Читать книгу Rette uns, Elaine! - Inga Kozuruba - Страница 5

Abschied und Ratlosigkeit

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Elaine seufzte. Sie war immer noch keinen Schritt weiter. Sie erinnerte sich daran, wie widerspenstig die Stadt bei ihrem ersten Abenteuer gewesen war. Sie wusste immer noch nicht, warum. War es Malvinas Schuld gewesen oder hatte es an etwas anderem gelegen? War die Stadt einfach so, und sie konnte es beim letzten Mal einfach nur gut unterdrücken, weil sie darauf geachtet hatte und außerdem das Wohlwollen des Prinzen genoss? Das klang nach einer plausiblen Lösung.

Elaine konzentrierte sich auf jeden Schritt, den sie tat. Sie sah nicht mehr nach Nummern. Sie wusste, es waren acht Stockwerke zu überwinden, bis sie unten im Erdgeschoss vor der Eingangstür ankommen würde. Es lagen zwei Mal dreizehn Treppenstufen zwischen jedem Stockwerk. So viel sie inzwischen gelaufen war, das wusste sie. Das waren 208 Stufen. Also begann sie zu zählen. Jedes Mal, wenn sie einen Fuß auf den unbehandelten Zement setzte, wurde die Zahl um eins kleiner. Sie machte sich jede Stufe bewusst.

Unglaublich wie lang ein Abstieg dauern konnte, wenn auf solche Dinge geachtet werden musste. Elaine hatte das Gefühl, dass sie niemals fertig werden würde. Dieses Gefühl verbannte sie schnell aus ihrem Bewusstsein. Die Zahl wurde immer kleiner, also würde sie unten ankommen. Sie hangelte sich an der immer kleineren Zahlenfolge wie an Ariadnes Faden nach unten. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, dass sie nicht bemerkte, dass das gesamte Treppenhaus ebenso beschmiert war, wie der Gang der Wohnung. Die Treppen selbst jedoch waren so sauber, wie sie im Herbst sein konnten, und sie achtete auf nichts anderes. Vermutlich hätte die Welt um sie herum untergehen können, und sie würde weiterhin Treppenstufen zählen und das Ende der Welt so übersehen.

Drei, zwei, eins, null. Sie war unten angekommen. In ihrem Kopf konnte sie förmlich das Ping hören, das ein Aufzug von sich gab, wenn er das Ziel erreichte. Sie lächelte, und ging auf die Ausgangstür zu. Sie klemmte, aber nicht lange. Elaine war froh darum. Sie hatte nicht vor, eine Tür wie Corry bedrohen zu müssen, damit sie den Weg freigab. Vermutlich hätte sie das gar nicht gekonnt. Alice, ja, aber sie war nicht Alice.

Sie trat wieder auf die Straße hinaus. Sofort spürte sie den Nieselregen, aber er war eine Wohltat nach dem Blut. Er war angenehm, beruhigend, sogar tröstend. Sie verstand langsam, warum Corry den Regen so mochte. Wohin nun? Sie wollte sich noch nicht sofort mit dem Adjutanten oder der Agentin anlegen. Vor allem wusste sie immer noch nicht, wie sie die beiden voneinander trennen sollte. Sie schienen einander zwar nicht gemocht zu haben, als sie von Corry und Irony Beisitz ergriffen hatten, aber im Moment mussten sie zumindest so tun, als ob sie einander lieben. Und wer weiß warum sie damals so spät von Sir Basons Verhör zurückgekommen waren. Ein Mann, eine Frau, ein leerstehendes Haus und keine Skrupel vor irgendetwas. Da hätte alles passiert sein können.

Elaine schüttelte den Kopf. Das half ihr im Augenblick überhaupt nicht weiter. Und was sollte sie tun, bis ihr eine Idee kam? Sie lächelte. Natürlich. Sie sollte zu Siren gehen und ihr sagen, dass der Familientyrann, der die Stelle ihres Mannes eingenommen hatte, zumindest vorläufig stillgelegt war. Außerdem mussten sie sich überlegen, was zu tun war, wenn Bill doch noch entkommen sollte.

Elaine machte sich also auf den Weg ins Humpty Dumpty. Zuerst war ihr danach, eine Abkürzung zu nehmen, aber dann erinnerte sie sich an ihre Probleme mit dem Treppenhaus und ließ den Gedanken schnell fallen. Wenn ein paar Stufen ihr solche Probleme bereitet hatten, was würden erst Straßen und Kreuzungen tun können? Sie konnte sich sehr gut Irony vorstellen, während er sie darüber belehrte, welche Macht Straßen und vor allem ihre Kreuzungen hatten. Kein Wunder, dass sie damals die Straße markieren mussten, um zur Gräfin zu kommen. Wenn der Weg sie mitten durch die Hauptstadt geführt hatte, und sie sich so launisch und bockig wie immer gab, war es nötig gewesen. Ein Glück, dass sie sich damals nicht verlaufen hatten und noch rechtzeitig zur Gräfin gekommen waren.

Gräfin Pepper war als Klatschbase bekannt. „Hm, vielleicht sollte ich ihr einen Besuch abstatten“, dachte sich Elaine. Womöglich konnte sie ihr hilfreich sein. Aber dazu später. Zuerst zu Siren. Elaine sah nach oben und seufzte. Natürlich war die Sonne nicht zu sehen. Natürlich wusste sie damit auch nicht, wie spät es war. Und diesmal hatte sie nicht einmal eine Armbanduhr um, aber vermutlich wäre sie sowieso stehen geblieben. Immerhin war es sicherlich nicht Teezeit. Auf verrückte Teegesellschaften hatte sie keine Lust, sie hatte schon genug Tee in dieser Stadt getrunken. Es war bei Kryss zumindest etwas besonderes gewesen, auch wenn ihr damals eine Vision einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Sie schmunzelte, während sie dem bekannten Straßenverlauf folgte.

