann Euch zumindest nicht des Geizes anklagen.“

Von Karpat zwinkerte ihr schmunzelnd zu: „Irgendeine gute Charaktereigenschaft muss selbst ich haben. Viel Erfolg!“

Damit verließen die drei seinen Wohnsitz und gingen zur bereits auf sie wartenden Kutsche. Wieder hatte Elaine das Gefühl, sie würde in diese eisige Kälte eintauchen, aber es dauerte nur einen Moment lang. Es war nur die kalte, klare Winterluft, bei der sich der geringste Atemhauch als kleine Wolke zeigte und die Sterne besonders hell leuchteten, so schien es, allem Licht der Laternen zum Trotz. Der Weg war tadellos geräumt und gestreut, aber auf den Blumenbeeten und dem Rasen lag über ein Meter Schnee. Elaine staunte ein wenig, sie hatte selten in ihrem Leben so viel Schnee auf einmal gesehen. Durch das weiße Glitzern schien die inzwischen angebrochene Nacht gar nicht so dunkel, wie sie eigentlich war. Sie hörten den Frost unter ihren Füßen knirschen. Elaine rieb die Hände in ihrem Muff aneinander, auch wenn ihre Finger nicht froren. Es war fast wie ein Reflex.

Kryss öffnete den beiden Damen die Tür und half erst Malvina, danach Elaine beim Einsteigen, dann folgte auch er. Er nannte dem dick eingemummten Kutscher eine Adresse, dieser nickte nur und die Kutsche setzte sich in Bewegung.

Elaine sah zu Malvina und sah, dass die Wangen des Mädchens richtig rot geworden waren, vermutlich sah sie selbst nicht anders aus. Dann wanderte ihr Blick zu Kryss: „Ist dir denn nicht kalt mit dieser... Kleidung?“

Er schmunzelte: „Ich weiß, dass das sehr spärlich aussieht, aber glaub mir, Ellie, ich friere so gut wie nie darin. Es ist meistens genau die richtige Temperatur. Aber danke der Nachfrage.“

Elaine nickte: „Wo genau fahren wir eigentlich hin?“

Kryss antwortete ihr sogleich: „Leo hat sich im Blauen Viertel niedergelassen, nahe des „Humpty Dumpty“ und auch nicht allzu weit von der anderen Wohnung entfernt. Sein Zimmer dort hat er ja immer noch, falls was wäre. Ellies Zimmer müsste auch noch frei sein, stimmt’s, Kleine?“ Kryss sah zu Malvina.

Das Mädchen nickte: „Ja, natürlich. Es ist ja auch ein Gästezimmer, irgendwie. Nur, falls der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass du nicht beim Grafen bleiben möchtest“, sie zwinkerte Elaine zu.

Jetzt waren Elaines Wangen nicht mehr so sehr vom Frost errötet: „Ähm... danke für das Angebot... aber ich denke, der Graf wird mich einladen wollen und es wäre unhöflich, abzulehnen, nach all dem was passiert ist.“

Malvina und Kryss tauschten schmunzelnd vielsagende Blicke aus und Elaine konnte förmlich ihre Gedanken hören: „Nette Ausrede, Mädchen. Wir wissen doch alle, dass es da noch einen anderen Grund gibt. Aber wir werden das selbstverständlich nicht ansprechen.“ Zumindest sagten das ihre Gesichter.

Elaine sah aus dem Fenster. Sie hatten das Smaragdviertel wieder verlassen. „Und Corry, Irony und Boo leben immer noch in dieser einen Wohnung?“

Kryss nickte: „Ja, das tun sie in der Tat. Zumindest halten sie sich diese Wohnung noch. Es kommt allerdings oft genug vor, dass sie so viel zu tun haben oder anderweitig eingenommen sind, dass sie statt dessen in einem der Hotels übernachten oder auch im Palast des Prinzen. Und Boo treibt sich inzwischen überall im Smaragdviertel herum, er wird vermutlich nur noch selten zu Hause auftauchen. Vermutlich ist es unserem Traumpaar auch nur recht.“

„Aber die Wohnung ist sozusagen immer noch ihr Hauptquartier. Ich schätze, daran hängen einfach zu viele Erinnerungen, um den Platz einfach zu verlassen. Abgesehen davon, vielleicht ist es auch nicht unvernünftig. An sich ist es keine schlechte Sache, dass der Prinz sie unterstützt und das alles, und vermutlich wäre es auch nicht schlecht, wenn das auch weiterhin so bleibt. Aber sollte sich diesbezüglich wieder etwas ändern, warum auch immer, dann wäre es sicherlich nicht schlecht, wenn sie sich eine Rückzugsmöglichkeit offen halten. Und wer weiß, vielleicht werden sie sich demnächst tatsächlich wieder vom Hof zurückziehen. Zumindest ich bin der Meinung, dass es für sie besser wäre.“

