Читать книгу Guten Rutsch, Elaine! - Inga Kozuruba - Страница 4
Der Besuch bei Leo
ОглавлениеAuch diesmal erwartete sie eine etwas ungewöhnliche Klingel. Sie klang sehr melodisch, was Elaine nicht wunderte. Schließlich lebte eine Musikerin in dieser Wohnung. Dann ging die Tür auf und sie sahen Leo, der ebenfalls kaum gealtert zu sein schien. Er hatte nur leicht an Umfang gewonnen, aber bei seiner Statur war das nicht allzu auffällig. Elaine wünschte sich, sie hätte einen Fotoapparat mitgenommen, um Leos einmaligen Gesichtsausdruck festzuhalten.
„Ellie!“, rief er nur sehr überrascht und offensichtlich auch sehr erfreut aus und dann umarmte er sie fest.
Jetzt bekam sie einen schwachen Eindruck davon, wie es wohl für Corry gewesen sein musste, als der Gendarm, von dem Leo besessen war, sie in den Schwitzkasten genommen hatte. Er hatte wohl nichts an Kraft eingebüßt in den zehn Jahren, das stand fest.
„Meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dich je wieder zu sehen! Was machst du hier? Das ist mal eine Überraschung! Aber kommt doch rein!“ Er schien jetzt auch bemerkt zu haben, dass Elaine nicht alleine war, stellte sie wieder auf ihre Füße und gab den Weg frei. „Ihr wisst noch, wo’s zur Küche geht, nehme ich an?“
Kryss nickte, Malvina lächelte und sie traten ein, dann zog Leo Elaine ebenfalls hinein und schloss die Tür. „Siren, Schatz, wir haben Besuch. Rate mal, wer da ist!“
Siren kam gerade aus einem der Zimmer und lächelte: „Das hat vermutlich der ganze Block gehört, bei deinem Gebrüll. Und das ist in der Tat eine Überraschung!“, sie strahlte Elaine an. Was war nur das Jugendgeheimnis dieser Welt? Auch Siren schien nicht älter geworden zu sein. Vielleicht war es nur das Familienglück?
Auf einmal seufzte Siren: „Ich fürchte nur, Rick wird jetzt nicht mehr schlafen gehen wollen, solange wir wach sind.“
Und tatsächlich, aus dem Zimmer, aus dem seine Mutter gerade zu ihnen kam, folgte ihr ein rotblonder Junge im Pyjama, der für seine sieben Jahre ganz schön groß war. Elaine schmunzelte leicht bei dem Gedanken, dass Rick da wohl ganz nach seinem Vater geraten war. Sie sah fragend zu Siren: „Nur, weil Besuch da ist?“
Siren lächelte: „Nein, weil du da bist. Ich glaube, Leo hat ihm die Geschichte von eurem Abenteuer mindestens einige tausend Mal erzählt.“
Rick sah Elaine ehrfürchtig mit leicht geöffnetem Mund an: „Du bist eine echte Träumerin? Wow!“
Elaine errötete leicht und lächelte verlegen: „Also, für mich seid ihr dafür alle etwas besonderes.“
Diese Antwort schien den Jungen in seiner Überzeugung bestätigt zu haben, dass Elaine tatsächlich die Heldin aus den Geschichten seines Vaters war und die Faszination blieb auf seinem Gesicht: „Mama, darf ich noch auf bleiben?“
Siren lächelte: „Kinder. Na schön, wenn dein Vater nichts dagegen hat?“
Leo sah zu den beiden, dann zu Kryss und Malvina. Kryss warf ihm einen ernsten Blick zu: „Ich fürchte, dass es hier um etwas mehr als einen Freundschaftsbesuch geht, auch wenn ich euch ungern die Laune verderbe.“
Das Gesicht des Jungen erstrahlte in Erwartung: „Wow, geht ihr wieder auf ein Abenteuer? Darf ich auch mit?“
Leos Gesicht wurde tatsächlich leicht getrübt: „Das mit dem Abenteuer kann durchaus sein, kleiner Mann. Aber ich denke, das ist wohl nichts für dich. Es hat doch etwas mit dem Hof zu tun, oder irre ich mich?“
Malvina und Kryss nickten und Siren seufzte.
Rick zog seine Nase hoch und verzog den Mund: „Na, wenn das so ist, dann will ich nicht dabei sein.“ Er stapfte enttäuscht in sein Zimmer, Siren warf Leo noch einen vielsagenden Blick zu und folgte ihm.
Elaine sah zu ihrem Freund: „Ist er sauer?“
Leo schüttelte den Kopf: „Zum Glück nicht. Ich kann wohl froh sein, dass er noch nicht in die rebellische Phase eingetreten ist und auf mein Urteil bezüglich des Hofs vertraut.“ Dann lächelte er leicht: „Er hält alle Adligen bis auf den Prinzen und den Grafen für Warmduscher.“ Elaine kicherte.
Sie gingen in die Küche und Leo setzte Tee auf. Als der Wasserkessel zu pfeifen anfing und Leo den Tee ausschenkte, kam Siren wieder zu ihnen: „Rick ist eingeschlafen. Ich glaube, ich habe mit ihm aushandeln können, dass er dir die Arbeit überlässt und sich mit einer genauen Nacherzählung zufrieden gibt. Und dann würde er Ellie noch etwas näher kennen lernen wollen, scheint mir. Du bist nun mal seine Heldin.“
Elaine rollte die Augen: „Ich bin keine Heldin. Wenn es sich einrichten lässt, bleibe ich sicherlich noch etwas. Aber vielleicht sollten wir erst zu unserem Problem kommen, wie ich gehört habe, geht es um Corry und Irony.“
Am meisten überraschte Elaine, dass ausgerechnet Siren als erste auf diesen Satz reagierte. Sie seufzte und sah zu Leo: „Du hattest also Recht, was diesen verrückten Plan deiner Freunde anging?“
Elaine sah sie erstaunt an. Leos Gesicht verfinsterte sich: „Würdest du uns bitte verlassen, Liebling?“
Elaine sah ihn überrascht an, Sirens Gesichtsausdruck war eher fragend und Leo seufzte: „Allein die Tatsache, dass du überhaupt davon weißt, macht mir bereits die größten Sorgen. Es ist ein sehr gefährliches Spiel, auf das die beiden sich eingelassen haben, und ich will nicht, dass du und Rick da mit reingezogen werdet. Allein der Gedanke, euch könnte etwas passieren, macht mich wahnsinnig.“ Leo sprach leise, aber gerade das betonte die Wichtigkeit seiner Worte.
Siren nickte, gab ihrem Ehemann einen Kuss auf die Wange und schloss hinter sich die Tür, als sie die Küche verließ.
