Читать книгу Rette uns, Elaine! - Inga Kozuruba - Страница 4

Salziges Teegebäck

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Gerade als Elaine glaubte, eingeschlafen zu sein, wachte sie auf. Die ersten Augenblicke wusste sie allerdings nicht, wo sie war – bis sie merkte, dass sie wieder in ihrem eigenen Schlafzimmer war. Neben dem Bett lag ihre Tasche und eine angebrochene Packung Schlaftabletten. Elaine fasste sich an den Kopf. War das alles nur ein Traum? Nein, das war es nicht gewesen. Sie trug immer noch den smaragdgrünen Bademantel mit ihrer persönlichen Stickerei. Und sie fühlte sich so ausgeschlafen, wie schon lange nicht mehr. Allerdings – richtig wach war sie auch nicht. Vermutlich eine Nachwirkung der Medikamente. Elaine seufzte. So viel zu dieser Methode. Aber zumindest hatte es geklappt.

Der Tag verflog unheimlich schnell, entgegen aller Annahmen, dass die Zeit sich dahinschleppen würde, wenn man etwas nicht erwarten konnte. Elaine wartete sehnsüchtig auf die Nacht – und die Nacht kam schneller, als sie erwartet hatte. Dunkelheit senkte sich über die Stadt. Elaine fragte sich, wo die Zeit geblieben war. Es war wie in einem Traum. Aber das spielte im Moment keine Rolle für sie. Sie ging so früh schlafen wie schon lange nicht mehr, zog den Telefonstecker raus, zog den Bademantel an und nahm wieder ein paar Tabletten. Bis sie endgültig wegdämmerte dachte sie ununterbrochen an das andere Zimmer.

„Hey, guten Morgen Schlafmütze! Und mir hat man vorgeworfen, ich komme nicht aus dem Bett!“ Elaine wurde von Boos Stimme geweckt. Sie roch Kaffee.

„Guten Morgen, Boo... du hast Frühstück gemacht?“

Er grinste sie an: „Das wäre doch das mindeste nach so einer Nacht. Ha, dein Gesicht müsstest du sehen!“ Er klappte beinahe zusammen vor Lachen.

Elaine rollte die Augen: „Hast du mir nicht etwas versprochen?“

Er brauchte einige Zeit, bis er ihr antworten konnte: „Klar... ich hab’ versprochen, ich mach’ dich nicht mehr an. Ich hab’ aber nichts davon gesagt, dass ich keine Witze mehr zu dem Thema machen werd’.“

Elaine seufzte. So viel zum Thema unverbesserlich. Boo schien auf seine Art und Weise die Nachfolge des Grafen angetreten zu haben.

„Also, ich warte dann in der Küche auf dich. Vielleicht sieht die Lage heute ja besser aus als gestern“, Boo schlenderte aus dem Zimmer.

Elaine machte sich fertig und gesellte sich zu ihm an den Frühstückstisch. „Also, irgendwelche Alpträume gehabt heute Nacht?“

Elaine schüttelte den Kopf: „Das nicht – aber ich war wieder zu Hause, du verstehst?“

Er machte große Augen: „Wie? Das geht nicht. Ich bin die ganze Nacht an deinem Bett gesessen. Du hast geschlafen wie ’ne Tote!“

Sie zog eine Augenbraue hoch: „Du hast was gemacht? Warum?“

Er grinste verlegen: „Ähm... zuerst einfach so. Dann ist mir aufgefallen, wie tief du schläfst. Ich war echt versucht, unter den Mantel zu sehen, aber – ja, ich weiß, was ich versprochen hab’. Und dann, weil ich das alles sehr seltsam fand. Ich meine, du bist echt da gelegen wie... wie eine Puppe oder so was.“

Elaine fasste sich an den Kopf. Das wurde ja immer schöner. „Boo... ich brauche Hilfe, sonst wird das noch so weitergehen.“

Er sah sie fragend an: „Was meinst du?“

„Ich bin hierher gekommen, weil ich zu Hause schlafe, und weil ich ein paar Tabletten eingeworfen habe. Schlaftabletten, nichts besonderes. Aber es sieht so aus, als ob ich auf diese Weise nur... irgendwie teilweise wechseln kann.“

Boo kratzte sich am Kopf: „Oh, da erwischst du mich echt auf dem falschen Fuß. Hm... lass mich überlegen. Das Königspaar brauchen wir nicht zu fragen. Der Tornado ist noch immer außer Betrieb. Corry könnte dir helfen.“

Elaine seufzte: „Es ist nicht Corry, glaub’ mir.“

Er rollte die Augen: „Du bestehst noch immer darauf, hm? Okay... lass mich nachdenken. Du musst etwas von hier essen und trinken. Allerdings nicht irgend etwas.“

Dann erhellte sich sein Gesicht: „Es muss etwas sein, das einer von uns selbst gemacht hat. Ha, wir laden uns bei Leo zum Tee ein! Siren macht vortreffliches Gebäck.“

Elaine musste lächeln. Siren und backen? Irgendwie passte das nicht so recht zusammen. Sie war sicherlich eine gute Mutter und Ehefrau, aber als Hausfrau konnte sie die Sängerin einfach nicht vorstellen. Eigentlich war sie bisher immer davon ausgegangen, dass Leo sich um diese Dinge gekümmert hatte. Kochen konnte er wirklich sehr gut, keine Frage. Aber vielleicht hatten sich auch in dieser Hinsicht ein paar Dinge geändert. Es war zumindest nichts falsches darin, backen zu können.

„Okay, Boo, dann gib Leo Bescheid. Hoffentlich zerdrückt er mich nicht wieder. Ich hatte letztes Mal blaue Flecken von seiner stürmischen Begrüßung.“

„Hehe, keine Bange. Er wird dir schon keine Rippen brechen.“

Sie rollte die Augen: „Ich hoffe, du wirst ihn darauf aufmerksam machen, welche Funktion der Tee und das Gebäck haben sollten.“

Boo schmunzelte: „Klar. Wir wollen dich doch alle hier behalten.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. Er schmunzelte weiterhin: „Na ja, ich meine, hey, du bist nun mal unsere liebste Träumerin. Und überhaupt. Wäre es nicht cool, einfach nur zu fünft rumzuhängen, ohne dass einem Agenten, Kreaturen oder sonst was im Nacken sitzen?“

Sie nickte. Da hatte er natürlich recht. Aber bevor das passieren konnte, musste sie sich noch darum kümmern, dass sie wirklich zu fünft waren, und keine Doppelgänger darunter. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es anstellen sollte, aber irgendwie würde das schon gehen. Sie hatten bisher immer eine Lösung gefunden.

Sie hob erneut die Tasse zum Mund, aber anstatt des angenehmen Kaffeedufts schlug ihr erneut der Gestank der Tiefe entgegen. Sie erstarrte. Irgend etwas war in der Tasse. Sie sah, wie sich die Oberfläche kräuselte, als ob etwas kleines direkt unter der Oberfläche schwamm. Sie tat, als würde sie erneut daran nippen und setzte vorsichtig die Tasse ab. Boos Blick war für ihren Geschmack zu prüfend.

„Ähm... sag mal, Boo... wann können wir denn zu Leo und Siren?“

Er grinste: „Du kannst es wohl kaum erwarten, hm? Also, von mir aus können wir gleich zum Humpty und dort mit ihnen reden.“

Elaine nickte. Unauffällig musterte sie den Rest vom Frühstück. Alles andere sah normal aus. Sie sah noch einmal zu Boo. Was auch immer in ihrer Tasse war, er musste es dorthin getan haben. Aber warum?