Elaine hatte dem nichts weiter hinzuzufügen, Malvina anscheinend ebenso wenig. Die junge Frau nickte und sah wieder hinaus. Außerhalb des Smaragdviertels waren alle Straßenlaternen elektrisch und es kam langsam auch der gewohnte Automobilverkehr auf. Die Kutsche musste ziemlich deplatziert wirken auf diesen geteerten Straßen, vermutlich hielt sie auch gewaltig den restlichen Verkehr auf – aber es waren mehr als ein Adelswappen deutlich auf ihr angebracht und sie hörten keine einzige Hupe. Elaine stellte sich vor, was los wäre, wenn so eine Situation auf den Straßen ihrer Stadt eingetreten wäre und war froh, dass dem nicht so war. Vermutlich würden sie nichts anderes außer Hupen hören.

Die Blockhäuser bestimmten wieder das Straßenbild und jetzt sah man nicht mehr viel vom Winterzauber. Die Jahreszeit konnte man fast nur noch an der Kleidung der Passanten ablesen. Es war zwar eine festgetrampelte Schneeschicht auf dem Bürgersteig, aber sie war dunkel und der dreckige Schnee, der sich an den Rändern der Fahrbahn gesammelt hatte, sah ebenfalls nicht besonders einladend aus. Solche Bilder kannte Elaine schon zur Genüge. So kannte man den Winter in einer Stadt, ein einziges dunkles, kaltes, deprimierendes Ärgernis. Genau so sahen auch die Passanten aus. Ihre Gesichter waren trist, sie waren meist so stark eingepackt, dass man außer ihren Augen und Nasen kaum etwas sah, manchmal sogar nur die Augen.

Kryss und Malvina dagegen schienen davon nicht besonders beeindruckt zu sein. „Sieht nach Winterdepressionen aus“, murmelte Elaine für sich und war etwas überrascht, als Kryss ihr antwortete: „Ganz recht. Die meisten hier verhalten sich nicht anders als die Menschen deiner Welt. Die Selbstmordrate um den Jahreswechsel herum ist verdammt hoch. Aber das hast du ja schon bemerkt.“

Elaine nickte: „Ich frage mich nur, warum es euch beiden nicht so geht. Oder ist es nur, weil es etwas zu tun gibt?“

Malvina schmunzelte, Kryss ebenfalls: „Nein, es ist etwas anders. Wir sind anders, wie du ja schon weißt. Und – nun ja, es hat keinen Sinn, der Jahreszeit für etwas die Schuld zu geben, meinst du nicht auch? Ich für meinen Teil mag es sogar, wenn es dunkel ist, warum lebe ich sonst in den Katakomben? Für die Kleine hier kann ich natürlich nicht sprechen.“

Malvina lächelte und sah für einen Augenblick richtig sorglos und verträumt aus: „Ich liebe den Winter einfach. Sicherlich, es ist kalt, aber es ist auch sehr schön. Die klare Luft, der Schnee selbst und die Spiele, Schlitten fahren, Abende am Kamin und das alles.“

Elaine nickte. Vermutlich war es auf dem Land einfacher, den Winter mit mehr Freude zu sehen, oder zumindest dessen Schönheit.

Sie hatten das Blaue Viertel erreicht, wie man gerade noch an den Häusern erkennen konnte. Elaine erschauerte. Vermutlich konnte man so einen Ort wirklich nur dann lieben, wenn es die Heimat war und man Freunde dort hatte. Sie wäre bei der ersten besten Gelegenheit fortgezogen, wenn dem anders wäre – und sie die Erlaubnis bekommen würde, ermahnte sie sich. Die meisten Leute schienen hier regelrecht gefangen zu sein. Siren musste sich wohl glücklich schätzen, einen der wenigen Berufe zu haben, der einem das Herumziehen durch das Land leichter ermöglichte, dachte sich Elaine. Oder war dem nicht so und sie hatte immer erst viel Papierkram zu erledigen, bevor sie auf Tournee gehen konnte? Dann würde es wohl keinen wundern, warum sie bei Leo in der Hauptstadt blieb. Kneipen und Lokale gab es da sicherlich mehr als genug.

Aber vielleicht war Siren auch gar nicht der Typ für viele Reisen? Elaine stellte fest, dass sie Leos Frau eigentlich gar nicht kannte, obwohl sie sich mal in deren Verstand eingeklinkt hatte, um ihren Geist vor Cerebros mentaler Vergewaltigung zu heilen. Sie wusste lediglich, dass Siren ihre Lieder und die Musik dazu selbst schrieb, dass sie sich in Leo verliebt hatte und dass die beiden jetzt ein Ehepaar mit Kind waren. Was sie wohl dazu sagen würde, dass Leo jetzt vielleicht wieder auf Achse musste? Dann wiederum, es ging um seine besten Freunde, die für ihn mit Sicherheit auch einiges riskieren würden.