Leo sah bedrückt aus. Er schüttelte den Kopf: „Ich wusste doch, dass es kein Spaziergang werden würde, um es mal mit Boos Worten auszudrücken. Sie sind vielleicht die fähigsten Leute des Landes, aber hier sind Kräfte am Werk, die uns alle zerquetschen könnten, glaube ich.“
Kryss räusperte sich: „Könntest du am Anfang beginnen, mein Freund?“
Leo sah zu ihm und nickte: „Natürlich. Das wichtigste ist,“ er sah sich paranoid um und zog die Vorhänge zu, „dass das unbedingt unter uns bleiben muss.“ Er sah zu Kryss: „Und es wäre schön, wenn du vielleicht auch rausgehen könntest.“
Kryss zog eine Augenbraue hoch: „Nimmst du mir etwa immer noch übel, dass ich mit den Kostümen unrecht hatte und sie euch beinahe völlig übernommen haben?“
Leo schüttelte den Kopf: „Nein, das nicht. Aber glaub mir, es gibt einen guten Grund, warum du nichts davon wissen solltest. Du weißt jetzt eigentlich schon zu viel, nicht auszudenken, was passieren könnte.“
Kryss verzog den Mund: „Nun, ich hoffe doch, dass das ein wichtiger Grund ist. Ich warte dann vor der Tür.“ Er stand auf, nahm seinen Tee, und verließ ebenfalls den Raum. Sie hörten gedämpft, wie er auf dem Gang ein Gespräch mit Siren begann.
Leo nickte: „So, ich glaube, jetzt können wir reden“, dann blieb sein skeptischer Blick auf Malvina hängen: „Die Frage ist nur, was ist mit dir?“
Das Mädchen seufzte: „Ist schon gut, ich werde auch gehen.“ Auch sie verließ mit ihrem Tee die Küche.
Elaine sah verwundert zu Leo: „Wozu diese Geheimniskrämerei? Ich meine, dass du Malvina nicht vertraust, nachdem was passiert war – aber gerade Kryss? Abgesehen davon, ohne die beiden wäre ich doch gar nicht hier.“
Leo wirkte nicht sehr glücklich: „Glaub mir, es gibt für alles gute Gründe. Die beiden haben dir sicherlich schon erzählt, dass Corry und Irony jetzt für den Prinzen arbeiten, nicht wahr?“ Elaine nickte.
„Und ihr seid der Meinung, der Hof hat den beiden so was wie eine Gehirnwäsche verpasst, richtig?“, fügte er hinzu.
Elaine nickte wieder, diesmal mit einem etwas irritierten Gesichtsausdruck: „Das verstehe ich nicht – Kryss und Malvina gingen davon aus, dass du keine Ahnung davon hast, was mit den beiden passiert.“
Leo schüttelte seine Mähne: „Und ob ich das weiß, aber es ist gut, dass sie das nicht wussten. Und ich möchte, dass das auch weiterhin so bleibt.“
Elaine runzelte die Stirn: „Aber warum? Was ist so wichtig?“
Leo schloss für einen Augenblick die Augen. „Du erinnerst dich sicherlich daran, dass Corry mal erwähnt hat, dass diese Stadt krank ist? Dass es früher anders war? Ich weiß, wovon sie spricht. Ich habe es auch miterlebt. Es war eine langsame Entwicklung, aber diejenigen, die diese Stadt kennen, die wussten was geschah. Sie wussten nur nicht, wie sie das verhindern können – oder sie scherten sich nicht darum. Was auf alle Fälle keiner so recht zu wissen scheint, warum das passiert, was die Ursache der Krankheit ist.“ Er machte eine kurze Pause, um seine Gedanken zu ordnen.
„Der Prinz ist ein viel beschäftigter Mann. Ich weiß nicht, welche Pflichten ihm obliegen, aber sie nehmen ihn ganz und gar ein. Es ist mit Sicherheit eine gewaltige Last, die dieses hohe Amt mit sich bringt. Darum braucht er Corry und Irony und von Karpat, die für ihn arbeiten.“
Elaine nickte: „Ja, der Graf hat mir bereits erzählt, dass auch er eingespannt wurde.“
Jetzt war die Überraschung auf Leos Seite: „Der Graf?“
Elaine sah zu ihm: „Ja. Malvina hat mich in sein Haus geholt, wo auch Kryss schon war. Die beiden haben beschlossen, mich zu holen, weil sie zusammen keinen Erfolg damit hatten, Corry und Irony zur Vernunft zu bringen – und der Graf hat sich offensichtlich deswegen so hilfsbereit gezeigt, weil er anscheinend immer noch irgendwie an mir hängt.“ Sie zuckte die Schultern.
Leo grinste: „Da liegt also der Hase im Pfeffer. Hätte ich mir denken können.“ Dann seufzte er: „Dein Auftauchen hier gibt der Geschichte natürlich eine ganz neue Wendung. Wollen wir hoffen, erneut zum Guten.“
„Aber was denn für eine Geschichte, Leo?“
Er lächelte schwach: „Ach ja, ich bin vom Thema abgekommen. Jedenfalls, von Karpat kennt den wahren Grund nicht, warum er vom Prinzen beschäftigt wird. Er weiß nur, dass er sich das Vertrauen seiner Hoheit vor zehn Jahren verdienen konnte, als er sich auf unsere Seite schlug. Aber ich weiß, was für einen Auftrag der Prinz Corry, Irony und Boo gab.“
Elaine zog die Augenbrauen hoch – Boos Name war das erste Mal in diesem Zusammenhang gefallen. „Boo schlägt also nicht nur seine Zeit tot?“
Leo schüttelte den Kopf: „Nein, die Sache ist so: Corry ist viel unterwegs, sie führt die Aufträge seiner Hoheit aus. Irony ist sein Berater, aber zugleich ist er auch sehr damit beschäftigt, Informationen zu sammeln und mit allen möglichen Leuten zu sprechen. Der Mann ist auch ziemlich am rotieren, glaub mir. Boo ist eine etwas andere Sache. Er ist ein Ausländer, dazu sieht er noch so jung aus und du musst zugeben, auch sehr vertrauenerweckend. Er ist geradezu niedlich, das ist zumindest die gängige Meinung über ihn in den weiblichen Kreisen, aber auch unter Männern bestimmten Schlags, wenn du verstehst, was ich meine.“
Elaine nickte, nahm die Bemerkung hin und verfolgte sie lieber nicht weiter in Gedanken.
„Jedenfalls, keiner hält ihn für gefährlich, mehr noch, sie denken, dass er naiv und völlig harmlos ist, ein Spielball seiner Hormone. Zum Teil trifft es sicherlich zu – aber diejenigen, die sich in der Anwesenheit der Agentin oder des Beraters des Prinzen hüten, auch nur einen falschen Gedanken zu haben, werden in Boos Gegenwart enthemmter, geradezu sorglos. Verstehst du?“
Elaine nickte wiederum: „Sie lassen sich gehen und Boo kann somit wichtige Details aufschnappen?“
„So ist es. Und wenn Boo mal selbst nicht aufpasst, nun, Corry kennt Mittel und Wege, dennoch an diese Informationen zu kommen. Sie beobachten den ganzen Hof, die Agenten, die Gendarmen und die Behörde ebenfalls, um an wichtige Hinweise zu kommen. Kannst du dir vorstellen, wie eingespannt sie sind?“
Elaine seufzte: „Kein Wunder, dass ihr nicht mehr viel Zeit miteinander verbringen könnt. Aber warum bist du hier?“
Leo grinste: „Nun, ich gebe einen miserablen Höfling ab, der Prinz hat bereits gute Leibwächter, er selbst ist zudem auch nicht ganz hilflos, wenn es darauf ankommt. Und was sollte ich sonst dort tun? Es wäre verdächtig. Ich bin sicherlich immer wieder mal da, wenn es um mein Können geht, aber auch nicht so häufig. Ich mag den Hof nicht und das weiß man in diesen Kreisen. Zumal ich auch vermeiden möchte, einer gewissen entmachteten Herzogin über den Weg zu laufen“, er schüttelte sich.