Wieder war Dunkelheit, Nässe und Wärme um sie herum. Wieder war sie in Fäden eingesponnen. Die eine Hand hatte Kontakt mit Corry. Die andere... die andere bewegte sich jetzt auch, ebenso gebunden wie die erste. Aber sie bewegte sich. Und sie fand eine weitere. Kleiner als die eigene, aber keine Frauenhand. Ein paar der Fingernägel abgekaut. Sie zuckte beim ersten Kontakt zusammen, krallte sich dann aber in die eine Hand, als bräuchte sie etwas, um sich festhalten zu können. Wie ein kleines Kind nach der Hand der Mutter greifen würde. Es war Boo.

Elaine merkte, dass sie auf dem Boden lag, und das Boo besorgt Luft in ihre Richtung fächerte. „Verflucht, Ellie, was ist los mit dir? Wieso bist du umgekippt?“

Benommen sah sie ihn, aber sie sah jemand anderen als Boo. Er hatte sich lediglich ein paar Dinge von Boo ausgeliehen. Die Kleidung, die Frisur, ein paar Verhaltensregeln. Aber es war nicht Boo, sondern der einfallslose Narr, der sich nicht einmal einen Namen hatte geben können, als sie ausgezogen waren, um den Hof an der Nase herumzuführen. Irgendetwas war in der Tat gewaltig schief gelaufen.

„Ich... mir ist nur für einen Augenblick schwarz vor Augen geworden, Boo. Ich glaube... das könnte an den Tabletten liegen, die ich genommen hab’. Gestern im Bad ging es mir ähnlich.“

Er musterte sie: „Gestern warst du müde, jetzt warst du ohnmächtig. Dann wiederum, so wie du geschlafen hast... muss wohl so sein. Vielleicht hättest du'ne höhere Dosis nehmen sollen?“

Sie nickte. Vielleicht hätte sie das, aber sie war sich sicher, dass es nicht daran lag. Ihre Freunde waren gefangen, und sie riefen um Hilfe. Sie würde den Teufel tun und irgend etwas schlucken, das diese Hilferufe verstummen ließ.

Wie war Boo ins Netz geraten? War es das dynamische Duo, das sich ihn geschnappt hatte? Das schien die wahrscheinlichste Alternative zu sein. Und vermutlich war er nicht erst seit gestern in der Tiefe gefangen. Sie war also bereits vom Doppelgänger hier in der Hauptstadt empfangen worden. Kein Wunder, dass er ihr einreden wollte, dass alles in bester Ordnung war. Er hatte schließlich wie schon zwei zuvor das Leben von jemand anderem gestohlen. Na warte, Freundchen!

Der Doppelgänger half ihr hoch. Offensichtlich hatte er nicht gemerkt, was in ihrem Kopf vor sich ging. Das war auch gut so. Und es war ein weiterer Hinweis. Boo hätte es gemerkt. Nach seiner Lehrzeit am Hof hätte er es sicherlich gemerkt. Vielleicht musste er deswegen beseitigt werden, weil er auch früher oder später bemerkt hätte, dass man seine Freunde ausgetauscht hatte. Und sei es nur wegen seinem Glück!

Ob der Narr auch Glück hatte? Als er noch Boos Körper in Besitz hatte, dann vielleicht. Jetzt mir Sicherheit nicht mehr. Er war kein Ausländer, so viel stand fest.

Ihr kam eine Idee. „Du sagst, ich treffe Leo und Siren im Humptys?“

Er nickte: „Ja. Von mir aus können wir da gleich hin.“

„Okay. Mir ist noch etwas eingefallen. Ich brauche was aus Corrys Zimmer.“

Er zog eine Augenbraue hoch: „Okay. Ich hab’ ihren Schlüssel.“

Er öffnete ihr das Zimmer, das so verwaist aussah wie Elaine es erwartet hätte. „Ich weiß nicht mehr so genau, wo ich das Teil gesehen hab’. Hilfst du mir suchen?“

Er kam ins Zimmer: „Klar. Wie sieht es aus?“

Elaine warf einen Blick in den Spiegel, in dem sie schon einmal die Tiefe gesehen hatte. Ihr Spiegelbild grinste sie so hinterhältig und zugleich unschuldig an, wie sie es von ihrem letzten Besuch in der Hauptstadt in Erinnerung hatte, und nickte ihr zu. Sie konnte darauf zählen.

Elaine sah zum falschen Boo: „Machst du bitte die Tür zu, Süßer?“

Er blinzelte erstaunt, tat aber was sie wollte: „Was... was wird das?“

Sie schmunzelte: „Weißt du... ich hab’ hier was gelernt. Chancen sollte man sich nicht entgehen lassen.“

Er sah sie immer noch fragend an.

Sie kicherte: „Ach komm schon Boo, glaubst du, ich habe vergessen, was du alles gelernt hast? Wenn das Massieren der Schultern schon so gut war, wie sieht es dann mit allem anderen aus?“

Jetzt verstand er. Ein Grinsen kam über sein Gesicht: „Sag doch gleich, was du willst. Und wieso hier?“

Elaine schmunzelte: „Wegen der Schwingungen. Das Zimmer ist sexy, findest du nicht?“

Er sah sich um: „Wenn du meinst. Das Bett hat was.“

Elaine grinste: „Ich meinte vor allem den Spiegel.“

Sein Grinsen wurde breiter: „So eine bist du also. Was alles hinter der braven Fassade steckt. Oder hat dich der Graf auf den Geschmack gebracht?“

Sie stellte sich nur vor den Spiegel und lockte ihn mit dem Finger an. Er kam auf sie zu. Sie zog ihn an sich und bemerkte eindeutig, dass es nicht Boo war. Selbst in der Zeit, in der er um den Schein zu wahren alles darum gab, sie zu kriegen, fühlte er sich anders an. Es war nicht Boo. Eindeutig nicht. Und Elaine tat das, was sie als nächstes tat, überhaupt nicht leid.

Sie wand sich aus seiner Umarmung, gerade als er ihr einen Kuss aufdrücken wollte, und stieß ihn gegen den Spiegel. Er sah sie mit einer Mischung aus Überraschung und Wut auf seinem Gesicht an, als ein weiteres Paar Arme sich um seinen Körper legte und ihn in den Spiegel zog. Er klammerte sich an den massiven, im Jugendstil gearbeiteten Metallrahmen, aber der Zug an ihm war stärker. Es ging nur um Willenskraft.

„Du Schlampe! Ich bringe dich um! Ich bringe dich um!“, hörte sie ihn noch schreien, bevor auch sein Gesicht hinter dem Glas verschwand.

Fasziniert und entsetzt zugleich sah Elaine, wie ihr spiegelbildlicher Zwilling ihren falschen Freund auf das Bett stieß. Er war gefangen in ihrem Blick, wie das Kaninchen vor der Schlange. Woher auch immer sie es wusste, plötzlich hatte das Spiegelbild Seile in den Händen. Sie verschnürte Boo so professionell, dass Elaine Gänsehaut beim Zusehen bekam. War das auch etwas, das in ihr selbst schlummerte, oder lag das alles nur daran, dass dies der Spiegel von Corry war?

Elaine kam der Gedanke in den Kopf, dass sie diesem Zwilling einen Namen geben sollte. Vielleicht könnte sie nun ein Spielchen mit ihrem Nachnamen machen. Aus Ellis wird Alice. Alice hinter dem Spiegel. Elaine schmunzelte. Alice warf ihr eine Kusshand zu. Anscheinend gefiel ihr der Name.