Sie spürte, wie etwas sich dagegen sträubte, sie den richtigen Weg folgen zu lassen. Sie war zwar nie auf einem Pferd gesessen, aber die störrischen Brücken waren sicherlich ein guter Vergleich. Jede Kreuzung, die sie überquerte, jede Seitengasse, an der sie vorbeikam, jedes größere Haus mussten auf ihren Platz gezwungen werden. Elaine hatte zwar diese Besonderheit der Hauptstadt inzwischen akzeptiert, aber noch lange nicht lieb gewonnen. Dann wiederum, selbst den Einheimischen ging es in dieser Hinsicht oft nicht anders, also musste sie keine Schuldgefühle diesbezüglich haben. Wieso hatte sie überhaupt welche? Toleranz gegenüber Leuten war eine Sache, aber Stände waren nun wirklich etwas anderes!

Also hatte nicht nur der Tornado, sondern die Hauptstadt selbst eine Art Bewusstsein? Elaine würde sich nicht wundern, wenn dem so wäre. So wie es im Moment aussah, stimmte diese Annahme auch.

Elaine knurrte leise: „Stell dich nicht so an, Mädchen. Ich will nur ein paar Freunde besuchen, weiter nichts. Ist ja nicht so, dass ich dich damit einreißen würde.“

Ob es nun die Stadt selbst oder etwas anderes war, sie schien dennoch der Meinung zu sein, dass dem genauso kommen würde. Zumindest gab sie nicht ein wenig nach. Also musste Elaine weiterhin zähneknirschend aufpassen, wohin sie ging und ob alles seine Richtigkeit hatte.

Sie hatte zwar vorher nie so genau auf Häuser geachtet, aber es schien ihr, als ob sie Hilfe dabei hatte. Wie auch immer es geschah, zu jedem Haus, zu jeder Kreuzung und Seitengasse fielen ihr plötzlich Dinge ein, die sie auf ihrem Platz festhalten konnten. Es war fast so, als ob ihre Freunde ihr von Dingen erzählten, die sie in dieser Stadt, in diesen Straßen erlebt oder gesehen hatten. Manchmal waren es Kleinigkeiten. Da oben, im dreizehnten Stock, war eine Wohnung, in der es angeblich spukte. Sie war nicht bewohnt, aber dennoch hörten die Nachbarn darunter nachts Geräusche, als ob jemand aus einem Bett oder Sessel aufsprang und mit lauten Schritten in der Wohnung herumlief. Manchmal hieß es, es klang, als ob jemand heftig über ein Problem nachdenken musste. Manchmal so, als wäre er gefangen. Vielleicht traf auch beides oder gar nichts zu.

An einer anderen Stelle lag eine Eisdiele, in der Leo sich damals gerne mit Malvina abgesetzt hatte, solange Corry und Irony worüber auch immer miteinander stritten. Sie hatte um diese Jahreszeit leider keinen freien Eisverkauf mehr, aber im Cafe selbst bekam man es das ganze Jahr über. Für sie war Leo zu dem Zeitpunkt schon lange zum neuen Vater geworden, auch wenn er sich ihr gegenüber stets als Kumpel gab. Selbstverständlich bevorzugte sie blaue Eissorten – Blaubeeren, Pflaumen und exotischere Namen, von denen Elaine nie etwas gehört hatte. Wobei Gelb gleich an zweiter Stelle kam – Vanille, Banane, Zitrone, Ananas und noch viele mehr. Zu dumm nur, dass Elaine wieder einmal keine Zeit und kein passendes Geld bei sich hatte. Sie hätte gern einen Becher probiert.

So ging es weiter, Stück für Stück. Langsam kam sie der Kneipe immer näher. Sie konnte sie schon sehen. Elaine fixierte das Gebäude mit den Augen und marschierte weiter. Jetzt würde es ihr nicht mehr entwischen. Augenblicklich stellte sich bei ihr das Gefühl ein, als ob sie angeln würde. Ihr Blick war der Haken und die Schnur, das Haus war der Fisch, und ihre Konzentration zog die Beute immer näher, während sich ein Fuß nach dem anderen bewegte und ihren Körper ans Ziel brachte.

Sie atmete erst dann erleichtert auf, als sich ihre Hand auf den Türknauf gelegt hatte. Jetzt nur noch daran denken, dass du auch ins richtige Innenleben kommst, und dann ist alles bestens. Langsam drückte sie die Tür nach innen. Ja, das war die Kneipe wie Elaine sie verlassen hatte. Schnell sprang sie rein und schloss die Tür hinter sich zu.

„Was ist los? Du wirkst so gehetzt. Es ist doch nicht etwas passiert?“, hörte sie Sirens besorgte Stimme. Sie saß immer noch oder schon wieder genau dort, wo Elaine und Bill sie verlassen hatten.

Elaine lächelte: „Nein, er ist nicht hinter mir her. Das heißt, eigentlich schon, aber nicht jetzt.“

Siren wirkte nicht beruhigt, also erläuterte Elaine genauer: „Er liegt im Moment gut verschnürt und hinter Schloss und Riegel. Ich hatte etwas Hilfe.“

Siren blickte immer noch skeptisch.

„Mach dir keine Sorgen. Sollte er freikommen, wird er mit Sicherheit erst einmal hinter mir her sein. Und ich werde schon mit ihm fertig. Was ich dich schon vorher fragen wollte – wo ist Rick?“

Siren sah zu Boden: „Er... er ist im Krankenhaus... dieser Kerl hat meinen Jungen halb tot geprügelt, als er mir helfen wollte.“ Dann schlug sie die Hände vor dem Gesicht zusammen und begann zu weinen.

Elaine setzte sich zu ihr und legte einen Arm um ihre Schultern: „Das tut mir leid... Ich wünschte, ich hätte es früher gewusst...“

Siren schwieg. Elaine hatte irgendwie das Gefühl, dass sie es sich ebenfalls gewünscht hatte. Aber sie wollte nicht undankbar sein und ihr den Vorwurf ins Gesicht schreien.