Elaine musste schmunzeln bei der Erinnerung daran, wie er sich darüber aufgeregt hatte, dass Herzogin von Herz ihn wie ein Sexobjekt behandelt hatte. „Aber jetzt hast du doch nichts mehr von ihrer Seite zu befürchten, ist das nicht so?“
Er nickte: „Ja, schon. Ich will aber dennoch kein Risiko eingehen. Abgesehen davon, was will ich mit dieser Hexe, wenn ich eine Frau wie Siren hab'?“ Das war ein Argument.
„Na ja, ein anderer Grund, warum ich nicht am Hof bin, ist, dass ich meine Familie habe. Erstens will ich meine Zeit lieber ihr widmen als diesen Adligen, und zweitens wird es sicherlich für sie gefährlich werden, wenn etwas über diese Mission rauskommt. Man kann nie vorsichtig genug sein. Und schließlich, es gibt noch einen dritten Grund, warum ich hier bin, anscheinend zurückgezogen und verlassen – sollte es irgend ein Problem geben, so bin ich noch da, unbeeinflusst und ganz der Alte.“
„Also gibt es doch ein Problem mit dem Hof?“
Leo seufzte: „Ja und nein. Die Sache ist komplizierter, als es den Anschein hat. Du erinnerst dich sicherlich an unsere Maskerade?“
Elaine nickte: „Ja, natürlich, wie könnte ich das vergessen? Eure Rollen haben euch fast übernommen. Ist es etwa wieder so eine Geschichte?“
Leo schüttelte den Kopf: „Eben nicht. Sieh mal, man erwartet doch von jedem, dass er früher oder später so wird, wie alle am Hof – dekadent, korrupt, unmoralisch und so weiter. Angenommen, Corry, Irony und Boo halten sich jahrelang am Hof auf, ohne dass ihre schlimmsten Charakterzüge in Erscheinung treten – wäre das nicht verdächtig? Würden sich nicht zu viele Leute zu viele Fragen stellen? Es war kein Zufall, dass deine Rolle auch so eine hirnlose adlige Schlampe war, nichts für ungut.“
Elaine seufzte: „Dann bin ich also völlig grundlos hier? Ich meine, von mir aus mache ich hier etwas Urlaub und komme dann wenige Augenblicke später nach Hause, aber was macht das dann für einen Sinn?“
Leo fasste sie an den Schultern und sah sie durchdringend an: „Und genau das ist das Problem – du wirst nicht einfach so hier Urlaub machen können, sonst fliegt alles auf.“
Er senkte seine Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern. „Wenn du jetzt so tust, als wäre alles in Ordnung, dann gibt es ein Problem. Du kannst nicht einfach so hier auftauchen, um uns zu besuchen, so gern wir das alle hätten. Es ging letztes Mal nicht und dieses Mal erst recht nicht, zumal der Prinz auch nicht die Erlaubnis gab, dich zu holen. Ich weiß es, weil ich von Corry davon gehört habe. Sie besucht mich öfters, was keiner mitbekommt – und das ist verdammt gut so.“
Elaine sah ihn etwas verängstig an und flüsterte ebenfalls: „Aber was soll ich dann deiner Meinung nach tun?“
Leo lehnte sich zurück und seufzte: „Das ist das Problem, ich bin kein großer Denker und Planer und das alles. Was genau hattet ihr denn vor?“
Elaine sah auf den Tisch: „Zuerst zu dir gehen, dich aufrütteln, dann dasselbe mit Boo tun und schließlich Corry und Irony besuchen, in der Hoffnung, ich könnte euch alle wieder aufwecken.“
Leo schmunzelte: „Uns aufwecken? Das klingt nett, aber ist völlig daneben.“ Dann lehnte er sich zurück und trank still und nachdenklich seinen Tee. Elaine wartete. Sie war immer noch sehr von dem irritiert, was sie gehört hatte.
Schließlich stellte Leo seine Teetasse leer auf den Tisch und nickte: „Ich denke, ich weiß, was als nächstes angebracht wäre. Ihr bleibt bei eurem Plan – zumindest sollte es so aussehen. Ich will nicht unterstellen, dass Malvina, Kryss oder der Graf so schlampig waren, dass jedermann von deiner Anwesenheit hier weiß, aber sollte das trotzdem so sein, dann wäre es gut, wenn du dich vorhersehbar verhältst. Ich muss immer denken, was Corry oder Irony an meiner Stelle vorschlagen würden, und ich denke, das ist keine schlechte Idee soweit. Du wirst sicherlich auch Boo aufsuchen, das kann nicht schaden. Er wird sich sicher freuen, dich wiederzusehen. Ähm...“, dann sah er etwas verlegen aus, „aber lass dich nicht von seinem Benehmen aus der Ruhe bringen, okay?“
Elaine sah ihn fragend an: „Was ist denn mit seinem Benehmen?“
Leo sah nach unten: „Momentan scheint es, als ob er sich den Grafen zu seinen schlimmsten Zeiten als Vorbild genommen hat – nur dass es ihm noch etwas an Erfahrung und Fähigkeiten mangelt.“
Elaine zog die Augenbrauen hoch: „Das klingt aber ganz und gar nicht nach Boo.“
Leo sah sie wieder an: „Tja, auch der Junge muss eben so tun, als wäre er ganz und gar dem Hof verfallen.“ Dann machte er eine kleine Pause: „Aber es würde mich nicht wundern, wenn du ihn tatsächlich etwas aufrütteln musst. Er hat nicht Corrys oder Ironys Willensstärke und Erfahrung. Es war sicherlich auch nicht meine Idee, den Jungen so sehr in diese Geschichte mit hineinzuziehen, aber er wollte unbedingt mitmachen.“
Leo seufzte: „In seinem Fall könnten die Befürchtungen unserer Freunde teilweise stimmen. Ich denke nicht, dass er seine Aufgabe vergessen hat, aber ich könnte mir vorstellen, dass er sich zu sehr in seine Rolle versetzt hat. Verstehst du, was ich meine?“
Elaine lächelte: „Er könnte etwas Hilfe gebrauchen?“
Leo nickte: „So in etwa. Wenn nichts anderes mehr hilft, dann schlepp ihn zu mir, in unsere alte Wohnung. Zusammen bringen wir ihn sicherlich zur Vernunft.“ Er grinste. Sie schmunzelte und nickte.