Elaine schmunzelte. „Wirst du auf diesen Mistkerl aufpassen, solange ich weg bin?“, fragte sie mit ihren Lippen. „Mach dir keine Sorgen, Schatz. Er ist gut verschnürt“, antwortete sie ebenso.

„Schau mal, ob er irgendwo die Schlüssel zu der Wohnung bei sich hat.“

Alice nickte und durchsuchte den Gefesselten unsanft. Dann flog ein Schlüsselbund durch das Glas in Elaines Hände.

„Sperr bitte ab, wenn du gehst, Ellie. Nicht, dass jemand hier rein kommt, der nicht sollte. Du musst das Schloss versiegeln, damit niemand falsches hier Eintritt bekommt.“

Elaine nickte. Sie wollte nicht wissen, was Ivanas oder ihr Spiegelbild anstellen könnten. Corry würde sie vermutlich nicht abhalten können, aber Corry war nicht da. Sie nickte Alice noch einmal zu und verließ das Zimmer, ohne auf die stummen Schreie des Narren zu achten. Der Schlüssel drehte sich bis zum Anschlag im Schloss zum Zimmer, dann im Schloss zur Eingangstür. Jede Drehung wurde von Elaine mit einem Gedanken versehen. Kein ungebetener Gast würde sich zu diesen Räumen Zutritt mehr verschaffen. Und schon gar nicht jemand, der das Leben anderer stahl.

Sie machte sich auf den Weg nach unten, diesmal ganz normal über die Treppe. Sie musste niemandem mehr beweisen, was sie konnte. Laufen machte ihr Spaß. Sie wünschte nur, sie könnte jetzt wie an ihrem ersten Abend in der Hauptstadt mit Boo und Leo zusammen in die Kneipe losziehen. Doch dazu würde es erst einmal nicht kommen. Sie musste nach Leo sehen. Sie musste sicherstellen, dass wenigstens er in Ordnung war. Selbst wenn er wusste, dass mit seinen Freunden etwas nicht stimmte, er hätte nichts riskiert. Er hatte eine Familie für die er sorgte und um die er sich sorgte. Er würde vorsichtiger vorgehen – und vielleicht war er noch er selbst.

Auf dem Weg nach unten ging sie noch einmal den Inhalt der Taschen durch. Schlüssel in der Jeans. Füller von Irony, Leos Köder und die Murmel von Boo in der Innentasche der Lederjacke. Nur das Fotoalbum hatte sie nicht bei sich, aber das brauchte sie hier nicht. Sie erinnerte sich an jedes Detail als wäre alles erst gestern passiert. Und außerdem hatte sie eine der Rabenfedern in einer Tasche gefunden. Eine der Federn, die sie sich auf der Jagd nach Corry eingesteckt hatte.

Sie stand auf der Straße und sah sich um. Es regnete wieder – oder immer noch, das wusste sie nicht – aber nicht mehr so stark wie bei ihrer Ankunft. Nieselregen war nicht schlimm, und der Wind hatte auch nachgelassen. Sie fragte sich, wie das Waldviertel inzwischen aussah. Oder was aus dem Dschungel geworden war. Man schien beim Aufbau wenig verändert zu haben, obwohl sie den Prinzen sehr progressiv erlebt hatte.

Immerhin hatte die Sache auch etwas Gutes. Sie würde keine Karte brauchen, um zum Humpty Dumpty zu kommen, darin war sie sich sicher. Sie war schon oft genug dort gewesen. Sie fragte sich, wie der Laden sich unter Leos Führung machte. Oder war das alles ein Riesenschwindel? Dann wiederum, sie hatte bisher keinen Hinweis darauf bekommen, dass Leo in der Tiefe war wie die anderen. Zumindest bei der Maskerade letztes Mal hatte er sich gut raushalten können. Vielleicht hörte er auch diesmal auf seinen Instinkt.

Ihre Füße trugen sie wie selbstverständlich zur Kneipe. Hätte sie nicht gegrübelt während sie ging, dann hätte sie gemerkt, dass sie gelaufen war und mit ihrer Geschwindigkeit problemlos mit der Straßenbahn mithalten konnte. Ihr wäre auch aufgefallen, dass sich auch ansonsten wenig auf den Straßen verändert hatte. Sie waren noch immer von grauen Anzugträgern beherrscht, von Behördendrohnen, nicht von Menschen. Als ob es gar keine normalen Leute gab. Oder nahmen sie alle andere Wege?

Elaine erwartete nicht, dass um diese Zeit im Humpty Dumpty viel los sein würde. Sie rechnete vielmehr damit, dass nur ein paar wenige Stammgäste da sein würden, vielleicht um zu frühstücken, oder einfach nur um mit Leo oder Siren zu reden. Sie war jedoch überrascht, die gähnende Leere vorzufinden, die ihr still entgegenschlug, als sie die Tür öffnete. Die Kneipe wirkte wie ausgestorben. Elaine ging leise rein und schloss hinter sich die Tür.

Die Kneipe sah so aus wie früher. Nur war sie wesentlich sauberer als zuvor. Immerhin ein Fortschritt. Auch wenn es die Leute früher nie gestört hatte, wenn dem nicht so war. Dann wiederum, wenn Leo das Gästezimmer so penibel sauber gehalten hatte, wie hätte es anders sein sollen? Sie ging leise zwischen den Tischen durch zum privaten Bereich. Je näher sie der Tür kam, umso klarer wurde ihr, dass dahinter jemand war. Ein Mann und eine Frau. Sie stritten sich. Und ihre Stimmen gehörten eindeutig Leo und Siren.

Sie stritten sich sehr laut, das wurde ihr klar. Die Tür sah wie ein guter Schalldämpfer aus. Dennoch waren sie gut zu hören als Elaine stehen blieb und zögerte, die Hand auf die Türklinke zu legen. Sie war sich sicher, dass diese Tür nicht abgeschlossen war. Trotzdem wollte sie nicht mitten in einen Ehestreit platzen. Statt dessen lauschte sie wie gebannt. Dass sich Eheleute zankten, das kam schon mal vor. Auch dass dabei Geschirr zu Bruch ging. Siren war sicherlich nicht temperamentlos. Wenn Leo die Beherrschung verlor, dann wäre Elaine sicherlich die letzte, die zur Zielscheibe seines Zorns werden wollte. Aber normalerweise verlor Leo nicht die Beherrschung. Nicht so.

Elaine hielt den Atem an, als sie Sirens Schmerzensschrei hörte. Leo schlug seine Frau?! Sie riss die Tür auf und eilte schnellen Schrittes auf die Laute zu. Die dunklen Gänge führten sie recht bald in die Küche. Ja, es war einiges an Geschirr zu Bruch gegangen. Aber nicht nur das. Elaine erstarrte. Siren lag auf dem Boden und versuchte gerade, sich aufzurichten. Über ihr stand Leo, mit vor Wut verzerrtem Gesicht. Er war nicht wiederzuerkennen.

„Leo, was machst du da?!“, rief Elaine schließlich aus, als sie endlich sprechen konnte.

Er drehte sich zu ihr um und für einen Augenblick dachte Elaine, dass er nun auch auf sie losgehen würde. Doch plötzlich war sein Gesicht mit einem freudigen Lächeln erhellt. Elaine fragte sich für einen Augenblick, ob sie tatsächlich das gesehen hatte, was sie zu sehen dachte.