„Glaub mir, wenn ich es gewusst hätte, dann wäre ich sofort gekommen. Es sind meine Freunde, und ich kann nur erahnen, was sie im Moment durchmachen.“

Siren sah Elaine an, eine Mischung aus Hoffnung und Angst in ihrem Blick: „Dann... dann weißt du, wo er ist?“

Elaine nickte und brauchte einige Augenblicke, bis sie sprechen konnte: „Er... er ist gefangen... in der Tiefe.“

Siren schrie kurz auf und kippte bewusstlos gegen Elaine. Sie fing sie auf und hob sie hoch – Siren wog viel weniger als damals nach ihrem unfreiwilligen Aufenthalt im Agenten-Hauptquartier – und legte sie vorsichtig auf den Tisch. Dann sah sie sich um. Gab es in diesem Haus kein Telefon? Gab es hier überhaupt Telefone?

Sie musste eine Weile suchen, fand dann aber in einer der privaten Räumlichkeiten ein Gerät.

Als sie den Hörer abnahm, hörte sie eine monotone, weibliche Stimme: „Mit wem wollen Sie verbunden werden?“

Elaine stutzte: „Ähm... das Krankenhaus bitte.“

„Einen Augenblick...“ Sie hörte das typische Knacken eines wählenden Telefons, dann klingelte es am anderen Ende der Leitung. Elaine wartete und dachte schon, dass niemand mehr rangehen würde, als sich erneut eine Frauenstimme meldete.

Sie klang überraschend freundlich, fand Elaine: „Hier das Krankenhaus. Welcher Notfall liegt bei Ihnen vor?“

„Ähm – ich würde gern einen Patienten sprechen. Sein Name ist Rick.“

„Rick – und weiter? Und wie war Ihr Name?“

Elaine stutzte. Sie wusste gar nicht, dass Leo einen Nachnamen hatte. „Mein Name ist Ellie. Seinen Nachnamen weiß ich nicht. Seine Eltern sind Leo und Siren, ich meine Beverly.“

Erstaunt hörte sie: „Ach, dieser Junge. Warten Sie einen Moment.“

Also wartete Elaine.

Dann meldete sich die Frauenstimme wieder: „Ich werde Sie jetzt durchstellen.“

Elaine nickte, obwohl die Frau sie nicht sehen konnte, dann hörte sie eine Weile ein nichtssagendes Trällern. Dann verstummte es, statt dessen kam ein: „Hallo?“

Es war eine Jungenstimme, gerade im Stimmbruch. „Hallo Rick, ich bin’s, Ellie. Ich bin gerade bei deiner Mutter.“

„Geht es ihr gut?“

„Sie ist ohnmächtig, aber ansonsten in Ordnung, glaube ich. Hör mal, wie geht es dir? Wann kommst du raus?“

„Am liebsten würden sie mich hier sofort vor die Tür setzen. Wo ist er?“

Elaine war klar, dass damit niemand anderes als Bill gemeint sein konnte: „Mach dir keine Sorgen. Er ist erst einmal weg vom Fenster.“

Sie hörte einen erfreuten Aufschrei am anderen Ende der Leitung.

„Also, wann kommst du raus?“

„Du bist in der Kneipe, richtig?“

„Ja.“

„Bleib da, ich komme so schnell ich kann!“

Sie bejahte und hörte dann, wie er auflegte. Also legte sie ebenfalls auf und ging zurück zu Siren.

Sie kam gerade zu sich und sah zu Elaine: „Was ist passiert?“

Elaine erklärte ihr erneut, was sie vorhin zu ihr gesagt hatte und fügte hinzu, dass Rick auf dem Weg zu ihnen war.

Siren richtete sich erschrocken auf: „Was? Nein, das sollte er doch nicht tun!“

Elaine sah sie fragend an. „Ich habe ihm gesagt, er sollte so lange wie möglich im Krankenhaus bleiben. Er kann ihm dort nichts anhaben, verstehst du?“

Elaine legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter: „Mach dir keine Sorgen. Dort, wo er im Moment ist, kann er niemandem etwas anhaben.“

Siren schien eine Weile zu brauchen, bis sie diesen Gedanken akzeptieren konnte. „Und... was ist mit den anderen? Sie... sie haben immer zu ihm gehalten. Was ist, wenn sie davon erfahren?“

Elaine sah plötzlich eine Szene vor sich. Siren flehte Boos Doppelgänger an, ihr zu helfen. Er hatte sie nur ausgelacht, und später wurde sie von Bill quer durch die Kneipe geprügelt. Ein Wunder, dass sie das überlebt hatte. Mit Ivana und Alexandre hatte sie sich vermutlich gar nicht erst treffen können. Und wenn doch, dann war es wohl genauso ausgegangen. Ein weiteres Mal hatte sie nicht mehr gefragt und hatte versucht, selbst mit dem Problem fertig zu werden. Vermutlich wäre sie schon lange mit ihrem Sohn fortgegangen, wenn er nicht manchmal in der Lage gewesen wäre, so gut zu ihr zu sein wie der Mann, den sie liebte. Oder hatte sie es versucht, aber er hatte sie stets wieder gefunden und mit Gewalt zurückgeholt? Vieles war denkbar.

Die Tür schwang auf und riss Elaine aus ihren Gedanken. Ein großgewachsener, hagerer Jugendlicher eilte in den Raum und zog Siren in eine enge Umarmung. Seine Haare schimmerten rötlich-golden, fast so intensiv wie Sirens Haar früher.

„Geht es dir gut?“, hörte sie beide immer wieder sagen, „Sie hat gesagt, er ist weg.“

Tränen stiegen Elaine in die Augen und ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie wollte nicht wissen, was sie in der Zeit durchgemacht hatten. Gleichzeitig aber dachte sie daran, dass es jemanden gab, den sie nur zu gerne umarmt hätte. Er war mit ihrem Namen auf den Lippen gestorben. Warum hatte sie seinen Hilferuf nicht gehört? Warum hörte sie ihre Hilferufe erst jetzt?

„Ellie? Kannst du noch einmal sagen... wo Leo ist?“, hörte sie Sirens zitternde Stimme und zwang die Tränen wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen waren.