„Tja, und nach Boo solltest du tatsächlich die neuen Vertrauten seiner Hoheit aufsuchen. Da sie keine Adligen sind, dürfte es dir nicht so schwer fallen, zu ihnen zu kommen, sofern du sie findest. Das heißt, Irony ist wohl leichter auszumachen, schließlich ist er stets offiziell im Namen des Prinzen unterwegs, wenn er es denn ist. Die meiste Zeit über ist er in der Nähe seiner Hoheit.“ Elaine nickte.
„Und über ihn findest du sicherlich auch Corry. Oder sie findet dich zuerst. Aber keine Sorge, wenn sie etwas anders wirken, als du sie kennst. Es ist einfach diese Aufgabe, sie ist nicht gerade einfach, verstehst du?“, er seufzte schwermütig.
Elaine sah ihn ernst an: „Gibt es da noch etwas, was ich wissen sollte?“
Leo runzelte die Stirn: „Nun ja, wie ich schon sagte, lass dich nicht aus der Ruhe bringen. Es ist alles richtig so, na ja, meistens. Wenn du aber doch das Gefühl haben solltest, dass da etwas nicht stimmt, dann handelst du besser.“
„Aber woher weiß ich, ob das wirklich ein Problem ist und nicht einfach nur meine Einbildung?“
Er lächelte: „Wie sagte Irony das doch mal so schön: Du machst das schon. Ich glaube, du hast oft genug bewiesen, dass eine Menge in dir steckt.“
Sie lächelte: „Danke für das Vertrauen. Na schön, dann sollten wir vielleicht gleich aufbrechen? Ich meine, es ist doch noch nicht zu spät am Abend, oder?“
Leo grinste: „Nicht für Boo, der schlägt sich die Nächte um die Ohren und verpennt den Großteil des Tages. Aber was soll man machen, er ist jetzt ein Sechzehnjähriger.“
Elaine schmunzelte: „Aber wieso ist er denn überhaupt älter geworden? War er nicht zehn Jahre lang oder so stets seine vierzehn Jahre alt gewesen und froh drum?“
Leo seufzte: „Wie ich schon sagte, es gibt Dinge, die einen zu schnell altern lassen. Aber vielleicht hatte Boo seine Kindheit inzwischen soweit nachgeholt, dass er langsam in Richtung des Erwachsenseins vordringen konnte? Würde mich nicht wundern, wenn das der eigentliche, ganz einfache Grund dafür ist.“
Elaine nickte: „Dann werde ich jetzt noch die anderen reinholen, oder?“
Er nickte: „Ich denke, wir sind hier fertig. Und ich denke, Boo kann dir vielleicht mehr sagen, sofern er noch halbwegs bei sich ist. Oh, bevor ich es vergesse“, er beugte sich zu ihr vor und flüsterte wieder, „Boo hat das Lippenlesen inzwischen gelernt. Wenn du ihm also etwas zu sagen hast, das geheim bleiben soll, dann nur auf diesem Weg – und pass auf, dass deine Lippen sonst keiner sieht. Und... wenn der Kleine etwas neben sich sein sollte, dann solltest du ihn erst irgendwohin bringen, wo er leichter zu sich kommen kann, verstehst du?“
Sie nickte: „Ähm – und was sage ich jetzt den anderen wegen dir? Dass alles bestens ist und dass wir einfach weitermachen können?“
Leo nickte: „Ich denke ja. Und denk daran, solange die drei noch mit dieser Aufgabe betraut sind, darf das, was ich dir gesagt habe, kein anderer erfahren.“
Er seufzte: „Ich frage mich ohnehin, ob das nicht ein Fehler war, dich zu holen. Der Prinz wird schon seine Gründe gehabt haben, warum du nicht hierher kommen solltest.“
Elaine legte den Kopf etwas schief: „Und warum denkst du das?“
Er zuckte die Schultern: „Ich weiß es nicht. Ich meine, sie sind schon Jahre lang damit beschäftigt, nach Hinweisen zu suchen. Und es sieht nicht so aus, als ob sie wirklich weitergekommen sind. Ich mache mir Sorgen. Vielleicht hat der Prinz ihnen eine unlösbare Aufgabe gegeben, die sie letztlich völlig fertigmachen wird. Und“, er hielt kurz inne, „so willensstark sie auch sein mögen, sie werden auch nicht ewig durchhalten können, das steht fest. Also, wenn du das Gefühl hast, dass du sie wecken musst, dann tu es. Ich denke, dass es unseren Freunden gut geht, geht vor. Ich denke nicht, dass der Prinz sie damit belohnen will, dass er sie verheizt.“
Elaine nickte. Leo stand auf und öffnete die Tür. Kryss, Malvina und Siren kamen wieder hinein, mit einem mehr oder weniger besorgten Gesichtsausdruck.
„Nun? Wie sieht es aus?“, fragte der Bewohner der Katakomben.
Elaine lächelte schwach: „Wie schon – wir gehen Boo besuchen. Das heißt, erst gehen wir ihn suchen – oder weiß einer von euch, wo der Junge sich gerade herumtreibt?“
Es sah nicht so aus. „Und ansonsten?“
Elaine sah Kryss an: „Alles in Ordnung, okay?“ Leo nickte dazu.
„Hrmpf“, meinte Kryss nur und musste sich wohl oder übel damit zufrieden geben.
Malvina sah zu Elaine und dann zu Leo: „Und was ist mit dir, kommst du mit?“
Leo schüttelte den Kopf: „Nein, das ist nicht nötig. Ellie wird das schon alleine gut hinbekommen, denke ich. Und wenn doch nicht, dann bringt Boo einfach in unsere alte Wohnung, okay?“
Kryss nickte: „Klingt nicht schlecht.“
Siren wirkte erleichtert. Die Sorge verschwand aus ihrem Blick.
Elaine lächelte: „Danke für den Tee. Ich denke, wir sollten jetzt aufbrechen und Boo suchen.“
Leo nickte und stand auf: „Aber gern gescheh'n. Allein dass du wieder hier bist ist der Wahnsinn. Wenn nur die Vorzeichen nicht so schlimm wären.“
Kryss und Malvina wandten sich zum gehen, Siren folgte ihnen und dann Leo mit Elaine. Er warf ihr noch einen ernsten Blick zu, sie nickte lächelnd.
„Es wird schon alles gut gehen“, sagte ihr Gesichtsausdruck. Sie wusste zwar nicht, woher diese Zuversicht kam, aber vielleicht lag es daran, dass sie diesmal nicht der Spielball des Prinzen und Malvinas war, sondern selbst über ihr Handeln bestimmte. Konnte diese Welt ihr überhaupt noch gefährlich werden, wenn sie ein Träumer war und sie somit kontrollieren konnte? Wenn sie daran dachte, dass jetzt wohl keine einzige Brücke es wagen würde, sie von ihrem Rücken schmeißen zu wollen, war sie beruhigt. Die drei verabschiedeten sich von Leo und Siren, Elaine hoffte, dass das noch kein Lebewohl war, und verließen wieder das Gebäude.