„Ellie! Was für eine Überraschung! Ich wollte Siren gerade aufhelfen, sie ist ausgerutscht. Vorsicht, der Boden ist glatt! Dummes Spülwasser.“

Leo ging zur Tür und zwang Elaine regelrecht auf den Gang hinaus. Hinter seinem großen Körper konnte sie nicht mehr erkennen, wie es Siren ging. Dann umarmte er sie zur Begrüßung, ähnlich fest wie immer, und da erhaschte Elaine einen Blick auf Siren. Sie hatte sich aufgerappelt, hielt sich aber an einem Tisch fest. Sie war so blass wie damals, als sie unrechtmäßig von Agenten abgeführt wurde. Allerdings hatte sie ein Veilchen im Gesicht. Das hatten sich Cerebros Leute damals nicht erlaubt. Sie hatte dunkle Augenringe und rote, verweinte Augen. Sie sah irgendwie nicht mehr so schön aus wie früher, und wirkte deutlich älter.

„Das ist nicht mein Mann!“, sagte ihr Blick.

Leo ließ Elaine wieder auf den Boden zurück – Leo oder Bill? Elaine war sich nicht mehr sicher. „Also, Ellie, sag an, was machst du hier? Es gibt doch nicht etwa wieder irgendwelche Schwierigkeiten, oder?“

Elaine lächelte so unverfänglich wie sie nur konnte, und das hatte sie am Hofe sehr gut gelernt: „Na ja, ich denke schon. Corry und Irony haben ein Problem.“

Er zog eine Augenbraue hoch: „Die beiden? Na, das muss etwas großes sein, wenn sie nach dir rufen. Ich glaube, sie haben seit dem Aufbau von niemandem Hilfe gebraucht. Und wieso bist du dann hier? Ziehen wir wieder zu fünft los? Wo steckt Boo?“

Elaine grinste: „Den habe ich schon getroffen, keine Sorge. Was meinst du, wo ich übernachtet hab’? Jedenfalls, er wartet noch in der Wohnung. Und er hat mir empfohlen, bei dir reinzuschauen, zum Tee oder so. Er hat mir erzählt, Siren macht wunderbares Gebäck. Apropos, diesbezüglich wollte ich mit ihr sprechen. Du weißt schon, Frauendinge“, sie zwinkerte Leo zu.

Er grinste: „Rezepte tauschen, was? Von mir aus. Ich setzte dann solange den Tee auf. Siren!“

Wenn das nicht nach einem Kommando geklungen hatte, dann wusste Elaine nicht, was der Ausruf sein konnte. Siren war aufs Wort bei ihnen.

„Schatz, Ellie wollte dich etwas wegen deiner Rezepte fragen. Ich mach uns einen Tee.“ Sein Blick fügte dem noch etwas anderes hinzu: „Halt ja deinen Mund, sonst bringe ich dich um.“

Siren hatte ihn gut verstanden, Elaine jedoch ebenso. Er begab sich wieder in die Küche und ließ sie allein.

„Gehen wir in die Kneipe zurück?“, fragte Elaine leise.

Siren nickte und huschte voran. Elaine folgte ihr. Siren deutete auf einen Tisch und sie nahmen Platz.

Elaine sah sie ernst an und flüsterte: „Keine Angst, Siren, ich bin genau wegen diesem Problem hier. Boo ist ausgetauscht worden, Corry und Irony auch. Und wie es scheint, hast du recht. Ich glaube nicht, dass Leo sich jemals so benommen hätte. Wann hat es angefangen? Wie lange geht das schon? Wie geht es Rick? Du kannst mir lautlos antworten, ich kann Lippenlesen.“

Siren atmete erleichtert auf und dann bewegten sich ihre Lippen so schnell, dass Elaine kaum mitkam: „Es war noch in der Zeit des Wiederaufbaus. Wir dachten zuerst nur, dass er abgespannt ist. Er war den ganzen Tag mit seinen Freunden und den Agenten unterwegs, um die letzten Kreaturen hier oben auszurotten. Aber dann, als alles zur Ruhe kam, ging es weiter. Es wurde sogar schlimmer. Mir fehlen ein paar Zähne, und Rick ebenso. Wir hatten schon unsere Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen. Und im Bett... frag mich bitte nicht danach. Es ist grauenvoll. Das ist nicht mein Mann.“

Wie zur Bestätigung war Elaine wieder von süßlicher, warmer, nasser Dunkelheit und Spinnenfäden umgeben. Etwas war anders. Dann merkte sie es. Sie war nicht mehr an Ironys Stelle, sondern da wo Corry war. Sie hatte Ironys Hand schon lange erspürt, ihre Berührung war so sanft und liebevoll. Auf der anderen Seite kam eine große Männerhand dazu. Sie krallte sich fest in Corrys Hand, so fest wie es damals auf der Brücke sein musste, als unter ihnen das Wasser toste und Leo ihr aller Gewicht alleine hielt. Sie hörte ihn schluchzen, genauso leidvoll wie damals im Dschungel. Er wusste, was mit seiner Familie geschah.

„Nein, Leo, nicht! Sie ist plötzlich ohnmächtig geworden, ich schwöre es!“

Elaine kam anscheinend gerade rechtzeitig zu sich, um einen neuen Wutausbruch von Bill zu verhindern. Gendarme sorgten dafür, dass auf den Straßen der Stadt Zucht und Ordnung herrschten. Bill sorgte wohl auf seine Weise auch bei sich – oder besser, bei Leo – zu Hause dafür.

Sie stammelte: „Es... es ist alles okay. Mir ist nichts passiert. Es ist nichts besonderes, Leo. Nur die Nebenwirkung meiner Ankunft hier. Darum bin ich hier.“

Er ließ Siren stehen und drehte sich zu Elaine. Beide halfen ihr hoch, wieder auf ihren Stuhl.

„Erzähl,“ sagte er nur.

„Ich habe ein paar Tabletten genommen und bin eingeschlafen. Dann war ich hier. Boo hat mir erzählt, ich müsste etwas essen und trinken, das hier gemacht wurde. Darum bin ich hier. Damit Siren mir etwas von ihren Plätzchen macht.“ Elaine lächelte Siren zu.

Leo lachte: „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt! Der Tee ist zumindest schon fertig. Also, Schatz, du hast es gehört. An die Arbeit mit dir!“ Er gab Siren einen Klaps auf den Hintern, und sie verschwand wortlos im privaten Bereich.

Elaine warf ihr kurz einen besorgten Blick hinterher, aber mehr konnte sie sich nicht erlauben. Der Gendarm beobachtete sie. Zu ihrem Glück war er nicht so aufmerksam und einfühlsam wie Leo.

„Also... erzähl mal. Wie geht’s dir und der Familie? Wie läuft die Kneipe? Was macht der Dschungel eigentlich? Hat man den wieder aufgebaut, oder ist da jetzt was anderes?“ Ein paar der Fragen wollte Elaine tatsächlich beantwortet haben und glaubte nicht, dass er sie in der Hinsicht belügen müsste. Bei anderen wollte sie seine Version der Geschichte hören, sei es nur als einen weiteren Hinweis auf seine Schuld.

