Читать книгу Süße Träume, Elaine - Inga Kozuruba - Страница 3

Kapitel 1

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Elaine war auf dem Weg nach Hause. Ihr Rucksack mit den Einkäufen wurde immer schwerer, die Füße taten ihr mittlerweile weh, sie hatte eine Laufmasche am rechten Fußknöchel und ihre Frisur löste sich langsam in einzelne Strähnen auf. Und zu allem Überfluss nieselte es. Zum Glück neigte sich der Tag genauso wie die Woche dem Ende zu und das Wochenende erwartete sie. Bei dem Gedanken war sie in ihrer Müdigkeit jedoch zu nichts mehr imstande, als zu einem schwachen Lächeln.

Ihre Füße trugen sie zur U-Bahnstation, während sie versuchte, sich auf Entspannung einzustimmen. Inzwischen kannte sie den Heimweg so gut, dass sie kaum noch darüber nachdachte, wohin sie zu gehen hatte. Und sie wäre auch weiterhin so gedankenverloren und fast schon schläfrig weitergegangen und hätte sich in ihren Zug gesetzt, wäre nicht ein seltsamer, älterer Kauz vor ihr aufgetaucht. Er drängelte sich in der Menge beharrlich nach vorne, als ob die Welt untergehen würde. Er murmelte stetig etwas vor sich hin, Elaine glaubte zu verstehen, dass er zu spät komme. Er sah recht merkwürdig aus, seine Nase und sein Mund lagen nahe beieinander und erweckten den Eindruck, sie habe einen Nager vor sich, welcher durch die etwas größeren Schneidezähne des Kauzes verstärkt wurde. Sein Anzug war stellenweise abgewetzt und auf den Ellenbogen prangten Flicken. Der Kauz trug einen Zwicker auf der Nase, was Elaine am meisten verwirrte. Wieso um alles in der Welt würde heute noch jemand einen Zwicker tragen? Und aus seiner dunkelbraunen, ihres Alters wegen fleckigen und an den Kanten aufgerauten Lederaktentasche sah sie Fellstücke heraushängen, anscheinend von einem Hasen. Auffällig war aber vor allem die Verzierung am Messingverschluss der Tasche. Es waren kunstvoll miteinander verschlungene Buchstaben A und K, so schien es. Vielleicht waren das seine Initialen.

Der Kauz holte eine antik anmutende, goldene Taschenuhr aus seiner Westentasche, klappte sie auf und sein Unterkiefer klappte runter. Er schrie laut auf: „Meine Herren, ich verpasse meinen Zug!“, legte noch einen Zahn zu – das tat er auch noch mit einer ungeahnten Energie –, hastete nach vorne und bemerkte dabei nicht, dass ihm seine Handschuhe aus den Händen fielen.

Elaine wusste nicht, wieso sie dem Mann plötzlich helfen wollte, wo sie doch schon fast zu Hause war, aber leider passierten ihr solche Ereignisse immer wieder. Manchmal war sie schon fast zu hilfsbereit für diese Großstadtwelt. Also hob sie die Handschuhe im Gedränge auf und hastete dem Kauz hinterher.

Auf dem Bahnsteig stand bereits der Zug. Ganz egal, was die Stadtverwaltung und die Polizei unternahmen, Graffiti war von den Wänden der U-Bahn nicht mehr wegzudenken. Elaine hatte nichts gegen Graffiti, erst recht nicht gegen Bilder, die so schön waren wie auf diesem Wagen. In einem farbenfrohen Schriftzug in Farbe und Gestalt eines Regenbogens stand das Wort Tornado darauf geschrieben und es war auch ein Tornado daneben gesprüht worden. Der Kauz sprang durch eine offene Tür, Elaine durch eine andere und schon fuhr der Zug los.

Dann begann die wildeste Fahrt mit der U-Bahn, die Elaine je erlebt hatte. Der Zug war mindestens dreimal so schnell als gewöhnlich, sie sah mit Unbehagen Schwalle von Funken fliegen und hörte kreischendes und krächzendes Metall. Die Passagiere wurden heftig durchgerüttelt, aber bis auf Elaine schien das seltsame Fahrverhalten der Bahn keinen von ihnen zu kümmern. Sie lasen Zeitung, unterhielten sich, der Kauz putzte seinen Zwicker, eine Frau schminkte sich die Lippen – und das sogar mit Erfolg, obwohl auch sie kräftig durchgerüttelt wurde. Elaine versuchte, zum Kauz zu gelangen, um ihm sein Eigentum zurück zu geben, aber nach einigen scharfen Kurven und dem Unmut der Passagiere, die sie angerempelt hatte, beschloss Elaine, dass es gesünder wäre, sich an einem Ort festzuhalten und den Stillstand des Zuges abzuwarten. War die Fahrt deshalb so wild, weil der Zug Tornado hieß, oder wurde der Zug nach seiner Schnelligkeit benannt?

Plötzlich ging das Licht aus. Elaine stieß einen leisen Schrei der Überraschung aus, als einzige. Sie sah immer noch die Funken in den Fenstern aber jetzt sah sie auch leuchtende Punkte innerhalb des Waggons. Die Frage war nur noch, waren das Leuchtdioden, Glühwürmchen oder Augen? Elaine entschied sich für Leuchtdioden, weil das die am wenigsten beunruhigende Variante war. Und der Zug raste weiter in das tiefe Loch hinein. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Elaine spukten merkwürdige Gedanken im Kopf herum, wie die bange Frage, ob sie jemals wieder das Tageslicht erblicken würde. Etwas flatterte mit einem halb glucksenden, halb klatschenden Geräusch an ihrem Kopf vorbei. Sie duckte sich erschrocken und hielt den Atem an. Und dann hörte sie das schneidende Schreien der Bremsen und fiel unkontrolliert nach vorne.

Das Licht ging wieder an, die Passagiere verließen geschäftig den Wagen und als Elaine sich endlich aufrappelte – mit etlichen Laufmaschen und blauen Flecken bereichert, mit komplett zerzausten Haaren und vor Aufregung immer noch erweiterten Pupillen – war der Kauz schon weg. Als sie ausstieg fand sie nur noch einen leeren Bahnsteig vor sich, mit der Überschrift „Endstation“. Und kaum stand sie auf dem Beton, schon brauste der Zug davon, wirbelte noch einmal ihre lose hängenden Haarsträhnen und ihren Rock auf und ließ sie völlig alleine mit ihrem Rucksack auf den Schultern und mit den Handschuhen des Kauzes in ihren Händen. Auch auf den Handschuhen waren die Initialen AK zu finden, aber diesmal mit einem goldgelben Seidenfaden gestickt. Elaine seufzte und steckte die Handschuhe in ihren Rucksack. Sie würde sie später einfach ins Fundbüro bringen. Warum sie nicht schon früher daran gedacht hatte?

Sie wusste nicht, wo sie war. Das machte ihr aber keine allzu großen Sorgen. Sie hatte sich schon oft genug mit der U-Bahn verfahren, als sie noch neu in die Stadt gezogen war. Sie musste nur eine Informationsstelle finden, einen Fahrplan der Linie oder den Stadtplan. Sie lief den Bahnsteig drei Mal auf und ab, fand aber nur eine Tafel mit der Überschrift „Suche/Biete“ und eine Unmenge von Graffitibotschaften. Da waren Sätze wie „Alice liebt ihre Vogelscheuche“ und „Lasst uns die Hexe töten!“, die absolut keinen Sinn ergaben. Elaine blieb nur eines: Nach oben zu gehen und sich die Gegend selbst anzuschauen.