„Er... er ist zusammen mit den anderen drei in der Tiefe. Wisst ihr, als wir an diesem einen Tag dort waren, um den Prinzen zu retten, ging irgend etwas schief. Wir wurden gefangen und vor die... Mutter gebracht. Sie hätte uns alle töten lassen können. Irony und Corry haben sich ihr im Tausch für unsere Freiheit angeboten. Also blieben sie dort und wir gingen. Kurz bevor wir dann in den Kasernen waren, stießen Corry und Irony doch wieder zu uns. Jedenfalls glaubten wir das.“

Die beiden sahen sie mit aufgerissenen Augen an. Elaine atmete tief durch und sprach weiter: „Ich weiß nicht, wie es genau passiert ist. Und ich glaube, es ist besser, wenn ich keine Theorien darüber aufstelle. Vielleicht wird eine davon noch zur Wahrheit, wenn ich mich zu sehr in sie verrenne. Jedenfalls, an diesem Tag haben die Doppelgänger, mit denen wir schon einmal zu tun hatten, die Plätze der beiden eingenommen. Ich denke, Leo wird euch von der Maskerade erzählt haben.“ Beide nickten.

„Ja, seit dem Tag waren Alexandre und Ivana hier oben. Corry und Irony sind immer noch Gefangene der Tiefe. Und irgendwie haben es ihre Doppelgänger wohl geschafft, Boo und Leo in die Finger zu bekommen und auszutauschen. Wenn es in der Zeit des Wiederaufbaus passiert ist, wie ich aus Sirens Worten vermute, war es einfach für sie gewesen, wie auch immer sie es gemacht haben. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Hilfe der Kreaturen hatten.“

„Soll das heißen, mein Vater ist schon seit Jahren in der Tiefe gefangen? Aber warum kommst du denn erst jetzt?!“

Elaine biss sich auf die Unterlippe: „Ich... ich hatte Alpträume seit ich das zweite Mal von hier fortging. Und ich habe Zeit gebraucht, bis ich ihren Sinn erkannt habe. Ich wusste nicht, wie viel Zeit hier vergangen war. Ich glaube, das weiß man nie.“

Der Junge nickte, war aber dennoch nicht beruhigt: „Und was machen wir jetzt? Alle Zugänge zur Tiefe werden überwacht und es gibt eine Sperrzone um die Grenze. Ich meine, alle sind froh darüber, dass es so gut mit der Überwachung klappt. Keiner will noch einmal so einen Alptraum erleben.“

„Rick, du wirst nicht da runter gehen! Das ist Wahnsinn!“, schrie Siren auf.

Elaine nickte: „Da hat sie recht. Wir drei haben keine Chance da unten. Schon gar nicht im Herzen. Und erst recht nicht, wenn die falschen Leute davon Wind bekommen.“

„Ich werde meinen Vater da nicht verrotten lassen! Ellie, sag nicht, dass du nichts dagegen tun willst!“

Elaine hob beschwichtigend die Hände: „Natürlich nicht! Wegen ihm und meiner anderen Freunde bin ich ja hier. Aber wir sollten jetzt nichts überstürzen. Und vor allem müssen wir dafür sorgen, dass uns niemand in die Quere kommt. Abgesehen davon könnten wir Hilfe brauchen.“

Ricks Augen leuchteten auf: „Ich weiß, wer uns helfen wird! Kryss ist doch noch da, und meine Freundin Lydia ist zu den Agenten gegangen. Sie ist zwar noch in der Ausbildung, aber sie kann sicherlich schon das ein oder andere...“

Elaine sah ihn skeptisch an und er verstummte. Sie seufzte: „Ich freue mich, dass du so viel Energie hast, Rick, aber... wie alt bist du? Und wie alt ist Lydia?“

Er schob seine Unterlippe vor: „Ich bin alt genug. Boo war sicherlich nicht älter als ich, als er das erste Mal in der Tiefe war.“

„Ja, aber Boo hatte solche Leute wie Corry, Irony und deinen Vater als Begleiter. Und auch wenn ich eine Träumerin bin, ich werde sie nicht ersetzen können.“

Rick war still und Elaine war sich nicht sicher, ob er schmollte oder grübelte. Siren sah auf jeden Fall erleichtert darüber aus, dass Elaine ihrem Sohn nicht zusätzliche Flausen in den Kopf setzte. Hätte er vorher mit Sicherheit gewusst, dass Bill nicht sein Vater war, dann wäre er vielleicht längst auf eigene Faust oder zusammen mit seinen Freunden aufgebrochen, um nach ihm zu suchen.

„Trotzdem wäre es vielleicht keine schlechte Idee, wenn du ein paar von deinen Freunden hierher holst, Rick. Vielleicht können sie uns auf eine andere Art und Weise helfen. Außerdem werdet ihr vielleicht ein Versteck brauchen, wenn Bill doch noch freikommen sollte. Ich glaube zwar, dass er primär hinter mir her sein wird, aber wer weiß, welche Ideen so einem Dreckskerl kommen?“

Siren wurde wieder etwas blasser und Rick ballte die Fäuste: „Soll er nur kommen. Wenn er nicht mein Vater ist, dann muss ich mir auch nicht Sorgen darum machen, ob ich ihm weh tu’. Wenn er noch einmal die Hand hebt, ist er dran!“

Elaine lächelte schwach: „Wollen wir hoffen, dass es nicht so weit kommt. Also, Rick, wärest du so gut?“

Er nickte: „Ich denke, ich bin bald wieder da.“

Dann rannte er raus. Siren sah Elaine prüfend an: „Denkst du, das ist eine gute Idee? Seit Leo ihm das erste Mal von eurem großen Abenteuer erzählt hat, denkt der Junge an nichts anderes mehr, als selbst so etwas zu erleben. Und was gibt es wichtigeres, als seinem eigenen Vater zu helfen?“

Elaine lächelte: „Ich weiß. Aber wenn er glaubt, dass wir ihn nichts tun lassen, dann wird er uns noch weglaufen. Und ich glaube, es wird auch so schon schwer genug sein. Er muss ja nicht mit mir in die Tiefe.“

Siren nickte.