Er lehnte sich zurück: „Uns geht’s prima. Rick ist bald aus der Schule raus. Seine Freundin will zu den Agenten, ich glaube, er wollte auch irgend etwas in der Richtung machen. All’ die Heldengeschichten von seinem Vater haben wohl Eindruck bei ihm gemacht.“ Er zwinkerte Elaine zu. „Die Kneipe macht sich ganz gut, wir haben'ne neue Band, und Siren singt – sie ist unser Star hier. Läuft prima.“

Dann nahm er einen Schluck Tee: „Nun, ansonsten... den Dschungel gibt’s wieder, ja.“ Er seufzte. „Ich glaube, den werden wir nicht eher los, als es bei euch keine Armen mehr gibt.“

Elaine nickte. Etwas in der Art hatte der Graf ihr auch mal erzählt. Der Graf. Sie sah zu Leos Doppelgänger: „Boo hat mit erzählt... der Graf ist im Krieg gefallen. Weißt du vielleicht näheres darüber?“

Sein Gesicht verfinsterte sich: „Nein, tut mir leid. Ich war ganz woanders zu der Zeit. Ansonsten wäre er auch nicht gestorben.“

„Und von wem kam der Befehl, was dich anging?“

Er sah sie verwirrt an: „Von wem? Du stellst Fragen. Ich glaube, es war Corry, aber es hätte ebenso gut auch Mens sein können. Vielleicht sogar der Graf selbst. Keine Ahnung.“

Elaine glaube aber, dass er es sehr wohl wusste. Der erste Name der gefallen war, musste der Richtige sein – vorausgesetzt, man beachtete, dass Corry zu dem Zeitpunkt nicht mehr Corry, sondern Ivana war. Elaine nickte trotzdem, und nahm einen Schluck Tee. Sie achtete darauf, ob in dieser Tasse irgendetwas drin war. Nein, alles in bester Ordnung. Entweder hatte er nicht genug Zeit gehabt, um eine besondere Überraschung für sie vorzubereiten, oder aber, es gab andere Gründe. Aber vielleicht war es auch einfach nicht seine Art. Vermutlich würde er ihr einfach den Schädel einschlagen wollen.

„Aber sag mal – wenn du dich hier gestärkt hast – treffen wir dann die anderen irgendwo oder wie sieht es aus?“

Elaine nickte: „Ja, so ist es. Wir treffen uns in der Wohnung.“

Er grinste und nickte jetzt auch: „Klar, macht Sinn. Von dort aus sind wir schließlich alle zusammen aufgebrochen.“

Elaine lächelte: „Ja, genau darum. Boo wartet sicherlich schon sehr gespannt.“

Dabei dachte sie sich, dass der Narr tatsächlich gespannt auf sie wartete, um irgendwie wieder loszukommen und sie umzubringen, wie er es angedroht hatte. Sie hoffte, dass Alice in der Lage war, auch mit Bill fertig zu werden. Sonst hatte sie ein Problem.

Sie erinnerte sich nur zu gut an einen Satz von Boo: „Zusammen wären wir dir über, weißt du?“ Für ihre vier Freunde stimmte dieser Ausspruch sicherlich. Für die vier Doppelgänger könnte er jedoch auch wahr sein. Sie wollte es auf jeden Fall nicht herausfinden.

Zumindest war sie froh, in ihrer Zeit als Comtessa am Hofe gelernt zu haben, sinnlosen Smalltalk zu führen. Sie bemerkte schnell, dass Bill ihr nichts wirklich wichtiges erzählen würde, zumal er wie von früher bekannt ohnehin sehr schweigsam war. Auf der anderen Seite hatte sie auch nicht vor, ihm etwas von Bedeutung mitzuteilen. Also blieb es bei Belanglosigkeiten bis Siren wieder zu ihnen zurückkam, mit einem riesigen Teller voller Teegebäck. Sie stellte den Teller in die Mitte des Tisches und setzte sich zu ihnen, zur Linken von Bill, nicht zu nahe, nicht zu weit von ihm weg. Sie versuchte so gut es ging, sich so zu verhalten wie immer. Wie immer bedeutete in diesem Fall, dass sie versuche, möglichst unauffällig zu sein.

Bill bemerkte ihre Anwesenheit kaum: „Ah, das Gebäck ist fertig. Greif ruhig zu, Ellie, wie du siehst, ist genug da.“

Elaine lächelte ihm nichtssagend zu und nahm ein Stück. Der Narr hatte recht, es war köstlich. Wäre nur nicht die salzige Spur darin. Bill griff ebenfalls danach und aß. Er nickte anerkennend, aber mehr war von ihm nicht zu hören. Wiederum hätte Elaine mehr von ihm erwartet, wenn es denn wirklich Leo gewesen wäre. Er sparte nicht an Komplimenten, schon gar nicht, wenn es um seine geliebte Frau ging. Er bemerkte den salzigen Beigeschmack offensichtlich nicht. Siren hatte rote Augen. Hatte sie geweint? Waren es ihre Tränen, die Elaine da rausschmeckte? Der Gedanke wunderte sie nicht. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass dem genauso war.

Sie hoffte, sie würde Rick nicht eher sehen, als bis sie den Gendarm aus dem Verkehr gezogen hatte. Entweder war der Junge völlig am Ende, oder er würde auf Bill losgehen. Beides konnte sie im Moment nicht gebrauchen. Sie wollte lieber noch etwas sitzen bleiben. Stille breitete sich erneut im Raum aus. Bill sagte nichts, solange Elaine ihn nicht fragte. Siren wagte offensichtlich nicht, etwas zu sagen, und Elaine wollte nicht mit vollem Mund sprechen – auf der anderen Seite gab ihr das Essen auch eine wunderbare Möglichkeit zu schweigen. Von Siren hatte sie bereits alles erfahren, was sie wissen wollte. Ihr verändertes Verhalten sprach Bände. Bill hatte sie nichts mehr zu sagen.

Sie aß so viel sie konnte, leerte ihre Tasse und stand auf: „Also, Leo, ich bin soweit, wenn du soweit bist. Danke noch mal für das Gebäck, Siren. Es war wunderbar. Sonst hätte ich sicherlich nicht so viel gegessen“, sie zwinkerte ihr zu.

Siren lächelte schwach zurück: „Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat.“ Ihr Blick flehte sie an, ihr zu helfen.

Elaine nickte: „Ja, das hat es.“

Sie hoffte, dass Siren verstanden hatte, das sie genau das vorhatte.

Bill stand ebenfalls auf: „Von mir aus können wir los. Wir wollen Boo nicht noch länger warten lassen.“

Er warf Siren einen Blick zu, der nur als bedrohlich zu interpretieren war: „Halte hier die Stellung, Süße. Ich bin sicherlich bald wieder da.“

„Und dass mir ja nichts komisches hier läuft!“, ergänzte Elaine in ihren Kopf. Es war schlimmer, als sie erwartet hatte. Sie fragte sich, was Bill mit Siren anstellen würde wenn sie ihn zurückkommen ließ. Sie wollte es niemals erfahren.

Sie standen wieder auf der Straße. Es nieselte weiterhin. Wenigstens war die Luft frisch und kühl. Allein der Gedanke an die Luft in der Tiefe, von der sie womöglich noch ein paar Kostproben bekommen würde, war unerträglich.

„Also gut, auf zum Treffen“, murmelte sie. Er nickte und sie gingen los. Wiederum schwiegen sie sich an. Wäre es Leo gewesen, hätte ihr das Schweigen nichts ausgemacht, auch wenn sie sicherlich genug Themen gefunden hätten, über die sie sich hätten unterhalten können. In diesem Fall war das Schweigen sicherlich eine bessere Alternative als eine einseitige, sinnlose Unterhaltung, aber nur das kleinere der beiden Übel. Elaine befürchtete jedes Mal, wenn sie zu sprechen ansetzte, sich aus Versehen zu verplappern. Sie wollte den Kerl so schnell wie möglich loswerden.