„Wir sind gleich da, Ellie“, unterbrach Kryss ihre Gedanken.

„Wie ist sie so?“

Kryss sah sie fragend an: „Wer?“ Er schien entgegen einer ihrer früheren Annahmen doch keine Gedanken lesen zu können.

Elaine lächelte: „Ich meine Siren.“

Kryss überlegte kurz: „Sie ist nett. Nicht mein Typ, aber sie ist nett. Hat eine schöne Stimme. Und so weit mir bekannt ist, hat sich Leo bisher auch nicht beschwert, also muss es mit den beiden nicht schlecht laufen.“

Elaine nickte: „Das ist schon mal was, aber das meine ich nicht. Was für eine Art Mensch ist sie?“

„Ach das. Ich schätze, da solltest du am besten Leo fragen, er kennt sie sicherlich besser als ich. Was ich dir sagen kann, sie ist ziemlich selbstbewusst, aber dennoch kein Drachen, wenn du verstehst was ich meine. Vielleicht hat die moderne Erziehung ja doch ihre Vorteile.“

Elaine zog eine Augenbraue hoch: „Wie meinst du das?“

Kryss grinste: „Ich rede von der ehemaligen und teilweise immer noch aktuellen Unterdrückung der Frau. Ich meine, wen wundert es, dass ein Mensch, der nur im Privaten etwas zu sagen hat, dann dort diese Macht auch bis ins Extreme entwickeln will? Wenn eine Frau sagen wir mal im Beruf etwas zu sagen hat oder angesehen ist oder wie auch immer, dann kann sie zu Hause sicherlich – sagen wir mal humaner sein.“ Er zwinkerte ihr zu.

Elaine schüttelte den Kopf: „Eine seltsame Philosophie, aber sie hat was, zugegeben.“

Malvina kicherte: „Aber eigentlich können wir es den Männern doch nie recht machen, wenn wir auch an uns selbst denken wollen, stimmt’s, Kryss?“

Er sah sie fragend an: „Ich bin eigentlich ein überzeugter Junggeselle, kleine Miss. Mich brauchst du da nicht zu fragen.“

Malvina schmunzelte wieder: „Ach? Und warum bist du so ein überzeugter Junggeselle? Abgesehen davon, dass die Frau, in die du verliebt bist, einen anderen liebt.“

Er verzog den Mund: „Habe ich dir nicht schon oft genug gesagt, dass du das Thema lassen sollst? Meine Aufgabe hat wohl keinen Platz für eine Frau an meiner Seite. Oder würdest du gerne in den Katakomben hausen?“

Malvina rollte die Augen: „Das sicherlich nicht. Aber wer weiß, vielleicht gibt es da draußen jemanden, der deine Interessen teilt?“

Kryss grinste: „Willst du mich unbedingt unter die Haube bringen, Kleine? Warum um alles in der Welt?“

Aber da hielt die Kutsche schon, der Kutscher öffnete die Tür und Malvina hüpfte als erste hinaus, nicht ohne Kryss noch kurz die Zungenspitze auszustrecken. Er schüttelte nur den Kopf über diese kindische Antwort und ließ Elaine noch den Vortritt. Der Kutscher war sehr hilfsbereit und Elaine war froh darüber. Dieser Pelzmantel war zwar warm, aber doch recht hinderlich. Sie wusste schon, warum sie sich nie selbst so etwas kaufen würde. Abgesehen davon, Pelzmäntel kamen ihr altmodisch vor und sie hielt auch nichts davon, dass man Tiere deswegen töten musste. Die Notwendigkeit bestand heutzutage nun wirklich nicht mehr. Aber es wäre unhöflich gewesen, Alexey – dem Grafen – das unter die Nase zu halten und damit seine Hilfe abzulehnen.

Kryss fragte den Kutscher noch, ob dieser denn nicht wenigstens hinein kommen würde, aber der Mann lehnte ab. Auf seinem Kutschbock war es ihm warm genug. Also gingen sie zu dritt hinein in den Block, vor dem sie gehalten hatten. Malvina rannte als erste die Treppen hoch, danach ließ Kryss Elaine wieder den Vortritt und bildete somit den Schluss. Das Mädchen war etwa eine halbe Etage vor ihnen im dritten Stockwerk und stand vor der Tür. Sie beschloss wohl, doch noch auf die anderen beiden zu warten. Kryss schüttelte den Kopf und klingelte.

Guten Rutsch, Elaine!

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