Süßlicher Duft mischte sich erneut in die Luft der Kneipe. „Wenn ich jetzt umfalle – es ist alles in Ordnung“, stammelte Elaine, bevor die warme, feuchte Dunkelheit erneut über sie kam. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, auch wenn ihr der Gedanke sehr unbehaglich war. Sie fragte sich, ob das Absicht war. Ob dieser Zustand sie unbewusst an die Zeit im Mutterleib erinnern wollte. Ob das ein Mittel der Mutter war, sich langsam Elaines Vertrauen zu erschleichen. Elaine hielt jedoch nichts davon, zurück zu kehren. Sie war geboren worden, sie war ein eigenständiger Mensch und sie hatte nicht vor, das aufzugeben. Zumindest nicht grundlos.

Sie spürte erneut die Kette aus Händen, vier Paare, die sich aneinander klammerten. Sie spürte die Verzweiflung und die Hoffnung hinter dieser Anstrengung. War inzwischen auch Zuversicht darin? Sie glaubte, dass sie inzwischen nicht mehr so kraftlos waren wie vorher. Und dieser Glaube gab wiederum ihr neue Hoffnung und Kraft. Sie schien auf dem richtigen Weg zu sein.

Sie kam zu sich und lächelte schwach. Sie lag auf demselben Tisch, auf den sie vorher Siren gebettet hatte. Aber inzwischen war sie nicht mehr mit ihr allein. Rick war wieder bei ihnen.

Elaine richtete sich auf: „War ich lange weg?“

Siren schüttelte den Kopf: „Nein, nicht allzu lange. Was ist passiert?“

„Ich... habe Visionen oder so etwas. So habe ich erfahren, was mit Leo und den anderen los ist.“

Rick und Siren wechselten die Blicke.

„Und wie lief es bei dir?“, fragte Elaine den Jungen.

Er lächelte schief: „Geht so. Ich glaube, ich habe ein Versteck für Mama und mich, aber ansonsten sieht es nicht so gut aus. Ich habe niemanden erreichen können. Ich weiß auch nicht was los ist.“

Elaine runzelte die Stirn: „Wie meinst du das? Was genau war denn los?“

Rick zuckte hilflos die Schultern: „Ich weiß auch nicht. Lydia kann nicht weg, man lässt sie nicht. Ich habe sie nicht einmal sprechen können, sondern nur einen der Agenten. Cedric und Tommy sind wie vom Erdboden verschluckt. Bei ihnen zu Hause ist niemand da, und dort, wo sie sich immer herumtreiben, sind sie auch nicht.“

Elaine nickte: „Okay. Hast du versucht, Kryss oder Margot aufzutreiben?“

Rick schüttelte den Kopf: „Nein. Ich hatte gehofft, dass Lydia mir dabei helfen kann, aber nachdem ich nicht einmal sie sprechen konnte, sehe ich bei den anderen schwarz. Keine Ahnung, was los ist. Als ob sich alles gegen mich verschworen hat.“

Elaine seufzte. Irgendwie kam ihr das bekannt vor. Woran konnte das liegen? Sie war sich sicher, dass das Königspaar ihr sicherlich keine Steine in den Weg legen würde. Und sie wussten sicherlich, dass sie da war und warum. Wollte die Stadt sie nicht haben? Das glaubte sie nicht. Auch wenn sie bereits das ein oder andere Problem gehabt hatte. Störrische Aufzüge und Treppenhäuser waren sicherlich eine Sache für sich, aber nichts ungewöhnliches. Der Vorfall in der Wohnung passte jedoch nicht ins Schema. Wenn sie es nicht besser wüsste, dann hätte sie auf die Tiefe getippt. Doch das war nicht möglich, nicht mit einem Königspaar an der Macht. Dennoch passte der Vorfall immer noch nicht zu den Problemen, die Rick gehabt hatte. Da kam ihr die Idee, was es sein konnte.

Ähnliche Schwierigkeiten hatten sie schon einmal gehabt, die Fünf, bestehend aus Elaine, Boo, Leo, Corry und Irony. Es war ihnen unmöglich gewesen, ohne eine List eine Audienz beim Prinzen zu bekommen. Es war ihnen sogar schwer gefallen, eine Gräfin oder auch nur einen Ritter zu sprechen, wenn sie nicht ebenfalls die Gunst der Stunde hätten nutzen können. Sir Bason hatte sie nur deshalb zu sich gelassen, weil er geglaubt hatte, sich ihrer leicht entledigen zu können. Konnte der Adel wieder seine Finger im Spiel haben? Jetzt wo alles wieder aufgebaut und beim Alten war, war es denkbar.

Elaine seufzte und sah zu Siren und Rick: „Wie ist es jetzt eigentlich genau mit den Profis? Ich meine, die Agenten. Wem sind sie unterstellt? Was genau tun sie?“

Die beiden wechselten die Blicke, dann sah Siren zu Elaine: „Nun ja, es heißt zumindest, dass die Agenten jetzt ausschließlich damit beschäftigt sind, die Grenzen zu bewachen, weiter nichts. Für Probleme innerhalb der Hauptstadt werden Gendarmen eingesetzt. Ich glaube, die Agenten hören jetzt nur auf das Königspaar, aber genau weiß ich nicht darüber Bescheid. Ich... ich habe schon lange nichts mehr von Corry gehört, ich meine... du weißt schon.“

Elaine nickte und sah dann zu Rick: „Was ist mit dir? Hat dir Lydia irgend etwas erzählt, oder darf sie nicht darüber sprechen?“

Rick blinzelte verwirrt: „Genau das. Woher wusstest du das?“

Elaine lächelte schief: „War nur so ein Gefühl. Und ansonsten? Sie muss doch irgendwann einmal etwas zufällig fallen gelassen haben.“

Rick schüttelte langsam den Kopf: „Ich... ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nur, dass sie seit langer Zeit ziemlich verschlossen ist, was das angeht.“

Elaine nickte: „Okay. Hat sie mal gesagt, von wem die Anweisung ist?“

Rick schüttelte erneut den Kopf: „Nein, aber ich glaube, das waren die Vorgesetzten.“

Irgendetwas an diesem Wort gefiel Elaine nicht. Aber es schien zumindest nicht direkt auf den Adel zu deuten. Allerdings hatte sie es auch nicht erwartet. Sie hatten sicherlich aus ihrem Fehler damals gelernt, wenn sie erneut eine Verschwörung schmieden sollten. Elaine war sich nur nicht sicher, ob sie es tatsächlich waren. Diejenigen der Adligen, die den Krieg überlebt hatten, waren zu Wahren Rittern geworden. Es war ausgeschlossen, dass sie sich gegen ihre Bestimmung stellen würden. Vor allem dann, wenn ausgerechnet die wankelmütigen Agenten nun geschlossen der Aufgabe nachgingen, die man ihnen zugedacht hatte.