Sie kamen am Haus an, gingen die Treppen rauf und standen vor der Wohnung. Sie ließ sich problemlos aufsperren. Darüber war Elaine sehr erleichtert. Bill zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Sie traten ein.

„Wir wollten uns in Corrys Zimmer setzen. Das hat die dicksten Wände, wenn mich nicht alles täuscht“, Elaine flüsterte beinahe.

Er nickte erneut. Elaine ging zur Tür und klopfte: „Boo? Machst du auf?“ Sie hoffte, dass diese Geräusche das Drehen des Schlüssels im Schloss überdecken würden. Ob Bill nun etwas gehört hatte oder nicht, er ließ sich nichts anmerken. Elaine war mulmig zumute. Die Tür öffnete sich von innen. War es Alice? Oder hatte es einfach nur mit einem Wunsch geklappt?

Elaine trat beiseite und sah zu Bill. Er grinste nur: „Oh nein. Ladies first.“

Elaine lächelte, nickte, und trat ein. Es war so dunkel wie vorher, als sie das Zimmer verlassen hatte. Der Spiegel war leer. Ein kalter Schauer lief über ihren Körper. Dann sah sie Alice, als sie weiter hineinging. Ihr war nichts anzumerken.

„Wo ist er?“, fragte sie ihr Spiegelbild mit ihren Lippen.

Alice sah schuldbewusst aus: „Ich weiß nicht, wie er sich rauswinden konnte... er ist durch die Tür in die Tiefe verschwunden.“

Bill betrat das Zimmer. Selbstverständlich sah er weder Boo, noch den Narren. Er schloss die Tür hinter sich und sein Blick legte sich schwer auf Elaine. Sie erwiderte den Blick mit einem Pokerface.

„Willst du mir sagen, was Sache ist, oder soll ich es aus dir rausprügeln?“

Sie zog eine Augenbraue hoch: „Das ist ein Scherz, oder?“

„Ich sehe hier niemanden außer dir. Also, entweder soll das eine Geburtstagsüberraschung werden – aber ich habe heute nicht meinen Geburtstag – oder du willst mich reinlegen. Das ist deine letzte Chance.“

„Komm näher, dann sage ich es dir. Die Lage ist ernst.“

Er ging langsam auf sie zu: „Das weiß ich selbst. Kein Träumer ist ohne Grund hier. Man hat dich nicht geholt, richtig? Du bist von alleine gekommen. Darum wolltest du was essen. Fein, jetzt sitzt du hier solange fest, bis dich jemand gehen lässt. Ich werde es nicht sein.“ Er wurde auf einmal richtig gesprächig. Elaine wich instinktiv ein paar Schritte zurück.

Er blieb weniger als eine Armlänge vor ihr entfernt stehen, als sie nur noch die Wand in ihrem Rücken hatte. „Wo ist Boo?“

Elaine sah ihn an: „Er ist in der Tiefe. Er sollte wieder hier auftauchen, aber bisher hat er es nicht geschafft.“

Bill lachte, wollte ihr aber nicht sagen, warum. Dann schnellten seine Arme nach vorne, um sie zu fassen.

Leos Größe und übliche Behäbigkeit hatte schon viele darüber hinweggetäuscht, wie schnell er sein konnte. Ihm hätte sie nicht ausweichen können. Bill jedoch war nicht Leo, und Elaine war zu dem Zeitpunkt in höchster Alarmbereitschaft. Sie duckte sich unter seinem Griff hinweg und schubste ihn zum Spiegel, zu Alice, deren Grinsen sich beinahe mit dem von Corry messen ließ.

Bill erwischte Elaine an den Haaren und riss sie mit. Tränen schossen ihr in die Augen, sie schrie auf. Seine Hände legten sich um ihren Hals und begannen zu drücken. Wollte er sie umbringen? Oder würde er sich damit begnügen, dass sie ohnmächtig wurde? Elaine wollte es nicht herausfinden. Mit aller Kraft schob sie ihn gegen den Spiegel.

Er schrie überrascht auf, als er eiskalte Hände mit viel zu spitzen Fingernägeln auf seinem Gesicht spürte. Die Finger bohrten sich in seine Augen und dann brüllte er vor Schmerz. Er ließ Elaine los, griff nach der anderen, die ihn von hinten überrascht hatte, und versuchte, ihre Hände aus seinem Gesicht zu bekommen. Inzwischen floss schwarzes Blut über seine Wangen. Schwarzes Blut wie das der Kreatur, die sie damals in der Tiefe erlegt hatten, bevor sie ihren Geschwistern Namen geben konnte.

Elaine schnappte nach Luft, hörte aber nicht auf, den Gendarmen gegen den Spiegel zu schieben. Nach und nach tauchte er in das Glas ein und kam auf der anderen Seite hervor. Alice hatte sich so tief in sein Gesicht gekrallt, dass er es sich vermutlich abreißen würde, würde er ihre Hände abbekommen.

Die Tür zum Zimmer schwang auf und in ihr stand der Narr, mit einem vor Hass verzerrten Gesicht. Jetzt würde ihn niemand mehr niedlich nennen. Ohne ein Wort zu sagen stürzte er sich auf Elaine, riss sie von Bill los und beide fielen auf den Boden. Vor langer Zeit hatte sie versucht, Boo vom Narren zu befreien, indem sie das Kostüm vom Körper des Jungen zerrte. Jetzt drehte er den Spieß offensichtlich um, wenn auch aus anderen Gründen. Sie wand sich unter ihm, konnte ihn jedoch nicht davon abhalten. Aber darum ging es ihr auch nicht. Sie versuchte, den Füller von Irony zu greifen – und das gelang ihr.

Während Alice immer noch an Bill zerrte, bohrte Elaine den Füller unter das Kinn des Narren. „Du hörst sofort damit auf, oder ich schwöre, ich jage dir dieses Ding durch dein mickriges Gehirn.“

Seine Augen waren noch immer hasserfüllt, aber er gehorchte. „Und jetzt runter von mir, du Ekel. Ein wenig plötzlich!“

Er ließ von ihr ab.

„In die Ecke!“

Der Narr ging Schritt für Schritt zurück.

Der Füller in Elaines Hand begann zu leuchten und streckte sich zu einem dünnen Degen. Der Narr stand still.

Elaine hatte ihn immer noch mit ihrem Blick fixiert, half nun aber ihrem Spiegelbild. Es war nicht so einfach, Bill zu bewegen, aber schließlich war er ganz drin. Alice schlug seinen Kopf mit aller Wucht gegen den Schreibtisch. Er hörte auf zu zappeln und wurde still. Sie griff nach den Seilen.

„Dieses Mal werde ich aufpassen, dass die Knoten halten. Und vermutlich werde ich wesentlich mehr Seile brauchen“, bemerkte sie lautlos.

Elaine wandte sich wieder dem Narren zu: „Ich weiß nicht, ob du nicht auch ein wenig Glück hast, aber eins verspreche ich dir. Noch so eine Aktion, und ich bringe dich um. Also tu dir selbst einen Gefallen, und lass dich fesseln.“

Er gab es auf und ließ sich ohne Widerstand in den Spiegel stoßen und erneut von Alice verschnüren, dieses Mal fester als vorher. Elaine atmete tief durch und der Degen wurde erneut zu einem Füller, den sie sich einsteckte.