Der Ausgang war mit einer Vielzahl verschiedener Pfeile gekennzeichnet, Elaine fühlte sich an einen Cartoon erinnert. Sie zuckte mit den Schultern und begann, die Treppe hinauf zu steigen. Es war ein mühsames Unterfangen. Die Rolltreppe schien außer Betrieb zu sein, weil sie sich nicht in Bewegung setzen wollte, ganz gleich, wie oft Elaine auf die Druckplatte trat. Andere Treppen gab es nicht. Also musste sie es mit der gegebenen versuchen. Schritt für Schritt kam sie nach oben, aber irgendwie langsamer, als sie es hätte tun müssen. Ungläubig blieb sie stehen und sah, dass sich die Treppe langsam nach unten bewegte, anstatt sie nach oben zu fahren, wie es hätte sein sollen. Elaine seufzte und legte einen Zahn zu. Die Treppe ebenfalls, so dass Elaine erneut nicht schneller vorwärts kam, aber dafür schneller außer Atem geriet. Sie gab auf und ging wieder langsamer.

Oben begrüßte sie strahlender Sonnenschein. Immerhin etwas Gutes. Sie befand sich an einer Straßenkreuzung, die nicht ausgeschildert war, und keine Ampeln hatte, und sah dennoch einen reibungslos ablaufenden Straßenverkehr. Das wäre aber nicht so schlimm gewesen, hätte es Schilder mit Straßen­namen gegeben. Elaine war immer noch so schlau wie vorher. Sie stand auf der Straße und die Passanten, die irgendwie alle gleich in ihrer Geschäftskleidung aussahen, gingen einfach um sie herum, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Aber sie wurde auch nicht angerempelt. Überhaupt, es gab keinerlei Zusammenstöße. Als ob die Leute ihre eigenen unsichtbaren Schienen verfolgen würden. Sie versuchte, einige Menschen anzusprechen, aber sie gingen einfach so an ihr vorbei, ohne mit der Wimper zu zucken. Als wäre sie Luft. Ganz schön unhöflich.

Dann ging ein Halbwüchsiger auf sie zu, mit längeren, zerzausten, strohblonden Haaren, wie ein Punk gekleidet und barfuß. „Hi, ich bin Boo. Eigentlich heiß‘ ich Peter, aber sie nennen mich hier alle Boo. Du bist neu hier, hm?“

Sie nickte und stammelte: „Ich b-bin Elaine.“

Er grinste, warf die Haare, die ihm ins Gesicht hingen, mit einer lässigen Kopfbewegung nach hinten, und sprach affektiert mit ausgebreiteten Armen: „Herzlich willkommen im Wunderland!“

Elaine sah ihn an und dachte sich, der Junge nimmt Drogen oder so etwas.

Er verzog den Mund und meinte daraufhin: „Ich weiß, was du denkst. Kleiner Spinner, faselt ’nen Mist und so. Okay, die Einheimischen nennen es nicht Wunderland. Auch nicht das Land von Oz,“ er grinste erneut. „Aber“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, „‘s könnte beides auf einmal sein. Ich bin schon ‘n paar Jahre hier, seit ich mit vierzehn Jahren von Zuhause weggelaufen bin. Mann, ich war ganz schön dämlich. Aber, das Glück ist ja bekanntlich mit den Dummen, also bin ich hier gelandet, mit so ’nem blöden Zug. Mann, das war die beste Achterbahnfahrt meines Lebens gewesen, zumindest bis dahin. Ich müsst‘ jetzt eigentlich so um die achtzehn, neunzehn sein. Ist auch egal. Ich glaube, die Leute hier werden nicht älter, als sie‘s sein sollen, also glaub‘ ich, ich bin der ewige Teeny. Schicksal.“

Dann kratzte er sich am Kopf. „Weißt du was, ich nehm‘ dich mal zu meinen Freunden mit. Da kannst du auch wohnen, bis du dich hier eingelebt hast und was Eigenes hast.“

Elaine blieb stehen: „Ich kann hier nicht bleiben, ich muss nach Hause. Meine Eltern werden mich sicher vermissen, wenn ich sie nicht hin und wieder besuche und meine beste Freundin sucht mich sicher schon, wir wollten heute Abend noch...“

Boo unterbrach sie: „Das kannst du vergessen. Einwanderer haben eine Wegfahrsperre für was weiß ich wie lange. Du musst schon bei dem Prinzen einen Stein im Brett haben oder ihm einen Riesengefallen tun, um wieder zurück zu dürfen. Aber hey, wieso auch? Wirst schon sehen, sobald das Heimweh weg ist, wirst du hier nicht weggehen wollen. Es ist extrem cool hier.“ Man merkte, dass der Junge schon länger weg war. Sonst hätte er vermutlich „krass“ gesagt.

„Ich will hier aber nicht bleiben! Ich habe doch schon alles, was ich brauche. Ich studiere, habe einen Job, was schon mal was heißt, ich habe meine Familie, meine Freunde und... und... und ich brauche das alles hier nicht!“

Boo sah genervt zum Himmel: „Vertrau mir, Schwester. Ich hab‘s auch durchgemacht und...“

Sie unterbrach ihn: „Hey, du bist von Zuhause weggelaufen. Kein Wunder, dass es dir hier so gut gefällt. Ich mag aber mein Zuhause.“

Er rollte die Augen: „Okay. Ich werd‘ hier warten und schauen, wie du‘s anstellen willst, wieder zurück zu gehen. Könnte lustig werden, du weißt ja, Schadenfreude und so.“

Elaine stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte bestimmt: „Du sagst mir jetzt, wie ich zu diesem Prinzen komme. Das kann doch nicht so schwer sein!“

Boo brach in schallendes Gelächter aus. Keiner der Passanten nahm auch nur die geringste Notiz davon. „Oh... oh Mann, du bist gut, ... eine Audienz beim Prinzen, weißt du überhaupt, wie schwer die zu kriegen ist? Seinen Kanzler oder seine Schreiber zu sprechen, das ist ja noch machbar. Aber der Prinz... der ist ziemlich menschenscheu. Du hast schon Glück, wenn du ihn ein Mal am Jahresende siehst. Und dann musst du ihn noch unter seinem Kostüm überhaupt erkennen – wir haben hier Maskenbälle am Ende des Jahres. Vergiss es und komm einfach mal mit. Ob du‘s mir glaubst oder nicht, es ist hier kinderleicht, neue Freunde zu finden.“

Elaine seufzte und spielte ihren letzten Trumpf aus: „Ich kann wieder zurückgehen und auf den Zug warten, Boo.“

Eine neue Lachsalve folgte: „Das habe ich auch schon versucht. Der Zug ist für die Eingeborenen, die mal unsere Welt besuchen wollen. Und er kommt nicht einfach so, wenn ein Einwanderer zurück will. Hat seinen eigenen Kopf. Den gibt‘s nur einmal auf der Welt, hier in der Hauptstadt.“

„Wie heißt sie denn?“

Er schüttelte den Kopf, als ob sie ein dummes Kind wäre, das nicht verstehen will: „Na, Hauptstadt natürlich! Wie soll sie denn sonst heißen? Normale Städte haben Namen, damit man sie unterscheiden kann. Die Hauptstadt braucht keinen Namen. Es gibt sie ja auch nur einmal. Genau wie den Prinzen. Ist doch einfach. Ach ja, du brauchst jetzt auch einen neuen Namen, deinen alten wirst du hier nicht benutzen können. Hey, wie wär‘s mit Dickkopf?“, er kicherte.