Das war es also auch nicht. Was dann? Sie war ratlos. Ebenso ratlos schienen auch Rick und Siren zu sein. Elaine lächelte: „Schon okay, macht euch keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass ich es auch so schaffe. Aber in Anbetracht der Lage wäre es vermutlich das beste, wenn ihr gleich ins Versteck geht.“

Rick wirkte nicht besonders glücklich über diesen Vorschlag: „Glaubst du wirklich, ich werde mich irgendwo verstecken, wenn mein Vater in Gefahr ist?“

Elaine schüttelte den Kopf: „Natürlich nicht. Aber im Moment geht es nicht darum. Ivana und Alexandre sind noch irgendwo da draußen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was sie anrichten könnten. Im Moment wäre es das beste, wenn ihr beide euch versteckt. Du solltest gut auf deine Mutter aufpassen, Rick. Außerdem ist es für sie schlimm genug, den Mann zu verlieren. Wie ist es dann, wenn sie auch noch ihren Sohn verliert?“

Rick schluckte. Er schien gar nicht daran gedacht zu haben. Dann nickte er: „Okay, wir machen was du sagst. Hoffentlich weißt du, was du tust. Und wenn du doch Hilfe brauchst?“

Elaine lächelte: „Ich werde euch finden, keine Sorge. Ich habe es schon geschafft, eine Spitzenagentin einzuholen.“ Die beiden wechselten erneut die Blicke und nickten.

Siren ging in den privaten Bereich und kam mit ein paar Taschen zurück. „Die habe ich schon vor langer Zeit gepackt, für alle Fälle“, antwortete sie leise auf ihre fragenden Blicke.

Elaine nickte: „Dann alles Gute und drückt mir die Daumen.“

Siren lächelte leicht und umarmte sie zum Abschied. Rick drückte sie ebenfalls. „Der Schlüssel ist unter der Kasse ist hinter der Theke. Du kannst ihn behalten, ich habe noch einen. Und alles Gute auch für dich“, sagte Siren dann, während Rick sich seine Regenjacke überstreifte und sie selbst ihren Mantel anzog.

Elaine nickte, die beiden nahmen die Taschen und traten hinaus. Sie verschwanden schnell hinter dem Vorhang aus Regen. Elaine blieb allein in der leeren Kneipe, in die sich inzwischen anscheinend nicht einmal mehr die Küchenschaben trauten.

Sie hatte das Gefühl, dass die beiden vorerst sicher waren. Ricks Freunde waren nicht zu erreichen gewesen, konnten also nichts über das Versteck wissen. Sie selbst wusste es auch nicht. Außerdem traute sie Rick zu, dass er so schlau war, keine anderen Menschen mit reinzuziehen. Sie sah wieder aus dem Fenster. Regenwasser floss die Fensterscheiben hinunter, den Bürgersteig entlang, hinab durch den Abguss in die Katakomben. Dort war es bei diesem Wetter sicherlich ungemütlich. Aber Agenten machten sich nichts daraus. Und Kryss auch nicht. Elaine seufzte. Seine Hilfe hätte sie jetzt brauchen können. Wenn jemand mit einer falschen Agentin fertig werden konnte, dann er.

Das brachte sie jedoch nicht weiter, also versuchte sie, auf einen anderen Weg zu kommen. Was wusste sie über die beiden, die es noch auszuschalten galt? Sie wurde das Gefühl eines Déjà-vu nicht los. Sie hatte schon das letzte Mal vor einem ähnlichen Problem gestanden, nur waren Corry und Irony ihr im Grunde genommen nicht feindlich gesinnt gewesen. Wenn es darauf angekommen wäre, dann hätten sie eher ihre Rollen und ihre Aufgabe zurückgestellt. Diejenigen, die jetzt tatsächlich ihre Stelle eingenommen hatten, waren anders. Sie hatten keine Skrupel und keine Bedenken. Das hatten sie ihr selbst einmal gesagt.

Das wusste sie über die zwei. Was wusste sie noch? Sie glaubte sich zu erinnern, dass sich beide um ihre Gunst gestritten hatten. War es nicht so? Warfen sie einander nicht ständig giftige Blicke zu, wenn es darum ging? Wollte Ivana ihn nicht von Elaine fernhalten, so gut es ging? War die Agentin am Ende eifersüchtig auf sie gewesen? Elaine hatte das Gefühl, dass sie endlich einen Faden in den Händen hielt, dem sie folgen konnte.

Draußen wurde es langsam dunkel. Elaine fragte sich, ob sie sich so kurz vor Einbruch der Nacht noch auf die Suche machen sollte oder nicht? Sie wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte, aber gleichzeitig hatte sie Angst davor, im Dunkeln auf die Straße zu gehen. Das war immer die Zeit der Agenten gewesen, und davor die Zeit, in der die Kreaturen der Tiefe sich frei bewegen konnten. Wer wusste, was jetzt los war? Es waren zu viele unbekannte Variablen ins Spiel gekommen, als dass Elaine sich sorglos in die Dunkelheit wagen würde. Außerdem schien es nicht auf einen Tag anzukommen. Ihre Freunde wussten, dass sie da war, und dass sie ihnen helfen würde. Sie würden durchhalten, dessen war sie sich sicher.