Sie sah an sich herunter: Ein Teil ihrer Kleidung war zerrissen – aber das war nichts, was sich nicht mit einem Gedanken reparieren ließe. Vermutlich könnte sie auch blaue Flecken und Würgespuren damit beseitigen. Das hoffte sie zumindest. Sie griff sich an den Hals, als ob sie spüren könnte, ob inzwischen etwas darauf zu sehen war. Dann sah sie erneut zu Alice. An ihr war nichts festzustellen. Vielleicht hatte sie Glück.

„Weißt du, wo ich die anderen beiden finde?“, fragte sie ihr Spiegelbild.

Alice zuckte mit den Schultern: „Nein. Aber wenn du Pech hast, werden sie dich finden. Mit etwas Glück nur einer von ihnen. Und wenn du richtig viel Glück hast, dann wird er es zuerst sein.“

Elaine seufzte: „Waren die beiden nicht immer zu zweit unterwegs?“

Alice setzte ein Grinsen auf: „Normalerweise schon. Aber ich bin mir sicher, dass dir etwas einfällt, womit du sie trennen kannst.“

Elaine war sich dessen zwar im Augenblick nicht sicher, aber sie nickte trotzdem. Vielleicht würde ihr wirklich etwas einfallen. Aber zuerst wollte sie bei Siren vorbeigehen und sie beruhigen.

„Sag mal, Alice, kannst du die Tür zur Tiefe schließen, wenn ich dir die Schlüssel gebe?“, fragte sie. Alice überlegte kurz, und nickte dann. „Gut, dann mach das. Ich werde für die Siegel sorgen. Ich will nicht, dass einer von ihnen oder gar beide erneut rauskommen.“

Alice wirkte nachdenklich: „Ich weiß nicht, ob das mit Sicherheit hilft, aber einen Versuch ist es wert. Gib her.“

Elaine reichte ihr die Schlüssel, das Spiegelbild sperrte ab, und reichte ihr den Bund durch das Glas zurück.

„Warum denkst du, dass es nicht sicher ist?“

„Weil das hier die Tiefe ist, Ellie. Hier gibt es keine Sicherheit. Das weißt du sicherlich noch, oder?“

„Und was ist mit dir?“

Alice grinste: „Ich bin nur solange da, wie du hier bist, Schatz. Es ist sicherlich dumm, weil ich nicht Wache stehen kann – aber immerhin können sie mich so auch nicht umbringen.“

Das erklärte, wie der Narr entkommen konnte. „Dann solltest du vielleicht auch den anderen KO schlagen, damit er zumindest nicht so bald auf dumme Gedanken kommt.“

Alice grinste, griff nach dem Briefbeschwerer und schlug mit ihm gegen den Kopf des Narren. Er sackte zusammen.

„Noch eine wichtige Frage: Dem Narren traue ich so etwas nicht zu, er würde nur das Zimmer verwüsten, wenn er sich wieder befreien kann – aber könnte Bill nicht den Spiegel zerschlagen, solange niemand auf ihn aufpassen kann? Oder die Tür aufbrechen und in die Tiefe gehen?“

Alice überlegte kurz: „Sicherlich kann man den Spiegel zerschlagen – und sicherlich ist diese Tür nicht unzerstörbar. Allerdings hortet Corry weder hier, noch bei dir irgendwelche Waffen in ihrem Zimmer, das ist nicht ihr Stil. Also keine Äxte oder so etwas. Nicht einmal ein Messer. So etwas hat sie immer bei sich. Mit dem Narren gebe ich dir recht. Er ist ein Schlappschwanz. Bill dagegen... er könnte.“

Elaine ließ die Schultern hängen: „Dann macht das alles nur bedingt Sinn, oder?“

Alice hob die Hand: „Nun mal langsam. Erst einmal, ich habe sie wirklich gut verschnürt. Hab’ oft genug Corry zusehen können“, sie setzte ein wissendes und hinterlistiges Schmunzeln auf, „und dann ist da noch was anderes. Diese Tür ist bisher noch nie von außen aufgebrochen worden. Und glaub’ mir, das haben schon genug Dinge versucht. Ich weiß nicht, wie es im umgekehrten Fall aussieht, aber sie sollte sehr gut halten können. Es ist nämlich einzigartige Meisterarbeit. Corry hatte mal einem Meister der Türen das Leben gerettet. Zu dumm, dass sie inzwischen dennoch ausgestorben zu sein scheinen...“

Elaine nickte: „Okay, so weit so gut. Was ist mit dem Spiegel?“

Alice grinste verschwörerisch: „Er ist ein Relikt aus alten Tagen. Und damit meine ich wirklich alt. Als Drachen und Einhörner noch so normal waren wie Schlangen und Pferde. Als die Hauptstadt noch ein Schloss war. Camelot, Camelot, was ist nur aus dir geworden...“ Alice sah zu Elaine, als ob sie ihre Reaktion abschätzen wollte.

Elaine war sich offensichtlich nicht sicher, ob ihr Spiegelbild die Wahrheit sagte oder nur einen Scherz machte, also zuckte sie nur mit den Schultern: „Gute Frage. Weiter im Text.“

Alice grinste: „Schön. Jedenfalls, alte Relikte voller Macht neigen dazu, sich selbst zu erhalten und sich ihre Besitzer selbst auszusuchen. Ich denke, etwas derartiges hast du sicherlich schon das ein oder andere Mal gehört. Denk an einen unscheinbaren, aber dennoch unglaublich begehrenswerten goldenen Ring. Du weißt schon, der Eine.“

Elaine rollte die Augen: „Schon gut, mach weiter.“

Alice grinste: „Fein. Früher gab es mehr von diesen wunderbaren Kostbarkeiten, aber sie gingen verloren, oder wurden tatsächlich vernichtet. Der hier könnte gut der letzte sein. Allerdings gibt es nicht viele Wege dazu. Und noch weniger für solche Leute wie die beiden“, Alice deutete mit dem Kopf zu den verschnürten Doppelgängern. „Corry könnte das sicherlich, wenn sie wollte. Irony auch. Auch wenn man es ihm nicht ansieht, als Barde sollte man über solche Dinge Bescheid wissen. Vom Königspaar brauchen wir nicht zu reden. Der eine oder andere Agent sicherlich auch. Dann wird die Anzahl der Kandidaten jedoch dramatisch klein. Ich denke, der Spiegel wird es überstehen.“

Elaine nickte erleichtert. „Und solange es den gibt, gibt es dich auch, habe ich recht?“

Alice schmunzelte und nickte.

„Auch so ein Punkt – warum hilfst du mir, wenn du eigentlich streng genommen zur Tiefe gehörst?“

Alice trat ganz nahe an die Spiegeloberfläche heran, die sie von Elaine trennte: „Ich bin dein Spiegelbild und dein Schatten, Schatz. Als solches wäre ich prädestiniert dazu, dich zu hassen, zu jagen, alle deine Mühen zu vereiteln und deinen Platz einnehmen zu wollen. Aber weißt du, ich bin nicht dumm. Ich weiß, was passiert, wenn so etwas unternommen wird. Ich würde dich töten und damit auch mich selbst. Ende der Geschichte. Ich brauche dich. Und du brauchst mich. Also helfe ich dir, und damit auch mir selbst.“

Elaine blinzelte ein paar Mal, dann nickte sie. Sie hatte ohnehin keine Liebesbekundungen erwartet. Und ihr war auch klar, dass sie im Moment für jede helfende Hand dankbar sein konnte. „So wie es klingt ist es zwar unangebracht, aber trotzdem danke.“

Alice grinste: „Jetzt werd’ hier nicht sentimental. Na los, du hast noch zu tun, schon vergessen? Und denk daran, abzusperren und zu versiegeln.“

Elaine nickte, winkte ihrem Spiegelbild zu und verließ das Zimmer.