Als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fiel, sah Siren ihren Mann erst an: „Und was jetzt? Muss ich Angst haben, dass dir oder Rick etwas passieren könnte?“
Er lächelte, aber er schaffte es nicht ganz, seine Unsicherheit zu verbergen: „Ich hoffe nicht. Ich meine, du hast vielleicht mitbekommen, was Ellie alles kann. Und Malvina – nun, sie ist sicherlich auch nicht hilflos.“
Doch beide erinnerten sich nur zu gut daran, dass er von gefährlichen Mächten gesprochen hatte. Das wiederum hatte er von Corry. Etwas stimmte ganz gewaltig nicht mit ihrer Welt.
Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn: „Ich bin schon froh, dass du etwas auf dich selbst aufpassen kannst, mein Schatz.“
Sie sah zu ihm hoch und schmunzelte: „Du hast mir das beigebracht, schon vergessen?“
Er lächelte sie an: „Ist nicht so, als ob du völlig unbegabt wärest. Aber – lass uns das besser ein anderes Mal besprechen. Es ist spät genug, findest du nicht?“
Elaine, Malvina und Kryss beschlossen auf der Fahrt, dass es am besten war, erst wieder zum Grafen zurückzukehren, bevor Elaine sich auf die Suche nach Boo machte.
Kryss verabschiedete sich allerdings bereits vor der Eingangstür vom Gebäude, in dem Leo mit seiner Familie wohnte, von Elaine und Malvina: „Es macht keinen Sinn, dass ich jetzt mitkomme. Ich habe nichts bei all den feinen Leuten verloren“, der Sarkasmus war deutlich aus seiner Stimme heraus zu hören, „und ich bezweifle, dass ich bei Boo etwas ausrichten kann. Es hat ja schon einmal nicht geklappt. Viel Glück euch beiden. Ich melde mich morgen wieder. Vielleicht kann ich in der Zeit noch etwas interessantes auftreiben, wer weiß?“
Elaine nickte: „Dann bis morgen.“
Malvina winkte ihm zu und dann war Kryss wie vom Erdboden verschluckt.
„Wie macht er das?“, fragte Elaine, als der Kutscher ihnen beim Einsteigen half.
Malvina lächelte: „Er hat es zwar nicht zum Profi geschafft, aber nicht, weil er unfähig ist, sondern weil er eine wichtigere Aufgabe gefunden hat.“ Die Kutsche setzte sich in Bewegung, zurück zum Grafen, wie gewünscht.
„Eine wichtigere Aufgabe?“
Malvina nickte und jetzt bewegten sich wiederum nur ihre Lippen, während Elaine zudem das Gefühl hatte, dass ein Schleier sich über die Fenster gelegt hatte, so dass niemand mehr hinein blicken konnte, selbst wenn er wollte: „Ich wusste es nicht, bis vor kurzem, um es mal so zu sagen. Ich kannte Kryss nicht einmal, bevor ich... du weißt schon. Corry hat nur hin und wieder einen Bekannten erwähnt, aber weiter nichts. Jedenfalls, Kryss ist eine Art Wächter.“
„Ein Wächter?“, fragte Elaine ebenso lautlos. Sie hatte schon befürchtet, sie hätte das Lippenlesen verlernt, als sie nach Hause zurückgekehrt war, so wie ihre Erinnerungen zu verblassen anfingen, aber zum Glück klappte es doch.
„Ein Wächter, so ist es. Es ist eine lange Geschichte. Die Katakomben sind eine Grenzzone, die Grenze zwischen der Oberfläche und der Tiefe. Du weißt doch noch, was die Tiefe ist, oder Ellie?“
Elaine erinnerte sich tatsächlich daran, was ihre Freunde ihr darüber erzählt hatten. Die Tiefe war etwas, wo die wirklichen Alpträume wahr wurden, im Vergleich dazu war das Schlimmste, das sie in der Hauptstadt je erlebt hatte, ein Spaziergang. „Na ja, ich weiß nicht viel darüber, aber es ist wohl nichts Schönes.“
Malvina nickte: „Das ist noch maßlos untertrieben, aber es stimmt soweit. Nun, Kryss bewacht eben diese Grenze so gut er kann. Ich fürchte nur, er steht da einsam auf verlorenem Posten.“
Elaine runzelte die Stirn: „Darum meinte er, dass es ihm nicht besonders gut geht?“
Malvina nickte wiederum: „Auch deswegen, ja. Nicht zuletzt dank Cerebro und mir“, sie seufzte.
„Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen, aber selbst ein Träumer kann den Lauf der Zeit nicht umkehren. Wir können nur versuchen, die Zukunft zu beeinflussen und die Gegenwart zu formen.“
Elaine sah Malvina ernst an: „Warum kannst du das eigentlich, wenn du doch von hier bist?“
Malvina schloss für einen Augenblick die Augen, bevor sie antwortete: „Weil auch ich etwas besonderes bin, scheint es. Ich habe eine Theorie, willst du sie hören?“ Elaine nickte.
„Also, Corry und ich, wir sind Schwestern. Wir haben dasselbe Blut, wenn man es so sehen will. Aber wir sind keine Zwillinge, darum gleichen wir uns nicht. Es ist nur die Kraft, die Macht, die uns auszeichnet. Früher haben Leute wie wir diese Welt beherrscht und beschützt. Sehr viel früher.“ War das der Adel, von dem von Karpat gesprochen hatte? Es sah so aus.
„Jedenfalls, ich schätze, unsere Fähigkeiten sind eben in diese beiden Richtungen ausgeprägt. Corry, sie ist wie einer dieser Wächter oder Wahren Ritter oder Profis oder Agenten oder wie man sie auch immer nennen mag. Sie kann sich so ziemlich jeder Situation anpassen, sie kommt mit vielem zurecht, sie hat vieles drauf. Ich dagegen, ich bin wohl so ähnlich wie der Prinz. Ich beherrsche diese Welt sozusagen.“
Sie lächelte traurig: „Ist wohl mit einer der Gründe, warum der Prinz mich zu seiner Braut machen möchte. Er kann erst König werden, wenn er eine Königin gefunden hat. Und es hat schon lange niemanden mehr gegeben, wie mich, hat man mir gesagt.“ Sie schmunzelte jetzt und ihre Augen blitzten kurz gelb auf, so kurz, dass Elaine es nicht bemerkte.
Elaine schüttelte den Kopf: „Und dennoch bin ich dir als Träumer überlegen?“
Malvina nickte: „Ja. Ich kann über die Welt herrschen, aber du bestimmst ihre Essenz. Das ist doch ein Unterschied, findest du nicht?“
Sie sah zum Fenster und flüsterte jetzt und in der völligen Stille der abgeschirmten Kutsche klangen diese gehauchten Worte laut wie ein Schrei: „Und wenn ich dich damals hätte überzeugen können, dass ich gewonnen hatte, dann hättest du das durch deinen Glauben wahr gemacht. Verstehst du, warum beide Seiten dich so dringend gebraucht haben?“
Elaine war wie versteinert. Erst jetzt erfuhr sie, wie haarscharf sie an ihrem Untergang vorbei geschlittert war. Sie war so betroffen, dass sie nicht auf die schwache Spiegelung von Malvinas Gesicht achtete, in der das Gelb der Augen glühte.