„Wie hast du denn bei deinem Charme Freunde gefunden?“, sie zog eine Augenbraue hoch.

Er winkte ab: „Ach was, hier geht ´s nur in bestimmten Kreisen um Umgangsformen – da aber richtig. Wir gemeinen Leute können dagegen tun und reden, wie‘s uns beliebt. Die Freiheit des einfachen Volkes, sozusagen. Aber welchen Namen willst du jetzt?“

Sie dachte nach. Ihre Großmutter nannte sie immer... „Ellie, ich will Ellie heißen.“

Er verzog den Mund: „Das ist zwar gewöhnlich und langweilig, aber okay. Es ist ja deine Entscheidung. Und jetzt komm!“

Langsam schlenderte er die Straße hinunter, aber Elaine hatte Mühe, ihm hinterher zu kommen. „Warte mal!“, rief sie, als sie ihn beinahe in der Menge verloren hatte.

Er blieb stehen: „Ach ja, du hast es ja noch nicht raus: Du brauchst deine persönliche Gehweise, damit du am besten dorthin ankommst, wo du hin willst. Ich schlendere, manche tänzeln vorwärts. Wie gehst du am liebsten? ‘s spielt keine Rolle, wie schnell oder langsam du früher damit vorangekommen bist. Nur nicht den Takt verlieren!“

Elaine versank in Kindheitserinnerungen. Dann begann sie zögerlich zu laufen. Es war nicht das Laufen von vorhin, um jemandem hinterher zu kommen oder um nicht zu spät zu sein. Es war das Laufen um seiner Selbst willen. Sie fühlte sich leicht wie ein Blütenblatt.

Boo pfiff ihr hinterher: „Cool! Du bist ein Läufer! Das ist stark!“

Nicht viel später kamen sie an einem heruntergekommenen Wohnungsblock an. „Hier wohnen wir. Was hast du bisher gemacht? Arbeit, mein‘ ich.“

„Ich studiere und jobbe nebenbei als Verkäuferin in einer Boutique.“

„Studieren bringt dir hier herzlich wenig. Aber verkaufen kannst du hier auch, wenn du dich erst mal daran gewöhnst, wie‘s hier gehandhabt wird. Na, du bist noch jung, das wirst du noch lernen. Komm jetzt.“ Boo zwinkerte ihr zu.

Der Aufzug war außer Betrieb. Boo meinte, das war genauso wie bei der Rolltreppe. „Wenn du in den fünften Stock willst, liefert er dich vielleicht im zwölften ab. Wenn du Pech hast, dann im Keller. Und dann musst du noch mehr laufen, als wenn du gleich losgegangen bist. Drum kosten die Wohnungen in den oberen Stockwerken fast nichts im Vergleich zu denen im Erdgeschoss. Schicksal.“

Wie Elaine beim Treppensteigen herausfand, lebten Boo und seine Freunde im siebten Stock. Oben angekommen war Elaine völlig außer Atem, während Boo anscheinend gar keine Probleme mit dem Aufstieg hatte.

Er hob nur leicht die Schultern: „Irgendwie hab‘ ich ne gute Kondition.“

Er klingelte. Das Geräusch war ganz anders, als die Klingeln, die Elaine bisher gehört hatte. Eine Mischung aus dem Klang des Wüstenwinds, aus feinsten Glöckchenklängen und dem Flattern tausender winziger Vogelflügel. „Corry mag die Klingel. Sie sagt immer: Der Besuch kündigt sich an wie ein Wunder. Und dabei ist sie sonst gar nicht so gefühlsduselig.“

Schon öffnete jemand die Tür. Es war eine Frau Ende zwanzig, mit stark zerzausten, pechschwarzen Haaren, in denen Vogelfedern steckten. Es waren Rabenfedern, soweit Elaine das erkennen konnte. Sie trug einfache, enganliegende, schwarze Kleidung, die irgendwie fransig, alt, und zerschlissen aussah. Auf ihrer Brust hing ein silberner Anhänger in Form eines Elaine gänzlich unbekannten Symbols. Unten war der Anhänger zugespitzt, damit hätte man sicherlich jemanden erstechen können. Wie Boo war sie barfuß. Ihre Zehennägel wie ihre Fingernägel waren schwarz lackiert, allerdings war der Lack teilweise abgeblättert und zerkratzt. Bis auf ihr Gesicht, ihre Hände und Füße sah man nichts als Schwarz. Und die nackte Haut, die zu sehen war, war wie mit einem Netz aus Narben bedeckt, meist waren es feine Linien, aber einzelne von ihnen waren auffällig wulstig.

Sie öffnete ihren schwarzen Mund zu einem raubtierartigen Lächeln: „Ich bin Corry.“ Elaine sah leicht spitze Eckzähne.

„Corry ist ... ach, sie ist was Besonderes. Für ihre Art Arbeit gibt es keine richtig treffenden Namen. Man nennt Leute sie Profis. Jedenfalls ist sie eine der Besitzer dieser Wohnung und meine beste Freundin – auch wenn sie mir oft auf den Wecker geht.“

Daraufhin grinste Corry breiter und zauste sein Haar, bis er wie eine Vogelscheuche aussah. „Da, da hast du‘s! Sie macht‘s schon wieder!“, er klang übertrieben verzweifelt.

„Du bist also Elaine? Entschuldige, ich meine natürlich Ellie. Herzlich willkommen. Und jetzt steh hier nicht wie angewurzelt herum und komm rein!“

Elaine befolgte sofort diesen Befehl. Die Wohnung begann mit einem engen, klaustrophobisch wirkenden Flur, der kaum beleuchtet– sie sah hier und da Teelichter brennen – und in dunklen Farben gehalten war. Auf den Wänden sah sie Gedichte in etwas helleren Farben geschrieben. Einige kamen ihr aus ihrer Schulzeit bekannt vor.

„Wusstest du, dass wir gerade den Romantikern gerne Besuch abgestattet hatten? Den Märchenschreibern und den depressiven Poeten... ein Jammer, dass diese Zeit um ist. Auch wenn‘s immer wieder nette Zeiten gibt. Früher war der Tornado eine Kutsche oder ein Boot.“ Corrys rauchige, dunkle, heiser wirkende Stimme klang in diesem Gang noch geheimnisvoller. „Folge mir. Wir halten immer ein Zimmer für unerwarteten Besuch frei.“

Seltsame Düfte stießen Elaine in die Nase, der Geruch von Herbstregen, von modrigen Kellern und von frischer Meeresbrise zugleich.

„Das ist mein Zimmer“, meinte Corry. Links, im Spalt der halboffenen Tür, sah Elaine aus massivem Naturstein gemauerte Wände, sehr eigenartig für einen Plattenbau, Spinnweben, Kerzenlicht und eine dunkle Ecke, die besänftigend und aufregend zugleich wirkte. Sie strengte ihre Augen an und erkannte eine etwas seltsame Schlafstätte, ein Nest aus Kissen und Decken. Im Vorbeigehen sah sie noch einen Schreibtisch, der vor Papier und Schreibsachen überquoll und einen großen Spiegel, in dem sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschen konnte. Etwas stimmte nicht daran, aber so schnell konnte Elaine nicht feststellen, woran das lag.