Sie sperrte ab. Dann schlug ihr erneut der süßliche Geruch der Mutter in die Nase. Sie taumelte und ließ sich mit dem Rücken an der Wand auf den Boden gleiten. Erneut kam Dunkelheit über sie. Es war ein seltsames Gefühl, gleichzeitig vier paar Arme zu haben. Sie hielten sich an den Händen und bildeten eine Kette. Leo, Corry, Irony und Boo. Dies war ihr einziger Trost und ihre einzige Hoffnung.

Elaine erschauerte, als sie begriff, dass sie abwechselnd mit grauenhaften Alpträumen und berauschenden Phantasien mürbe gemacht werden sollten. Denn wenn ihr Wille gebrochen war, wären ihr Geist und ihre Körper Butter in den Händen der Mutter. Wie aus Knete würde sie aus diesen Vier etwas neues erschaffen, etwas, das ihren Wünschen besser entsprach als die widerspenstige Tochter, der freche Ausländer oder die beiden Ritter, die sich immer noch ihrer Umarmung erwehrten. Diese lebende Kette und Elaine waren alles, das sie noch vor dem Untergang rettete.

Die Vision ließ sie langsam los und Elaine stöhnte auf. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen. Langsam wurde es heller und sie sah erneut den Gang, der von einigen wenigen Teelichtern behelfsmäßig erleuchtet war. Aber es wurde noch heller. Die Teelichter entwickelten eine ungeahnte Helligkeit. Sehr schnell wurde es taghell in diesem Gang und Elaine war für einige Augenblicke geblendet. Dann konnte sie endlich erkennen, was um sie herum war – und erstarrte vor Angst.

Früher waren in schöner Schrift romantische und zauberhafte, wundersame und paradoxe Gedichte und Lieder auf diese Wände geschrieben, schimmernd silberne Farbe auf Schwarz. Manchmal waren auch Bilder dabei, von phantastischen Kreaturen oder wunderschönen Blumen. Jetzt sah sie etwas ganz anderes. Auf schmutzigem Graubraun waren Worte in Blut geschmiert. Sie waren obszön und grausam, wie die Worte, die überall in den Häusern der Tiefe standen. Eigentlich waren viele von ihnen gar keine richtigen Worte, aber Elaine verstand dennoch tief in ihrem Inneren, was damit gemeint war. Sie sollte sterben. Sie sollte grässliche Qualen erleiden, bevor sie starb. Und genau das würde passieren.

Elaine spürte, wie ihr Rücken nass wurde. Zähflüssige Nässe floss langsam hinter den Kragen ihrer Jacke. Doch sie war immer noch wie paralysiert.

„Willenskraft, Ellie“, hörte sie erneut Ironys Stimme im Kopf.

Sie biss die Zähne zusammen, rammte sich die Fingernägel in die Handflächen – und zwang sich dazu, aufzustehen und langsam in der Mitte des Ganges zur Tür zu gehen. Das Feuer fauchte sie an. Eine Wolke aus Funken schwebte durch die Luft und stach ihre Haut. Sie roch den Geruch ihrer angesengter Haare. Die Tür nach außen ging in Flammen auf. Elaine hielt für einen Augenblick inne, dann schloss sie die Augen, auch wenn sie große Angst davor hatte, dass etwas passieren könnte, während sie nicht hinsah.

Sie zwang sich zur Ruhe, obwohl es immer heißer wurde. Das konnte nicht passieren. Das durfte nicht passieren. Diese Wohnung war nicht die Tiefe. Sie konnte es nicht sein. Was auch immer gerade geschah, es sollte nicht sein. Es sollte nicht sein!

Das Licht und die Hitze ebbten ab. Elaine öffnete vorsichtig die Augen. Der Gang war so finster wie vorher. Sie ging an eine Wand, nahm das Teelicht aus der Nische, und sah sich die Wände genauer an. Das Blut war noch immer darauf, aber es machte ihr nicht mehr solche Angst wie vorher, nur unangenehme Gänsehaut. Elaine runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sie stellte das Teelicht wieder zurück. Sie war sich nicht sicher, was es sein konnte. Aber sie würde es sicherlich bald herausfinden.

Sie ging zur Tür, öffnete sie und trat aus der Wohnung hinaus. Die Teelichter verloschen nach einem Gedanken. Dann sperrte sie ab und versiegelte die Tür erneut. Schließlich griff sie sich an den Nacken. Er war immer noch nass. Im Dämmerlicht eines stark bewölkten Herbsttages sah sie, dass es Blut war. Sie schloss erneut die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit an. An sich machte ihr der Anblick von Blut nichts aus. Sie fiel nicht in Ohnmacht, bekam keine weichen Knie und musste sich auch nicht übergeben. In dieser Situation war es jedoch anders als sonst. Es war nicht ihr Blut, es war vermutlich nicht einmal richtiges Blut. Es war das Blut der Tiefe. Sie wollte es aus ihren Gedanken und von ihrem Körper verbannen – und nach etwa einer Minute gelang es ihr auch.

Sie sah aus dem Fenster des Treppenhauses. Es war zumindest außen nicht mehr so schmutzig wie innen. Wurden diese Fenster eigentlich jemals geputzt? Vermutlich einmal in einer Dekade, wenn nicht seltener. Dennoch war zu erkennen, dass der Nieselregen nicht aufgehört hatte. Elaine fragte sich, ob der Herbst in der Hauptstadt immer so aussah oder nicht. Es musste doch auch goldene Tage geben, oder? Sie seufzte: Offensichtlich nicht, solange sie da war. Die Stadt schien immer noch krank zu sein, obwohl sie und das ganze Land inzwischen einen König hatte.

In Gedanken ging Elaine die Treppe runter, immer weiter und weiter. Irgendwann blieb sie stehen und wunderte sich darüber, dass sie immer noch nicht unten angekommen war. Sie sah zur Tür, neben der sie stand und las erneut verwundert die Wohnungsnummer, von der aus sie aufgebrochen war. Sie war keinen Schritt nach unten gekommen.

Elaine stutzte. Irgend etwas kam ihr an der Situation bekannt vor. Sie wusste nur nicht, woher. Vermutlich aus einem der seltsamen Träume, von denen sie genügend im Lauf ihres Lebens gehabt hatte. Sie beschloss, auf die Wohnungsnummern zu achten. Mal sehen, ob sie tatsächlich im Kreis lief. Sie ging wieder nach unten – nur um festzustellen, dass sie bei jedem Stockwerk dieselbe Nummer las. Sie schüttelte den Kopf. Was sollte das?

Dann erinnerte sie sich an ein Bild aus dem Fotoalbum, das ihr einen Ausschnitt aus der Odyssee ihrer Freunde durch die Tiefe zeigte, während sie gemütlich in der Kutsche des Grafen auf das große Finale zugefahren war. Corry hatte Boo zur Schnecke gemacht, weil er in einem Treppenhaus eine Markierung gesetzt hatte.

Ihr war, als ob sie ihre Worte hören konnte: „Mach das nie wieder, Kleiner. Solche Sachen machen es hier nur schlimmer, vertrau mir. Wenn hier jemand ins Verderben rennt, dann weil er sich solche Tricks einfallen lässt. Wir wären hier sonst noch ewig herum gelaufen.“ Aber galt das nicht für die Tiefe allein?

Rette uns, Elaine!

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