Damit stellte sich ihr eine weitere Frage: War es besser, in der Kneipe zu übernachten oder in der Wohnung? Die Antwort darauf wäre noch am Morgen einfach gewesen, sie war es nun aber nicht mehr. Auf der einen Seite wartete in der Wohnung immer ein Zimmer auf sie. Und sie konnte sich erneut vergewissern, dass Bill und der Narr immer noch dort waren, wo sie hingehörten. Auf der anderen Seite hatte sie keine Lust, sich womöglich einer weiteren Horrorvision auszusetzen. Was war, wenn die Tiefe irgendwie in der Wohnung Fuß gefasst hatte? Dann war es sehr unklug, noch einmal die Tür zu öffnen, die alles im Zaum hielt.

Elaine beschloss, die Nacht lieber in der Kneipe zu verbringen. Allerdings wollte sie auch sicher gehen, dass in der Wohnung alles in Ordnung war. Also holte sie den Schlüssel, ging raus und sperrte ab. Kaum trat sie unter dem kleinen Vordach hervor, prasselte der Regen auf sie runter. Sie zog den Kragen ihrer Jacke hoch und eilte die Straße entlang. Das letzte was sie wollte war, jetzt eine Erkältung zu bekommen.

Ein Glück, dass sie eine Läuferin war, wie Boo es ihr einmal gesagt hatte. Sie wurde zwar richtig nass, aber sie war schnell genug, um der Kälte zu entgehen, die sich sicherlich bald eingestellt hätte. Wieder unter einem Dach schüttelte sie das Wasser von ihrer Jacke und drückte vorsichtig und so gut es ging ihre Haare trocken. Dann begann sie langsam den Aufstieg nach oben. Diesmal wollte sie keine Zeit auf ein störrisches Treppenhaus verschwenden, also begann sie gleich zu zählen. Soweit ging alles gut. Sie versuchte, das Geschmiere auf dem Wänden zu ignorieren. Es gelang ihr gut genug, so dass sie nicht aus dem Takt kam. 208 Stufen hatte sie hinter sich und stand tatsächlich dort, wo sie hin wollte. Sie zögerte etwas, bevor sie den Schlüssel einsetzte, öffnete dann aber schnell und mit Gewissheit die Tür.

Alles schien ruhig zu sein. Vorsichtig und leise trat sie ein. Die wenigen Teelichter gingen an, sobald sie daran dachte, aber sie explodierten nicht. Sie warfen ein schwaches Licht auf die roten Drohungen an den Wänden, aber diesmal war Elaine nicht überrascht. Sie schloss ruhig die Tür hinter sich. In ihrem Kopf ging ihr ein Gedanke um: „Wer oder was auch immer hier sein Unwesen treibt, wird es nicht noch einmal wagen. Diesmal bin ich vorbereitet. Und ein paar Worte an der Wand werden mich nicht von hier vertreiben.“

Sie öffnete die Tür zu Corrys Zimmer und trat ein. Ihr Blick war sofort beim Spiegel, aus dem ihr Alice zulächelte.

„Alles in Ordnung, Schatz“, formten ihre Lippen.

Ein Blick hinter ihr Spiegelbild bestätigte diese Aussage. Elaine sah die beiden Gefangenen immer noch verschnürt auf dem Bett liegen. Sie rührten sich nicht. Sie sah fragend zu ihrem Spiegelbild.

Alice grinste: „Als du wieder hergekommen bist, habe ich ihnen vorsorglich noch einmal einen übergebraten, damit sie ruhig sind. Ich glaube, sie haben versucht, sich loszureißen. Bleib noch etwas, dann kann ich die Knoten überprüfen.“

Also blieb Elaine solange bis Alice ihr ein Handzeichen gab, dass alles wieder bestens war. Dann fragte sie: „Hast du eine Ahnung, was mit der Wohnung los ist?“

Alice sah sie fragend an, also erklärte Elaine ihr, was vor ein paar Stunden passiert war. Alice zog eine Augenbraue hoch: „Interessant. Das sollte eigentlich nicht sein.“

Elaine nickte: „Das habe ich mir auch schon gedacht. Hast du eine Idee, was sein könnte?“

Alice zuckte die Schultern: „Ehrlich gesagt nein. Das heißt, ich habe viele, aber ich weiß nicht, welche stimmen könnte.“

„Könnte es sein, dass die Tiefe über den Spiegel jetzt in die Hauptstadt reinreichen kann? Ich meine, es sieht so aus, als ob alle anderen Wege zu gut bewacht werden.“

Alice legte den Kopf schief: „Kann sein. Vielleicht ist es besser, wenn du nicht zu oft hierher kommst.“

Elaine nickte: „Vermutlich. Dann... dann werde ich jetzt zusehen, dass ich die anderen beiden loswerde. Wir sehen uns dann.“

Alice grinste: „Ich freue mich schon. Bis dann.“

Elaine verließ das Zimmer und schloss es ab, ebenso die Eingangstür. Diesmal verlief alles ruhig. Fast hatte sie an ihrer Hypothese über die Tiefe zu zweifeln begonnen, aber nur fast. Es war sicherlich die beste Erklärung. Sie hoffte, dass der ungesunde Einfluss sich nicht weiter als auf den Gang und das Treppenhaus ausgebreitet hatte. Das letzte was sie wollte war eine Straße, in der es vor Kreaturen und tödlichen Fahrzeugen anstatt Menschen und deren Autos wimmelte.

Sie zählte die Stufen nach unten und trat auf die Straße hinaus. Inzwischen war es fast Nacht. Die Laternen leuchteten bereits, die Regentropfen funkelten in ihrem Licht. Ansonsten sah alles genauso aus wie vorher. Elaine beruhigte sich wieder und ging erneut zur Kneipe zurück. Dort war niemand, was sie ein wenig verwunderte. Es war doch nicht Montag, oder? Sie wusste nicht, ob dieser Tag ein Montag war. Bei ihrem ersten unfreiwilligen Besuch in der Hauptstadt hatten die Wochentage und die Jahreszeit zufällig gepasst, aber beim zweiten Mal kam sie bereits vom Sommer in den tiefsten Winter, und jetzt war Herbst, was im Hinblick auf die Jahreszeit ihrer Welt immer noch voraus war. Oder hatte Bill einfach nur keine Kunden? Gewundert hätte es sie nicht.