Gegenüber lag ein weiteres Zimmer. Daraus hörte Elaine herzzerreißend traurige Musik, die keinem Stil zuzuordnen war, weil sie alles in sich vermischte. Es roch ebenfalls nach Regen, aber mit Rosenduft und Tränen vermischt und dann war da noch der Geruch von Metall. Eine helle Männerstimme rezitierte ein sehr emotionales Gedicht.

Boo flüsterte leise, während Corry innehielt und der Lyrik lauschte: „Das ist Irony. Er versucht verzweifelt, seine verlorene Liebe zu vergessen, glaub‘ ich. Am besten, du sprichst das Thema nicht an, wenn er da ist.“

„Boo, du weißt doch gar nicht, wovon du sprichst“, zischte Corry.

Boo machte einen genervten Gesichtsausdruck und hielt seinen Mund. Im Vorbeigehen sahen sie Rosen in allen erdenklichen Farben, und eine Ritterrüstung. Dann ging die Tür zu.

„Ach ja, und er braucht seine Privatsphäre“, flüsterte Boo. „Aber, wenn er und Corry manchmal aneinandergeraten, da fliegen schon mal die Fetzen...“

„Hältst du wohl deinen Mund!“, zischte Corry lauter.

Boo zwinkerte Elaine zu und war wieder still.

Das nächste Zimmer auf der rechten Seite war ebenfalls bereits bewohnt. Es roch angenehm nach gutem Essen, nach Gemütlichkeit und nach faulen Sommernachmittagen. In einer Hängematte schlief leicht schnarchend ein athletisch wirkender junger Mann in Jeans und einem rotbraun karierten Holzfällerhemd. Das Zimmer war sehr gemütlich eingerichtet, fand Elaine. Vor allem der rustikale Esstisch und die Stühle fielen angenehm auf, aber auch das große, sehr bequem aussehende Bett.

„Das ist Leo, unser Wonneproppen. Wenn jemand bestimmtes das Schlaraffenland erfunden hätte, dann er. Manchmal, wenn er etwas zu viel getrunken hat und lustig wird, dann behauptet er das sogar – ach was, das tut er dann immer“, flüsterte Boo zu Elaine.

Leo lächelte im Schlaf. Trotz seines Barts und seines stämmigen Männerkörpers sah er fast wie ein Kind aus, so friedlich war sein Schlaf.

Das Zimmer gegenüber war verschlossen. Es war, als ob ein Schatten darüber liegen würde. Weder Corry noch Boo sprachen darüber und Elaine wollte nicht aufdringlich erscheinen, auch wenn gerade diese Stille sie neugierig machte.

Am Ende des Gangs, der bereits deutlich heller geworden war, befanden sich noch zwei weitere, leerstehende Zimmer, die Küche, das Bad und eine Rumpelkammer. „In einem der Zimmer hab‘ ich mein Quartier bezogen – rate mal, welches noch frei ist“, grinste Boo.

„Ich denke, das Zimmer rechts“, antwortete Elaine.

Corry grinste: „Das ist Boos Zimmer. Wenn das kein Zufall ist.“

Elaine räusperte sich und Boo fing an zu pfeifen. „Ich bin unschuldig!“, schrie er dann heraus. „Ich habe sie weder in den Zug gesetzt, noch sie dazu angestiftet. Ich habe nichts getan.“

Boo und Corry fingen zu Lachen an. Corry deutete ihr an, sie könnte schon vorgehen. Elaine schüttelte den Kopf und betrat das Zimmer. Es war praktisch, aber dennoch nett eingerichtet, ganz normal, ohne auch nur ein geringstes Zeichens des locker leichten Wahnsinns, der durch diese Welt schwebte.

Jetzt stellte Elaine ihren Rucksack ab und sagte: „Also, wenn ihr nicht vorhabt, mich wieder rauszuwerfen, dann bleibe ich gerne hier. Zumindest bis ich weiß, wie ich wieder nach Hause komme.“

Corry nickte und meinte nur: „Abendessen gibt es in einer Stunde – die Uhr steht gleich neben dem Bett. Pass auf die Zeit auf – bei uns verhält sie sich anders, als bei euch. Weniger langweilig“, Corry grinste wieder. Dann ging sie. Boo blieb noch.

Elaine spähte auf den Gang, aber sie sah niemanden mehr. Dann flüsterte sie: „Sag mal, was war denn das für ein verschlossenes Zimmer? Ist der Bewohner verreist?“

Boos Gesicht wurde ernst: „Es ist eine lange Geschichte, du musst sowieso noch einiges verdauen – frag mich wann anders, ja? Und kein Wort zu Corry. Sie mag nicht darüber reden. Private Probleme, verstehst du? Jetzt mach‘s dir mal bequem, ich bring‘ dir noch ein paar Klamotten zum Wechseln aus unserem Fundus. Bis gleich!“

Elaine saß vielleicht ein, zwei Minuten in diesem Zimmer, so sagte es ihr Zeitgefühl jedenfalls, und dachte über ihre Situation nach, als sie plötzlich hörte, wie Corry zum Abendessen rief. Auf dem Gang sah sie, wie Leo bereits die Küche betrat, dass Boo gerade unterwegs war und dann sah sie endlich Irony, der gleichzeitig mit ihr auf dem Gang erschien. Er war blass, wenn auch weniger stark im Vergleich zu Corry, schlank, schien Anfang dreißig zu sein. Seine stahlgrauen Augen waren umschattet, seine kurzen, schwarzen Haare leicht zerzaust. Gekleidet war er ganz in Schwarz – er trug einen eleganten Anzug mit einem Rollkragenpullover darunter und schwarze Schuhe. Er war der Einzige in dieser Wohnung, der Schuhe trug, so schien es. Irony sah sie kurz und prüfend an, nickte leicht zum Gruß und schlenderte in Richtung Küche. Seine ganze Erscheinung schien Elaine weiß machen zu wollen, dass allein seine Vernunft ihn dazu brachte, sein Zimmer und seine Gedankengänge wegen etwas so trivialem wie Essen zu verlassen. Elaine dagegen musste sich eingestehen, dass sie Hunger hatte. So hungrig war sie schon seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen. Damals hatte sie dieses bohrende Gefühl im Magen stärker wahrgenommen und jetzt kam es mit derselben Intensität wieder. Die Küche war gerade ausreichend groß für fünf Personen, fast zu eng sogar. Auf dem Tisch stand ein wohlriechender, dampfender Eintopf, den Leo gerade auf den Tellern verteilte. Corry schnitt dunkles Brot in Scheiben. Elaine setzte sich zu Boo, der sie zu sich winkte, und Irony blieb für kurze Zeit unschlüssig in der Tür stehen, bevor auch er Platz nahm.