Doch als Malvina wieder zu Elaine blickte, waren ihre Augen wieder tief blau. Sie lächelte: „Aber es ist noch einmal gut gegangen. Wie konnte jemand auch glauben, meine Familie schlagen zu können? Dazu braucht es doch etwas mehr, denke ich.“
Elaine lächelte auch: „Du nennst sie alle deine Familie?“
Malvina nickte: „Aber ja doch. Corry ist meine Schwester, das ist klar. Irony ist wie ein großer Bruder. Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich war wohl etwas in ihn verschossen gewesen, aber nicht ernsthaft. Und dennoch hat es gereicht, damit ich Corry hassen lernen konnte. Leo und Boo – sie sind einfach mehr als nur Freunde für uns. Ich weiß nicht, wie Cerebro es schaffen konnte, dass ich mich gegen sie gewandt habe.“
Sie schloss die Augen und wieder bewegten sich nur ihre Lippen: „Ich habe solche Angst um sie gehabt, dass ich mich ergeben habe, dass ich mich für sie geopfert habe. Aber gerade das hat mich erst zu dem Ungeheuer gemacht, das du erlebt hast. Ich hätte darauf vertrauen sollen, dass sie es schaffen. Aber ich habe ihm geglaubt, ich habe geglaubt, dass meine Gegenwehr ihr Todesurteil wäre. Ich habe den Fehler gemacht, den du vermieden hast.“
Elaine wollte sie trösten, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Malvina öffnete wieder die Augen und lächelte: „Es tut mir leid. Ich – ich weiß nur nicht, ob ich mit jemand anderes darüber sprechen könnte. Ich meine, meine Familie – sie sind nicht mehr sie selbst und ich habe Angst, sie würden mich in ihrem Zustand nicht verstehen.“
Elaine lächelte: „Ich denke, das kriegen wir schon noch hin. Ich meine, hey, wenn du sozusagen eine Herrscherin bist und ich eine Träumerin, kann da noch etwas schief gehen?“
Malvina kicherte: „Sicher nicht. Ich meine, fast sicher.“
Die Kutsche hielt wieder, die Tür öffnete sich und die seltsame Abschirmung fiel in sich zusammen, als sie das Haus des Grafen sahen. Erneut war der Kutscher ihnen behilflich und dann ging es wieder zurück durch die nun eisige Kälte hinein. Elaine schüttelte sich, als die Türen sich wieder hinter ihnen schlossen: „Das ist ja geradezu arktisch kalt hier!“
Sie wusste natürlich nicht, wie kalt arktisch kalt eigentlich war, aber sie dachte sich, dass dieser Frost dem zumindest nahe kommen musste.
Der Graf kam gerade zu ihnen und grinste: „Nun, so sind die Winter hier meist, Ellie. Es ist sozusagen die Vorstellung, die man vom Winter hat. Er ist bitterkalt. Wo habt ihr eigentlich Kryss gelassen?“
Elaine rollte die Augen, als Alexey zu ihr ging und ihr mal wieder einen seiner unüblich aufdringlichen Handküsse gab, der ihre Haut durch jede Stofflage zu berühren schien und ihr überall am Körper eine wohlige Gänsehaut bescherte: „Kryss dachte sich, dass er sich anderweitig besser nützlich machen kann, als am Hof.“
Der Graf zog eine Augenbraue hoch: „Am Hof? Seid Ihr mit Leo etwa schon fertig?“
Sie schmunzelte: „So könnte man es sagen. Die Frage ist jetzt nur noch – wo finden wir um diese Uhrzeit Boo?“ Bei diesen Worten sah sie automatisch auf die nächste sichtbare Uhr und stellte fest, dass der Abend in etwa so fortgeschritten war, wie sie erwartet hatte.
Der Graf grinste: „Nun, nachdem die Nacht noch jung ist, wird er sich wohl erst noch auf einer Feier aufwärmen, bevor es richtig los geht.“
„Ich dachte, der Ball ist erst in einigen Tagen,“ bemerkte Elaine.
Er nickte: „Das ist richtig, aber das bedeutet nicht, dass die Privilegierten es nicht jetzt schon krachen lassen.“ Und da war es wieder, das verruchte Grinsen, das sie zugleich wütend machte und doch irgendwie magisch anzog.
Malvina zog die Augenbrauen hoch: „Und da seid Ihr noch nicht unterwegs?“
Der Graf führte schmunzelnd die Arme auseinander: „Ich werde doch nicht ohne Begleitung ausgehen, wenn ich nur etwas auf die bezaubernde Comtessa warten muss.“
Elaine seufzte: „Aber ich bin doch keine Comtessa, ich dachte, das haben wir schon vor über zehn Jahren geklärt.“
Er grinste wieder: „Es ist süß, wie Ihr Euch jedes Mal darüber aufregt. Nein, ich denke, in Eurem Fall ist ein Titel eher ein überflüssiges Beiwerk als eine Notwendigkeit. Wobei ich mir schon die Frage stelle, wie der Prinz auf Eure Anwesenheit reagieren würde, wenn er erst davon erfährt.“
Malvina sah ihn an, als ob er gerade eine unglaubliche Dummheit gesagt hatte: „Glaubt Ihr nicht, dass er schon längst darüber Bescheid weiß?“
Er lächelte: „Die Frage ist, habt Ihr etwas dagegen unternommen oder nicht? Wenn nicht, dann weiß er es sicherlich.“
Malvina verschränkte die Arme vor der Brust: „Ich habe ganz bestimmt nicht versucht, gegen seine Hoheit zu handeln, Graf.“
Er grinste: „Tja, dann weiß er es wohl.“
Elaine sah die beiden besorgt an: „Und was hat das dann zu bedeuten?“
Er sah zu ihr und lächelte: „Keine Sorge. Er hat zwar nicht genehmigt, dass Ihr offiziell herkommt, aber er hatte anscheinend nichts dagegen, dass Ihr insgeheim hierher gebracht werdet. Das bedeutet wiederum, dass es keine schlechte Idee war und alles klappen wird. Aber es bedeutet auch, dass Irony und Corry sicherlich auch schon Bescheid wissen. Und sie werden sich sicherlich schon Gedanken darüber machen, warum du hier bist. Vielleicht solltest du dich beeilen.“
Sie nickte: „Ich hatte ohnehin nicht vor, zu trödeln. Aber – wo ist Boo?“
Der Graf schüttelte lächelnd den Kopf: „Oh nein, wichtiger ist im Moment, dass Ihr Euch so nicht am Hof blicken lassen könnt. Kommt mit, wir suchen Euch etwas passendes zum Anziehen aus.“
Elaine seufzte und Malvina kicherte: „Ich helfe wohl besser etwas mit, was meint Ihr, Graf?“
Er verbeugte sich leicht. „Das wäre mir eine Ehre. Dann lasst uns keine Zeit verlieren.“
Der Graf führte sie zur Garderobe und ließ Elaine vor einer Auswahl an Kleidern stehen, mit einem erwartungsvollen Schmunzeln. Elaine sah zu Malvina, aber auch das Mädchen wollte ihr anscheinend keinen Tipp geben. Sie seufzte und griff dann einfach nach dem erstbesten Kleid, das ihr in die Finger kam. Es stellte sich als ein weißes, glitzerndes Abendkleid heraus, mit Federn geschmückt.