Sie war wieder drin und sah sich um. Im Hauptraum gab es für sie nichts anderes zu tun als die Eingangstür zu schließen. Dann ging sie in den privaten Bereich. Sie war froh, dass die Gänge darin elektrisch beleuchtet waren. Teelichter waren ihr im Moment nicht geheuer, und beim Anblick von Kerzen würde sie vermutlich losheulen. Das Haus des Grafen war immer mit Kerzen erleuchtet gewesen, wie es bei den Adligen so üblich war. Er fehlte ihr, seine Art, gleichzeitig die hochwohlgeborene, arrogante Perfektion und der liebevollste Mensch auf Erden und perfekter Gentleman zu sein. Wieso hatte sie seinen Hilferuf nicht gehört?

Auch wenn sie es vermeiden wollte, traten ihr erneut Tränen in die Augen, so dass sie alles nur noch verschwommen sah. Du wirst später Zeit zum Trauern haben, Ellie. Jetzt musst du an die Lebenden denken. Sie schluckte die Tränen hinunter und wollte sich einen Überblick über die anderen Räume verschaffen. Die Küche fand sie sehr schnell, andere Räume stellten sich als Lagerraum und ein paar Zimmer heraus. Die Umkleide, in der sie damals mit Leo und Boo das erste Mal mit Siren gesprochen hatte, war zugesperrt, der Stern an der Tür nur durch den gleich geformten hellen Fleck zu erkennen.

Elaine musste einiges an Kraft aufwenden, um die Tür zu öffnen. Wie sie feststellte lag es daran, dass der Raum zu einer Rumpelkammer umfunktioniert worden war. Elaine sah im Licht der Glühbirne, dass alles zudem mit einer dicken Staubschicht überzogen war. Wie es aussah, war es mit Sirens Glanzzeit schon lange vorbei. Wut stieg in Elaine hoch. Es sollte nicht sein, dass immer wieder das Leben von Menschen vernichtet wurde, egal um welche Ziele es ging. Es sollte einfach nicht so sein!

Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie im Raum aufräumen wollte. Zuerst wunderte sie sich darüber, wieso sie das wollte, fand die Idee dann aber nicht so schlecht. Sie war noch nicht müde genug, und außerdem hatte sie das Gefühl, dass sie am besten in diesem Zimmer auf der Couch schlafen würde. Also machte sie sich an die Arbeit. Nach und nach kamen die alten Möbel und die Kisten auf den Gang. Sie fragte sich, warum sie noch aufbewahrt wurden. Neugierig sah sie in einen der Kartons und entdeckte buntes Kinderspielzeug darin, vermutlich gehörte es Rick. Eine Welle von Nostalgie und Trauer schlug ihr entgegen. Viele der Sachen erinnerten sie an ihre eigene Kindheit.

Plötzlich sah sie das Gerümpel in einem anderen Licht. Das war der Scherbenhaufen von Sirens Leben und von dem Glück, das sie einst hatte. Vorsichtig brachte sie die Andenken wieder hinein. Genug Platz zum Schlafen hatte sie sich ja bereits geschaffen. Sie schloss auch diese Tür und legte sich hin. Obwohl sie müde war, fiel ihr das Einschlafen nicht leicht. So viel war an diesem Tag passiert. Erst die Sache mit dem Narren, dann Bill, und zu allem Überfluss schien sich die Tiefe erneut in die Hauptstadt schleichen zu wollen.

Langsam dämmerte sie weg und fragte sich noch, ob der Narr recht gehabt hatte und sie nicht wieder wechseln würde, solange sie schlief. An Siren würde es sicherlich nicht liegen, da war Elaine sich sicher. Selbst wenn sie der Träumerin übel nahm, dass diese sich so viel Zeit gelassen hatte, so war sie immer noch die einzige, die Siren ihren Mann zurückbringen konnte. Elaine war froh darüber, dass sie zumindest in Siren und Rick jemanden gefunden hatte, bei denen sie sich keine Sorgen um Doppelgänger machen musste. Die beiden hatten es bisher niemals nötig gehabt, sich zu verstellen.

Langsam gerieten ihre Gedanken durcheinander. Sie sah erneut die Kaffeetasse vor sich, die Boo ihr vorgesetzt hatte und wie unter der dunklen Oberfläche etwas schwamm. Sie glaubte jetzt, dass dieses Etwas mit Sicherheit viele feine Tentakel gehabt hatte. Sie glaubte auch, dass wenn sie das kleine Wesen mit dem Kaffee verschluckt hätte, es die Gelegenheit genutzt hätte, um sich in ihrem Kopf einzunisten. Wer konnte wissen, was dann gewesen wäre? Sie fragte sich wieder im Dämmerschlaf, wie Boo an so ein Ding gekommen war. War das alles am Ende ein abgekartetes Spiel? Wusste man womöglich in der Tiefe, dass sie kommen würde? Hatte sie etwa bereitwillig einen Köder geschluckt? Konnten die Hilferufe ihrer Freunde sie deshalb erreichen und aus keinem anderen Grund?

Ihre Gedanken wirbelten dahin, und sie schreckte hoch. Sie war wieder hellwach und zitterte, wie nach einem ihrer jüngsten Alpträume. Konnte das die Wahrheit sein? Aber warum sollte die Mutter versuchen, sie auf diese Art und Weise in die Finger zu bekommen? Hatte sie nicht schon alle in der Hand gehabt? Elaine ließ sich wieder auf die Couch sinken. Sie verstand nicht, was los war. Und nachdem der erste Schrecken vorbei war und sie immer noch keinen blassen Schimmer hatte, warum alles geschah, schlief sie endgültig ein.

Rette uns, Elaine!

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