Das Abendessen verlief zunächst still, bis Leo und Boo ihre Teller geleert hatten. „Hey, Leo, was gibt‘s heute im Humpty Dumpty?“

Leo schmunzelte: „Heute ist da ein neues Mädchen, eine Sängerin. Hab‘ gehört, sie ist eine Art Geheimtipp, könnte mal ganz groß rauskommen. Und dann das übliche: Saufen, Prügeln und Miezen aufreißen. Könnte sicher wieder ein guter Abend werden.“

Boo grinste: „So wie letzte Woche, als sie den halben Laden auseinander genommen hatten? Du warst doch auch dabei, hm?“

Leo nickte lachend: „Und ob! Ich war einer derjenigen, die das ganze Chaos wieder beseitigt haben. Aber: Es geht doch nichts über eine anständige Prügelei, hin und wieder. Zum Glück kommt der gute Hank damit klar.“

Irony sah gelangweilt aus dem Fenster hinaus, während Boo und Leo begannen, Anekdoten über das Lokal zu erzählen, und Elaines Blick folgte. Sie sah einen grauen Himmel, die Wolken hatten ihn inzwischen völlig zugezogen, der die Stadt wie eine Kulisse aus einem Traum erscheinen ließ. Sie sah Betonblöcke wie den, in dem sie sich gerade befanden und sie sah, wie der Wind Zeitungen und leere Plastiktüten durch die Straßen wehte, wie er mit ihnen spielte und sie sogar bis zu ihrer Höhe hinauftrieb. Corry stand auf und öffnete das kleine Teilfenster oben rechts. Der appetitliche Duft des Essens verschwand, und der Geruch von Staub und von bevorstehendem Regen füllte den Raum.

„Ich mache einen Spaziergang“, sagte Corry schließlich. „Kommt jemand mit?“

Irony nickte ihr zu, Leo winkte ab und Boo deutete mit seinem Kopf zu Leo.

„Was ist mit dir, Ellie? Willst du mit den beiden um die Häuser ziehen oder ist dir mehr nach Ruhe?“ fragte Corry.

Elaine wäre an sich gerne mit Irony mitgegangen, weil sie ihn irgendwie attraktiv fand, antwortete aber: „Ich denke, ich sehe mir mal dieses Humpty Dumpty an. Das klingt alles ziemlich lustig.“

Corry nickte und verschwand aus der Küche, Irony folgte ihr. Leo meinte: „Lasst uns schnell aufräumen, damit wir losziehen können.“ Also stürzten sich die verbleibenden drei auf den Abwasch.

Als sie die Küche verließen, um sich fertig zu machen, sahen sie Corry und Irony die Wohnung verlassen. Sie trug einen langen, schwarzen Mantel, der am unteren Rand bereits stark zerfranst war, aber gerade deswegen gut an ihr aussah. Er trug ebenfalls einen langen, schwarzen Stoffmantel, der aber wie neu wirkte. Seine Frisur saß jetzt perfekt.

„Wir sehen uns“, hörten sie seine helle Stimme.

Elaine suchte sich ein hübsches, nicht zu kurzes Kleid aus den Sachen heraus, die Boo ihr gebracht hatte. Sie fand auch die passenden Schuhe und eine Jacke dazu und dann war sie schon fertig. An der Aufmachung von Leo und Boo veränderte sich wenig, nur dass Leo jetzt feste Schuhe trug und Boos Haare noch wilder aussahen, als vorher.

„Na dann, legen wir los!“, rief Leo hinaus. Lärmend liefen die beiden die Treppe hinunter und Elaine hinterher, als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Inzwischen wurde es draußen immer dunkler, der Wind erstarb und drückende Schwüle legte sich über die Straßen. Sie sahen Corry und Irony hinter einer Ecke verschwinden, während ihr Weg sie zur Trambahn führte. Schon kam ein Wagen angerollt, seltsam antiquiert anmutend, ohne eine Nummer und ohne ein Ziel. Er hielt auf der Straße, einige Leute stiegen aus und die drei stiegen ein.

Die Passagiere unterschieden sich nicht von denen in der U-Bahn, sie waren ebenso gelangweilt und trist aussehend, ebenso grau und gewöhnlich. Elaine fragte sich, wieso Corry, Irony und Leo sich so stark von den anderen Bewohnern dieser Stadt unterschieden. Aber vielleicht hatte sie noch nicht genug gesehen, um ein Urteil darüber zu fällen.

Das Humpty Dumpty war eine von außen recht klein erscheinende, schmuddelige Kneipe, die innen zwar größer war, als vermutet, aber ansonsten der äußeren Erscheinung in nichts nachstand. Elaine sah einige Kakerlaken von einer dunklen Ecke zur andren huschen, aber die Gäste schien das nicht zu stören, ganz im Gegenteil. Einer von ihnen machte sich sogar einen Spaß daraus, eines der Insekten bei seiner Nahrungssuche zu beobachten. Dieser Gast war aber auch ziemlich angetrunken. Hier sah Elaine endlich wieder Menschen, die auch Menschen waren. Keiner von ihnen glich so einem grauen Niemand, der der vorherrschende Typ auf den Straßen der Stadt zu sein schien. Viele von ihnen waren bereits mehr oder weniger angetrunken, die Luft roch auch recht stark nach Alkohol und Zigarettenrauch, dessen blauer Dunst die Luft in der Kneipe erfüllte und dem ganzen Raum bei dem schwachen Dämmerlicht eine eigenwillige Atmosphäre verlieh.

Elaine musste husten, Boo grinste: „Keine Sorge, du gewöhnst dich dran, Ellie.“

Das geschah tatsächlich, nach nicht allzu langer Zeit. Eigentlich musste sich Elaine nur von der versmogten Luft auf den Zigarettendunst umstellen. Die drei nahmen sich einen immer noch freien Platz an der Bar, mit guter Aussicht auf die Bühne, auf der gerade die „Emeralds“ – die Stammband des Lokals – ihre Instrumente aufbaute. Der Leadgitarrist probte bereits einige Akkorde und Melodien nach der Anweisung einer jungen Frau etwa in Elaines Alter. Elaine dachte sich, dass das wohl die neue Sängerin sein musste. Die Kneipe füllte sich langsam.

Boo wechselte ein paar Worte mit dem Barkeeper und beugte sich dann zu Elaine, die den Platz zwischen ihm und Leo bekommen hatte: „Also, Louis sagt, die Kleine nennt sich Siren“, Boo grinste. „Mal hören, ob an dem Namen was dran ist. Sieht auf alle Fälle recht niedlich aus.“

Elaine rollte die Augen. Männer! Leo schien auch recht von ihr angetan zu sein, er trank langsam seinen ersten Drink und musterte Siren eindringlich. Elaine seufzte und beschloss, auch mal genauer zu betrachten, was an ihr denn so toll sein sollte.

Es schien wohl auch in dieser Welt so zu sein, dass der Großteil der Leute, die singen konnten oder sich für Sänger hielten, auch gut aussehen mussten. Siren war schlank, hatte dennoch eine ausgeprägte Oberweite, schulterlange rote Haare, die im Scheinwerferlicht selbst durch den Zigarettendunst golden glänzten, und war wie alle echten Rothaarigen leicht blass mit Sommersprossen. Ihre Augen waren hell, blau oder grau, vielleicht auch grün. Sie trug ein für Elaines Geschmack zu kurzes und zu enges Kleid in Mitternachtsblau, das an den Stellen, an denen das Licht darauf traf, leicht schimmerte, und schwarze, kniehohe Stiefel. Elaine war sich nicht sicher, was sie von dieser Frau halten sollte.

Boo riss sie mal wieder aus ihren Gedanken: „Was trinkst du? Ich lad‘ dich ein.“

Elaine lächelte: „Danke... aber ich habe keine Ahnung, was es hier gibt.“

Boo grinste wieder und schrie Louis zu: „Hey, mix‘ Ellie doch mal einen deiner Specials!“

Der Barkeeper nickte und begann, einen Cocktail zu zaubern. Leo bestellte inzwischen seinen zweiten Drink. Er schien nicht im mindesten angetrunken zu sein. Aber er hatte ja auch genügend Muskeln, um mehr vertragen zu können. Der Barkeeper war in rekordverdächtiger Zeit fertig und servierte Elaine etwas sehr angenehm und fruchtig duftendes in schönem, tiefen Blau.