„Die Schwanenprinzessin“, murmelte Malvina.
„Was meinst du?“, Elaine sah fragend zu ihr.
Malvina lächelte: „Maskenbälle, Ellie. Das ist eindeutig eine Schwanenprinzessin.“
„Oh, verstehe.“
Der Graf holte eine Maske hinter seinem Rücken hervor, ein kleines Kunstwerk aus weißen Federn und Glanz. Waren es tatsächlich Diamanten? Elaine starrte diese Maske an: „Ich glaube... das kann ich nicht tragen. Selbst wenn es nur geliehen ist.“
Er zog eine Augenbraue hoch: „Es ist nicht geliehen, Ellie. Ich schenke sie Euch. Und warum könnt Ihr es nicht tragen?“
Sie seufzte: „Weil das einfach zu viel ist. Ich habe vermutlich in meinem ganzen Leben nicht einmal einen Bruchteil dessen verdient, was allein dieses Kleid kostet.“
Er grinste: „Dann solltet Ihr erst recht dieses Kostüm tragen. Wann habt Ihr sonst diese Chance, wenn nicht hier und jetzt?“
Sie sah ihn an: „Ist das Eure Philosophie?“
Er lächelte: „Ein Teil davon, ja. Das Leben kann schon morgen vorbei sein. Warum sollte man es nicht genießen?“
Sie schüttelte den Kopf: „Also schön. Wie Ihr wollt.“ Sie musste sich selbst eingestehen, dass auch wenn ihr diese Kostbarkeit ein gewisses Unbehagen bereitete, so wollte sie sich diese Chance wirklich nicht entgehen lassen. Eine weitere könnte sie in der Tat nicht bekommen.
Malvina sah zum Grafen: „Ich nehme nicht an, dass Ihr eine Frau in Euren Diensten habt, die sich damit auskennt, eine Dame ausgehfertig zu machen?“
Der Graf schüttelte den Kopf: „Es war bisher nicht nötig.“
Malvina seufzte: „Dann werde ich das wohl machen. Und Ihr lasst uns mal solange allein.“
Er zog die Augenbrauen hoch: „Was gäbe es, was ich noch nicht gesehen habe?“
Doch Malvina war durch diesen Spruch nicht zu überzeugen: „Es ist mir völlig egal, was Ihr in Eurer Freizeit macht, Graf, aber ich will nicht, dass in meiner Gegenwart etwas passiert, was sich nicht in der Öffentlichkeit abspielen sollte. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“ Ihre Augen weiteten sich für einen Augenblick und blitzten gelb auf.
Er grinste: „Na von mir aus. Ihr müsst doch nicht gleich sauer werden.“ Er ließ sie allein.
Elaine kicherte: „Armer Kerl.“
Malvina grinste: „Er soll sich nicht so anstellen, das geht ihn nichts an. Tja, dann lass uns mal anfangen.“
Elaine sah sie fragend an: „Warum machst du das? Ich meine, das meiste kann ich doch selbst tun.“
Malvina deutete grinsend auf ein Korsett, das ganz altmodisch auf dem Rücken geschnürt werden musste: „Das etwa auch?“
Elaine seufzte: „Warum haben Reißverschlüsse noch nicht Einzug in die Welt des Adels gefunden?“
Malvina kicherte, während sie Elaine beim Umziehen half: „Es ist doch ganz einfach: Die aller neueste Mode tragen in der Regel nur die Gemeinen. Je kostspieliger, desto höher der Rang. Der Adel dagegen, nun, er ist doch bereits eine Art Anachronismus, warum sollte die Kleidung da abweichen?“
Das klang einleuchtend. Elaine war auf alle Fälle froh, dass Malvina sich um ihre Haare kümmern konnte, sie selbst hätte wohl kaum eine so kunstvolle Frisur hinbekommen.
Als sie die Garderobe wieder verließ, nun als Schwanenprinzessin, nickte der Graf anerkennend. „Eine sehr gute Wahl, das muss man Euch lassen. Und Ihr habt hervorragende Arbeit geleistet“, meinte er dann zu Malvina und verbeugte sich leicht.
Das Mädchen zog nur die zierliche Augenbraue hoch und lächelte schwach: „Meine Schwester hätte es sicherlich noch etwas besser machen können, aber sie ist ja nicht da. Aber so schlecht ist Eure Wahl auch nicht.“
Der Graf verbeugte sich erneut. Er hatte die Zeit genutzt, um selbst in ein Kostüm zu schlüpfen und bot einen ungewohnten Anblick dar. Sollte das ein Drachenkostüm sein, was er da trug? Es sah ganz so aus. Die Maske mit den flammenroten Fledermausschwingen, die Kleidung selbst wie ein geschuppter, vergoldeter Panzer und der Umhang, der ebenfalls zweien Drachenschwingen nachempfunden war. „Mancher würde mich als ein reiches Ungeheuer bezeichnen, also sehe ich jetzt auch mal so aus“, grinste er.
Elaine verzog den Mund: „Wieso nur gefallt Ihr Euch vor allem in der Rolle des Schurken?“
Er zuckte die Schultern: „Warum nicht?“ Sie seufzte und ließ es dabei bewenden.
Der Graf sah zu Malvina: „Was ist mit Euch, wollt Ihr etwa nicht mitkommen? Oh, ich vergaß“, er lächelte süßlich.
Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust: „Wieso kommt Ihr auf den Gedanken, dass ich dort hingehen wollte? Was habe ich dort verloren? Soll ich etwa unliebsame Erinnerungen aufwärmen oder die Perversion meiner Familie beobachten? Ich werde nach Hause zurückkehren, so einfach ist es. Bis morgen, Ellie.“
Elaine nickte: „Bis morgen dann.“
Der Graf räusperte sich: „Verzeiht mir diese bösen Bemerkung. Wir könnten Euch nach Hause bringen, bevor wir aufbrechen.“
Malvina schmunzelte boshaft, wieder war da ein goldenes Glitzern in ihren Augen: „Aber, aber, Graf, was ist mit Eurem Gedächtnis, Ihr werdet doch nicht etwa alt? Habt Ihr jetzt auch vergessen, dass ich ganz gut auf mich selbst aufpassen kann?“ Damit drehte sie sich um und spazierte schnurstracks zur Tür, wo sie sich in ihren Wintermantel helfen ließ. „Bis morgen, ihr Turteltäubchen“, flötete sie und ging kichernd aus der Tür hinaus.