„So blau wie Ihre Augen“, schmunzelte er.

Elaine lächelte den Barkeeper an und probierte. „Mhh... das ist gut...“ Louis hatte perfekt ihren Geschmack getroffen. Und falls da Alkohol drin war, so schmeckte man ihn nicht.

Inzwischen war die Kneipe gut voll, und Elaine fragte Leo, ob es in dieser Kneipe immer so war. Leo nickte, breit lächelnd: „Gewöhnlich schon, außer Montags, da ist hier zu.“

„Dann haben wir ja Glück gehabt mit den guten Plätzen hier, oder?“

Leo grinste: „Nicht wirklich – das sind unsere Stammplätze hier. Nur ist auf deinem Sitz ab und zu Corry, wenn sie mal mitkommt. Oder jemand, den wir mal mitnehmen“, Leo zwinkerte ihr zu und sah dann wie Boo wieder zur Bühne. Siren begann mit ihrer Show.

Alles in allem war die Musik gut, Sirens Stimme klang wunderbar, aber Elaine fühlte sich leicht unwohl und erneut überfiel sie das Heimweh. Sie nippte hin und wieder an ihrem Drink und wünschte sich, sie könnte einfach aufwachen und dann wäre nichts davon passiert. Während Leo nicht die Augen von Siren abwenden konnte und Boo mit dem Schlagzeuger im Takt auf seinen Oberschenkeln trommelte, schloss sie die Augen und versank im Selbstmitleid. Ganz gleich, wie schlecht der Tag angefangen hatte, jetzt war er erst richtig schlimm geworden. Jetzt war sie mitten im nirgendwo, unter Fremden, ganz gleich, wie nett sie auch sein mochten. Die Stimmung im Humpty Dumpty kochte inzwischen, da Siren nun das Publikum mit punkigen Songs anheizte. Als sie dann zum Höhepunkt ihrer Show kam, dem Lied „Passion Flower“, wurde es wieder recht still, gerade der männliche Teil der Gäste, selbst Louis, der inzwischen einiges gesehen und gehört haben musste, war hingerissen. Leo träumte vor sich hin, so schien es.

Siren beendete und das Lokal tobte, pfiff und klatschte. Louis nickte anerkennend, während er wieder einen Cocktail zusammenstellte und Siren gab noch mal eines ihrer fröhlicheren Lieder zum Besten. Dann verließ sie die Bühne und die „Emeralds“ übernahmen wieder.

Louis grinste Leo an: „Wenn ihr mal mit Siren plaudern wollt, wendet euch einfach an Hank, ja?“

Leo nickte eifrig und Boo grinste: „Klasse. Siehst du, Ellie, das ist der Vorteil davon, wenn man hier Stammkunde ist – der Service ist echt super.“

Elaine wusste nicht, ob das Anquatschen von Sängerinnen, die hier durch die Bars tingeln, ein wirklich so toller Service sei, aber sie nickte einfach. Leo genehmigte sich noch einen Drink und ging zu einer Tür neben der Bühne, auf der „Privat“ stand. Boo kippte die Reste seines Drinks ebenfalls runter und deutete mit dem Kopf zu Elaine. Das hieß wohl, dass sie ihnen folgen sollte. Sie ließ das Glas auf der Bar stehen.

Leo klopfte und ein kleinerer, kräftig gebauter Mann Ende 40 mit leicht gerötetem Gesicht öffnete die Tür: „Ah, Leo, schön dich zu sehen. Kommt doch rein!“

Boo flüsterte Elaine zu: „Das ist Hank, ihm gehört der Laden hier. Leo hat ihm schon öfters mal geholfen, seitdem sind die zwei dicke Kumpels.“

Nachdem sie in den Gang eingetreten waren, stellte Leo Elaine und Hank einander vor. Hank schüttelte ihre Hand, seine schwitze leicht, aber Elaine lächelte einfach drüber hinweg.

„Du bist erst heute angekommen? Oh weh... du musst wohl ganz schön verwirrt sein. Du, wenn du mal 'nen Job brauchst, ich kann immer Kellnerinnen gebrauchen. Na ja, ihr wollt ja zu Siren.“

Hank trottete den Gang entlang und die drei folgten ihm. Er blieb dann vor einer der Türen stehen, auf denen ein bereits verblichener Stern aufgemalt war und klopfte: „Miss Siren, hier ist Besuch für Sie. Können sie rein?“

„Aber sicher doch“, kam die Antwort.

„Also, ich geh dann mal, hab‘ noch zu tun. Ihr findet ja selbst raus, nicht?“

Leo nickte und Hank rauschte ab.

Leo klopfte erneut und öffnete dann die Tür. Siren hatte inzwischen eine einfache Jeans und ein weißes Hemd an und hatte sich abgeschminkt. Irgendwie sah sie jetzt besser aus, als auf der Bühne.

„Hallo... ich bin Leo und das sind Boo und Elaine. Das war eine echt tolle Show vorhin.“

Leo reichte ihr die Hand und Siren schüttelte sie lächelnd: „Danke, das ist immer wieder schön zu hören, dass meine Musik die Menschen anspricht. Seid ihr öfters hier?“

Boo grinste: „Fast jeden Abend.“

Siren lächelte daraufhin: „Na, dann werdet ihr mich noch ein paar mal sehen, schätze ich. Ich bin noch die ganze nächste Woche hier.“

Leo nickte: „Und dann?“

Sie schmunzelte: „Dann bin ich noch im Firestorm und im Foxy. Und dann geht‘s ab in die nächste Stadt.“

Leo nickte: „Verstehe. Trotzdem schade. Haben Sie mal Zeit, wenn ich mal fragen darf? Ich könnte Ihnen ja mal die Stadt zeigen.“

Sie lächelte wieder und drohte ihm mit dem Finger: „Das Angebot nehm‘ ich gerne an – aber ich warne Sie, Leo, ich bin keiner von diesen Starlets, die alles mit sich machen lassen.“

Er lächelte: „Schön zu hören. Nein, ich meinte, ich könnte Ihnen mal die Stadt zeigen – und vielleicht ein Autogramm haben?“

Sie kicherte: „Also gut. Ich bin jeden Abend hier – fragen Sie mich einfach mal vor der Show, wie‘s aussieht. Okay?“

Leo lächelte, nickte und schüttelte nochmals ihre Hand. „Dann auf Wiedersehen.“

Sie nickte: „Bis morgen dann, schätze ich. Bis dann auch ihr zwei.“

Boo grinste und winkte ihr zu und Elaine nickte und verabschiedete sich. Dann verließen sie die Garderobe und gingen wieder zur Bar.

Währenddessen schlenderten Corry und Irony immer noch wortlos durch die Stadt. Die Luft war immer noch schwül und stickig, viel zu warm und Corrys Gesicht schien leicht angewidert zu sein. Irony sah auf den Boden. Beide hatten ihre Hände in den Taschen ihrer Mäntel. Und die Gedanken beider kreisten um den ehemaligen Bewohner des verschlossenen Zimmers, Corrys jüngere und seit über drei Jahren vermisste Schwester Malvina. Die Wolken türmten sich auf, aber der Regen ließ und ließ auf sich warten. Corry zog an ihrem Rollkragen, als ob sie keine Luft bekäme. Irony sah verstohlen zu ihr und seufzte. Sie gingen weiter, schweigend, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken.