Der Graf lachte kurz und schüttelte den Kopf. „Sie ist zwar keine geborene Adlige, aber ihrem Benehmen nach könnte sie sehr wohl eine sein, findet Ihr nicht?“ Er sah Elaine an und legte sanft einen Arm um sie.
Sie lächelte: „Irgendwie schon. Aber habt Ihr nicht selbst mal gesagt, jemand mit ihren Fähigkeiten würde einen Titel verdienen?“
Er nickte: „Das habe ich in der Tat.“ Dann sah er ihr tief in die Augen: „Was meint Ihr, könnt Ihr noch einige Augenblicke entbehren, bevor wir aufbrechen, oder ist es eine Angelegenheit, die nicht mal den geringsten Aufschub duldet?“
Sie lächelte: „Ich denke nicht, dass einige Momente so viel ausmachen.“
Er flüsterte: „Und ob sie das tun“, dann küsste er sie. Dieser Kuss hatte in der Tat nicht allzu lange gedauert, der Minutenzeiger hatte sich nicht bewegt, und dennoch hatte sie das Gefühl, dass die Uhr sie belog und mindestens Stunden unterschlagen hatte.
Elaine sah ihn fragend an, aber er schmunzelte und sagte nur: „Wollen wir?“ Er wollte es ihr also nicht erklären, also machte es keinen Sinn, ihn zu fragen. Sie nickte und jetzt verließen auch sie das Haus.
Die Kutsche brachte sie zu einem Palast, der zwar nicht ganz mit dem Wohnsitz des Fürsten von Südland mithalten konnte, aber er war dennoch überwältigend.
„Fürstin von Nordland ist hier zuhause“, flüsterte der Graf ihr zu, „sie war wie der Fürst von Westland nicht an der Verschwörung beteiligt. Ihre Mutter ist unter mysteriösen Umständen verschwunden und ich schätze, darum steht ihr der Sinn nicht nach Verschwörungen, gegen wen auch immer. Sie hat sich einfach rausgehalten. Und heute ist sie die Gastgeberin.“
Spiegel und Kristall bestimmten die Einrichtung dieses Palastes, ebenso wie die Farbe weiß. Es wirkte, als hätte der Winter auch in diesen prächtigen Sitz Einzug gehalten. Vielleicht, weil der Norden schon immer mit dem Winter und dem Schnee in Verbindung gebracht wurde?
Der Graf schmunzelte wieder: „Euer Kostüm passt von der Farbe her perfekt ins Bild. Die Gastgeberin wird sich sicherlich geschmeichelt fühlen.“
Elaine lächelte, wenigstens würde sie diesmal nicht anecken, wie damals mit ihrem roten Kleid bei der Herzogin von Herz, die diese Farbe anscheinend für sich in Besitz genommen hatte.
Sie kamen in einem großen Ballsaal an, wo sich schon viele geschmückte Gäste befanden, die Kostüme so vielfältig, wie die Phantasie nur zuließ. Sie sah phantastische Kreaturen, einzigartige Kleider, aber ebenso auch Kostüme, die ihr von Zuhause nicht unbekannt waren, allerdings mit viel mehr Stil und Pracht aufgemacht. Nur einmal tauchte der Gedanke in ihrem Kopf auf, dass sie diesmal auf sich allein gestellt war, aber er verschwand schnell wieder, da sie sich offensichtlich mühelos in diese Situation einfügen konnte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
Man stellte sie vor als den Grafen von Karpat und Ellie, die Träume¬rin, und erneut war ihre Anwesenheit der Stoff aller Gespräche. Man fragte sich, warum sie wieder hier war, ob der Prinz diese Träumerin für irgend etwas brauchte – und was es denn überhaupt sein könnte, war denn nicht alles in bester Ordnung? Aber, wenn alles in bester Ordnung war, warum war sie dann hier? Und hatte der Prinz denn nicht sogar verboten, sie wieder hierher zu bringen? Die Gerüchteküche war am überkochen.
Aber das interessierte Elaine nicht. Sie vergaß alles, was ihr Gefühl ihr zur Etikette sagte und sie beachtete auch nicht den Grafen, der sie irritiert ansah, sie sah nur eines: Das riesige Bild einer wunderschönen Frau, die der Gastgeberin sehr ähnelte, in einem grünen Kleid, das eine Passagierin der Titanic hätte getragen haben können. Es war das Kleid, das Kryss ihr damals gab, das Kleid, in dem sich der Geist befunden hatte. Der Geist, der ihr vom Verschwinden seiner Herrin erzählte. Was um alles in der Welt konnte eine Fürstin verschwinden lassen?
***
In einem kleinen, spartanisch eingerichteten und irgendwie steril und unpersönlich wirkenden Appartement hatte ein Mann mittleren Alters einen Alptraum, der ihn schon seit einigen Jahren heimsuchte. Schwarze Gestalten waren da, die ihn verfolgten, die ihm keine Ruhe gaben und die ihm schreckliche Angst einjagten. Immer wieder, Nacht für Nacht wachte er auf und fragte sich, warum er so etwas träumte. Doch in dieser Nacht wurde es noch schlimmer.
Plötzlich jagten ihn nicht nur diese schwarzen Gestalten, sondern auch Raben, Krähen und Katzen. Und sie alle wurden von einer Hexe angeführt, einer Untoten mit langen Krallen und Katzenaugen, mit den Zähnen eines Vampirs, der Zunge einer Schlange und giftigen Stacheln anstatt ihres Haars. Sie hatte noch andere Ungeheuer im Gefolge, aber er hatte zu viel Angst, um sie sich genauer anzusehen und so bleiben sie nur schreckliche Schemen.
Doch am meisten Angst jagte ihm immer noch dieser seltsame Schatten ein, der hinter dieser Hexe stand, eine Macht, die ihm den Verstand raubte. Er lief und lief und wünschte sich nichts sehnlicher, als das Ende dieses Grauens – aber erst die Sonnenstrahlen, die sein Fenster berührten und das schrille Klingeln des Weckers erlösten ihn von seiner Tortur.
Er ging ins Bad, um sich für den nächsten Arbeitstag fertig zu machen und erschrak sogar kurz vor dem Bild, das er im Spiegel sah. Für einen Augenblick sah er wieder diesen Schatten hinter sich, aber dann nur sein eigenes Gesicht, blass, mit Augenringen und fahler Haut. Er fühlte sich wie gerädert und fragte sich, wie er eine weitere Nacht durchstehen soll. Sein unruhiger Blick schien im Spiegel zu zittern, als sich ein beunruhigender Gedanke in seinen Kopf schlich, der Gedanke, dass etwas nicht stimmte. Dieser Gedanke sollte ihn für den Rest des Tages nicht mehr loslassen, an dem er es gerade noch schaffte, seine Arbeit als Beamter auszuführen.