Plötzlich war ein Flüstern hinter ihnen zu hören: „Nein, dreht Euch nicht um, am besten tut so, als ob ihr mich nicht hört. Stellt keine Fragen, geht weiter. Mein Name und wer ich bin tut nichts zur Sache. Ich hab nicht viel Zeit. Ich möchte Euch etwas sagen, das Malvina angeht.“

Corry spannte sich an, Irony hielt für einen Augenblick die Luft an, aber beide verzogen keine Miene und gingen weiter, auch wenn ihre Schritte leicht stockten und Corry noch blasser wurde, als sie es schon war.

Das Flüstern folgte ihnen: „Gut so. Ich kann euch leider nicht mehr sagen, aber ihr müsst zusehen, dass ihr der Gräfin Pepper so bald wie möglich einen Besuch abstatten könnt. Fragt sie nach einer blauen Schleife. Und kein Wort zu ihr über das was hier geschah, oder ihr werdet mich nie wieder hören und die Kleine niemals finden.“ Ein Seufzen: „Sie ist ein so hübsches Ding...“, dann brach das Flüstern ab.

Corry erstarrte mit versteinerten Gesichtszügen und Irony drehte sich hastig um. Die Straße hinter ihnen war voller Passanten, graue Gesichter, graue Erscheinung, nichts Ungewöhnliches. „Verdammt!“

Irony ballte die Fäuste, Corry legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Ruhig. Wir gehen jetzt heim und warten auf die Anderen. Sie lebt noch, also wird sie gefangengehalten. Das heißt, wir haben die Zeit, die wir brauchen.“

Irony sah sie mit großen Augen voller Unglauben an, befolgte aber ihre Worte und sie gingen ebenso wortlos zurück, aber ein wenig schneller und bestimmter als vorher. Und dann begann es wie aus Kübeln zu regnen.

Corry erhob lächelnd ihr Gesicht, als die Luft vom Regen und dem aufziehenden Wind gesäubert und erfrischt wurde: „Irony... das könnte ein gutes Omen sein...“, flüsterte sie und ihr Gesicht entspannte sich.

Er lächelte traurig: „Ich hoffe, dass du auch diesmal recht hast. Das hoffe ich sehr...“

Beide waren klitschnass, als sie zu Hause ankamen. Aus dem Küchenfenster sahen sie, wie Leo und Boo lachend durch den Regen zurück rannten und auch Elaine, die von diesem Naturereignis wohl nicht sonderlich begeistert war.

Sie trafen sich erneut in der Küche, nachdem sich alle getrocknet hatten – alle außer Corry, die in dieser Zeit auf die anderen gewartet hatte. Sie lehnte sich am Fensterbrett an, Irony stand an der Arbeitsfläche, Elaine saß auf einem Stuhl wie Leo, und Boo stand im Türrahmen und nestelte nervös an seiner Kleidung herum. „Also, was ist denn? Was ist so wichtig?“

Irony senkte die Augen: „Es... es geht um Malvina.“

Leo hielt den Atem an, mit erschrockenem Gesichtsausdruck. Boo schluckte: „Ist... ist sie etwa...“

Corry lächelte schwach, mehr um sich selbst zu beruhigen: „Nein, offensichtlich nicht.“ Dann erzählte sie ihnen vom Vorfall.

Leos Augen leuchteten voller Hoffnung auf, Boo schien ebenfalls froh über diese Neuigkeit zu sein, aber Elaine verstand natürlich nicht, worum es ging: „Ähm... wer ist Malvina?“

Boo war so freundlich, es ihr zu erzählen: „Malvina ist Corrys jüngere Schwester. Sie ist ein wunderschönes Mädchen mit saphirblauen Augen, himmelblauem Haar und einer Engelsstimme und so liebenswürdig, wie sonst kein Mensch. Viele waren in sie verliebt, sie hatte überall Verehrer, vor allem am Hof. Sie wurde im Gegensatz zu Corry immer auf Feiern und Bälle eingeladen“, daraufhin kam ein abfälliges Grinsen von Corry, „und vor drei Jahren, am Ende des Jahres, da kehrte sie nicht mehr vom Maskenball zurück. Wir hatten sie überall gesucht, aber vergebens. Seitdem ist ihr Zimmer verschlossen.“

Irony fügte leise murmelnd hinzu: „Oh, sie liebte Veilchen und Mimosen... Sie war wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, wie ein zarter Schmetterling... Anders kann man Malvina nicht beschreiben. Wir hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, sie jemals wiederzusehen“, er seufzte.

Elaine schluckte. Das hatte es also mit dem verschlossenen Zimmer auf sich – und war es vielleicht so, dass Malvina Ironys verlorene Liebe war?

Corry seufzte: „Tja, das ist alles schön und gut – aber wie bekommen wir eine Audienz bei Gräfin Pepper? Irgendeine Gräfin wäre schon schlimm genug – aber die...“ Corry unterbrach und schüttelte den Kopf: „Das wird eine lange Reise, fürchte ich...“

Elaine unterbrach: „Ähm... wer ist Gräfin Pepper, wenn ich fragen darf?“

Corry grinste spöttisch: „Die ist ein echtes Unikat, sehr cholerisch und bissig, hält wenig von Freundlichkeit und Etikette und ist daher schon lange vom Hof ausgeschlossen – will da eigentlich aber auch gar nicht hin, weil sie alle dort für eine korrupte, verlogene Intrigantenbande hält, die außer ihrer Dekadenz nichts im Kopf haben. Die Gräfin selbst ist aber auch nicht gerade ein Beispiel an Humanität oder ein Vorbild für die Menschheit. Sie trinkt, raucht wie ein Schlot und ihre Sprache ist mit Sicherheit für eine Gräfin höchst unziemlich. Ach ja, sie trägt immer Kleider, die am Hofe schon seit einem Jahr aus der Mode sind, merkt das aber nicht. Nun ja, deswegen nimmt sie wohl auch keiner wirklich ernst. Das Problem ist nun, da sie recht abgeschieden lebt und fürchterlich... exzentrisch ist, werden wir es wohl nicht allzu leicht haben, zu ihr zu kommen, wir sind schließlich... Gemeine,“ dabei verzog Corry seltsam ihren Mund. „Wobei... hm... wenn wir wüssten, ob die Gräfin nicht vielleicht einen Auftrag für jemanden mit meinen Fähigkeiten hätte... oder wenn es ihr jemand einreden könnte...“ Corry versank in Gedanken.

Elaine seufzte.

Boo sah sie fragend an: „Was ist denn?“

„Das bedeutet dann also, dass ich alleine zusehen muss, wie ich heimkomme, wenn ihr alle jetzt nach Malvina sucht“, sie senkte die Augen. Das Heimweh wuchs wieder.

Boo legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter: „Hey, nicht den Kopf hängen lassen. Malvina ist beim Maskenball verschwunden. Es könnte sein, dass wir am Ende zusammen beim Prinzen landen – wenn uns jemand helfen kann, dann er. Er ist schließlich der Prinz. Wir finden Malvina und du kannst nach Hause – na, wie klingt das jetzt?“, er lächelte.

Irony schüttelte den Kopf und flüsterte: „Diesen Optimismus möchte ich haben.“

Elaine lächelte Boo tapfer an: „Wenn du‘s sagst.“

Sie beratschlagten bis tief ins Morgengrauen hinein wie sie es denn anstellen konnten, zu Gräfin Pepper zu kommen. Leo meinte im Scherz, das war schon lang nach Mitternacht, dass sie einfach rein spazieren sollten, aber der Vorschlag wurde einstimmig ignoriert. Elaine war da auch nicht mehr dabei gewesen – all die Aufregung war zu viel für sie gewesen und sie ging ins Bett. Wenn sie etwas träumte, dann nur wirres Zeug, an mehr konnte sie sich nicht erinnern.

Sie erwachte dennoch sehr früh – der Wecker neben ihrem Bett zeigte sechs Uhr an – und als sie sich gewaschen hatte und wieder in die Küche kam, bot sich ihr ein recht amüsantes Bild: Corry und Irony waren beide nebeneinander eingenickt, sie waren auf den Boden runter gerutscht und saßen an der Wand, beide seitlich aneinander gelehnt. Leos Oberkörper lag auf der Tischplatte und er schnarchte leicht, während Boo quer über dem Boden lag, wie ein Spielzeug, das von einem Kind abends liegengelassen wurde. Im Schlaf sah er noch ein, zwei Jahre jünger aus als sonst und war geradezu zum Knuddeln.

Und dann öffnete Corry die Augen und schmunzelte sie an: „Ah, du bist schon wach, gut. Aufstehen!“

Irony hörte sie am lautesten und schreckte hoch: „Was... ähm... oh, ja, richtig...“ Ächzend richtete er sich auf und knackte mit seinen Gelenken: „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ich bin über Nacht eingerostet...“ Dann verschwand er in seinem Zimmer, um sich umzuziehen. Es sollten dieses Mal Hemd und Krawatte werden.

Leo richtete sich ebenfalls auf und gähnte ausgiebig. „Wie... wie spät ist es denn?“

Elaine lächelte: „Kurz nach sechs.“

Leo rollte die halb geschlossenen Augen und blickte dann dumpf vor sich hin: „Und da weckt ihr mich so früh an einem Samstag?“ Er grummelte noch etwas und fasste sich an den Kopf.

Boo erwachte auch und begann erst einmal wild um sich zu fuchteln, bis er begriff, dass er in der Küche auf dem Boden lag. „Man, habt ihr ‘n Glück, dass ich kein Kampfsport kann.“ Dann gähnte er auch und verschwand im Bad. Als er wieder zurück kam, sahen seine Haare noch zerzauster aus, als vorher.

Sobald alle sich erfrischt hatten, waren sie in der Küche beim Frühstück versammelt, wo erneut ein heftiger Disput ausbrach, was sie denn tun sollten. Anscheinend waren sie in der Nacht nicht sehr weit gekommen.

Corry seufzte: „Also, was machen wir nun? Mit meinen höfischen Kontakten sieht es in letzter Zeit dürftig aus, und ich glaube nicht, dass es bei einem von euch besser aussieht. Wir wissen, wo sie wohnt, aber man wird uns ohne Grund nicht zu ihr lassen. Und unser mysteriöser Informant hat uns auch nicht verraten, wie wir zu ihr kommen sollen.“

Leo brachte erneut seinen Vorschlag: „Wir könnten ja einfach mal hingehen.“

Corry legte den Kopf auf die Seite, sah Leo eindringlich an und grinste dann: „Hm, vielleicht hat er ja recht. Wenn‘s nicht klappt, können wir immer noch etwas anderes versuchen.“

Leo schüttelte den Kopf: „Warum nicht gleich so... und wie kommen wir hin?“

Irony meinte dazu trocken: „Zur Not gehen wir zu Fuß.“

Elaine sah ihn ungläubig an: „Zu Fuß?“

Boo grinste: „Das ist hier in der Regel eh die beste Methode. Auf die Technik ist halt kein Verlass und Pferde haben wir keine. Das ist ein Adelsprivileg.“

Elaine schüttelte den Kopf: „Also, die Leute haben zwar Autos, aber Pferde zu haben ist ein Adelsprivileg?“

Corry schmunzelte: „So ist es. Wie Boo schon gesagt hat, ist auf die Technik kein Verlass – und wenn ich ehrlich sein soll, ich trau ihr auch nicht über den Weg. Ohne mich, in so ein Ding steige ich nicht. Der Tornado ist eine Ausnahme.“

Es kam ein Schulterzucken von Boos Seite dazu: „Wie auch immer. Und, wer hat einen Stadtplan?“

Leo sprang auf und ging kurz raus, Corry und Boo räumten derweil den Tisch leer.

Leo kehrte bald darauf zurück, mit einem Stadtplan und einem gelben Textmarker bewaffnet. „Oookay...“, er breitete die Karte auf dem Tisch aus, „los, Corry, du kennst dich doch am besten hier aus.“

Sie grinste und markierte eine Stelle auf der Karte: „Das sind wir – das Blockhaus Nummer 26 im Blauen Stadtviertel. Unser Weg führt uns vorbei an der „Grotte“, das ist ein Feinschmeckerlokal der besonderen Art im Waldviertel, dann durchs Gelbe Viertel, über diese zwei Brücken, dann kommt hier das Schlafmohnviertel, noch eine Brücke und dann sind wir fast da. Hier ist ihre Villa, im Smaragdbezirk – ein Adelsviertel“, sie rümpfte verächtlich die Nase, als sie darauf zu sprechen kam. Den eben erklärten Weg zeichnete sie mit dem Textmarker ein und machte einen dicken Kringel um ihr Ziel herum.

„Da müssen wir hin. Ich hoffe nur, dass Gräfin Pepper auch tatsächlich da und nicht zufällig verreist ist... Wir fragen am besten in der „Grotte“ nach, da speist sie, wenn sie mal das nötige Kleingeld beisammen hat.“

Boo grinste: „Auf, auf, folgen wir den gelben Strichen!“

„Wir sollten noch ein paar Sachen mitnehmen, nur für alle Fälle“, meinte Corry.

„Elaine, du solltest wissen, dass – nun ja, die Hauptstadt ist eben eine Welt für sich. Hier kann alles passieren. Du hast doch eine Tasche bei dir gehabt, richtig?“

„Ja, Sachen die ich für Zuhause eingekauft hab... aber werden sie denn was nützen?“

Corry schmunzelte: „Je unsinniger, desto besser. Wie gesagt, hier ist alles etwas anders. Kommt, wir wollen keine Zeit verlieren!“

Leo faltete den Plan zusammen und sie gingen packen. Elaine wunderte sich, wieso selbst Ortsansässige einen Plan brauchten, um sich zurechtzufinden, aber sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie nahm ihren Rucksack mit, zog sich nochmals um, diesmal etwas praktischer in Jeans und T-Shirt, mit einer Jacke darüber und Turnschuhen auf den Füßen. An Boos Äußerem änderte sich wenig, nur dass auch er nun einen Mantel trug, der noch zerfranster war, als der von Corry, mit ausgebeulten Taschen, in denen anscheinend auch einiges drin war. Leo blieb bei seinen robusten Klamotten, aber er nahm noch einen Rucksack mit, was auch immer darin sein mochte. An Ironys und Corrys Erscheinung änderte sich genauso wenig, er trug einen Aktenkoffer bei sich und sie eine schwarze Stofftasche über der Schulter. „Wollen wir?“ Sie verließen die Wohnung, Corry sperrte ab und los ging es.

Süße Träume, Elaine

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