Читать книгу Süße Träume, Elaine - Inga Kozuruba - Страница 5

Kapitel 3

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Elaine wusste nicht, wieso sie das einfach so, ohne nachzudenken tat, aber sie öffnete das Zauntor und betrat das Grundstück. Sie ging über den mit Schotter ausgelegten, sich durch den Rasen schlängelnden Weg in Richtung Haus. Es war, als ob sie in einem Traum handeln würde, aber sie hörte den Schotter unter ihren Füßen knirschen, spürte die kühle Luft um sich herum und roch das Gras, wie im wachen Zustand.

Plötzlich hörte sie Boo schreien: „Ellie, nicht!“

Sie drehte sich zu ihm, mit einem fragenden Gesichtsausdruck und sah seine vor Angst geweiteten Augen. Sie verstand sofort, warum er schrie, als sie sich wieder von ihm abwandte und zum Haus sah. Im Galopp, mit riesigen Sätzen, fauchend, grunzend und keifend raste das auf dem Schild genannte bissige Hausschwein auf sie zu. Es war ein Wildschwein, ein Eber, der gute anderthalb Meter hoch war. Seine Hufe gruben sich in die Erde des Rasens und schleuderten Erdklumpen und mit Wurzeln ausgerissenes Gras hinter sich, sein mit gewaltigen Hauern bewehrtes Maul schäumte und die Augen waren blutunterlaufen. Elaine erstarrte vor Angst, während die Bestie nur noch einen Satz brauchte, um die junge Frau durch einen Aufprall gegen den Zaun zu schleudern und ihr dabei vermutlich alle Knochen zu brechen. Aber zwei starke Arme zogen sie ruckartig nach hinten und jemand schloss das Zauntor gerade noch rechtzeitig. Der Eber bremste scharf, wobei sich seine Hufe in die Erde gruben und unschöne Furchen auf dem Rasen hinterließen, stellte sich auf die Hinterläufe, stützte sich mit den Hufen der Vorderläufe am Zaun ab und schnappte wütend nach der Gruppe. Sie wichen zurück, Elaine war immer noch schockiert und wurde deshalb weiter zurück gezogen.

„Mensch, Mädchen, mach das nie wieder“, hörte Sie. Es war Leo, dessen Reflexe und dessen Kraft ihre Rettung gewesen waren. Er hielt sie immer noch fest. „So, jetzt versprich mir, dass du nie wieder so etwas dummes machst, okay?“

Elaine nickte stumm. Dann ließ Leo sie los und sie stotterte ein Dankeschön. „Was ist denn nur los mit dir?“, dachte sie sich.

Corry verzog den Mund, dann entspannte sie sich wieder: „Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt. Ich schätze, deine Welt hat keine Überraschungen parat, was?“

Elaine sah zu Boden. „Nun ja, egal. Lasst es uns mal mit dem Dienstboteneingang versuchen.“

Dort herrschte reger Betrieb, Diener rannten rein und raus, sie trugen einige Dinge ins Haus und andere Dinge in die Kutsche. Manchmal sahen sie einen Karton oder einen Koffer mehrmals seinen Standort wechseln, als ob die Diener sich nicht entscheiden konnten, was sie mitnehmen sollten und was nicht – oder vielleicht waren sie einfach nur schrecklich konfus. Nur einer von ihnen stand herum und tat nichts. Er sah in den Nachthimmel und auf die Straße und jetzt, da die Gruppe am Eingang angelangt war, auch zu ihnen hin. Seine Augen musterten sie alle, aber ohne erkennbare Emotion. Er schien äußerst gelangweilt zu sein.

Corry ergriff das Wort, wie vor der Grotte: „Verzeihung, mein Herr, ist die Gräfin zu sprechen? Es geht um eine äußerst ernste Angelegenheit.“

Der Diener, dessen Leib aufgequollen war und dessen Gesicht an einen Frosch erinnerte, maulte nur: „Was spielt das nur für eine Rolle?“ Da war es wieder, die Leute dieser Welt schienen alle absolut durchgeknallt zu sein, dachte sich Elaine.

Corry räusperte sich nach einer kurzen Pause und wiederholte ihren Satz, diesmal mit mehr Nachdruck. Aber der Diener reagierte nicht anders als vorhin. Corry rollte die Augen und schrie ihn diesmal herrisch an, am Ende des Satzes gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Der Diener zuckte zusammen, aber das war auch schon alles, was sich an seiner Reaktion veränderte.

Corry seufzte: „Hätte ich mir gleich denken können. Den können wir vergessen. Gehen wir einfach rein.“ Also gingen sie ins Haus, vorbei an den geschäftig wirkenden Dienern.

„Was meint Corry damit, dass wir ihn vergessen können?“ fragte Elaine Boo.

„Hm, da gäbe es viele Möglichkeiten. Mit der Welt des Adels bin ich ehrlich gesagt nicht vertraut. Das heißt, ganz egal, was mir einfällt, es könnte für den Zustand von dem Typ noch tausend weitere Gründe geben.“ Das wurde ja immer besser, dachte sich Elaine.

Im Haus war es nicht minder turbulent, als bei der Kutsche. Es ging zu wie im Irrenhaus und das Gemurmel und Gebrumme der Stimmen verschmolz zu einem kakophonischen Wirrwarr. Überall sah man Diener herumlaufen. Vielleicht waren es gar nicht so viele, die Gräfin war auch nicht wohlhabend genug, um sich so viele leisten zu können. Aber es schienen Dutzende zu sein, wie sie aus einem Raum in den anderen rannten, mal beladen, dann wieder nicht. Zwischendurch schien es sogar, als würden sie einfach mal so die Livree wechseln, schnell wie ein Kostümwechsel im Theater. Der Gruppe stellte sich die Frage, wo sie nach der Gräfin suchen sollten. Corry meinte, so wie sie die Gräfin kennen würde, könne sie überall sein und gleichzeitig nirgends. Das lag daran, dass die Gräfin zu Hause die äußerst unangenehme Angewohnheit hatte, Hektik zu verbreiten, indem sie niemals stillstand, ständig von Zimmer zu Zimmer hetzte und mit schriller Stimme Anordnungen erteilte. Corry hatte schon einmal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, dies persönlich zu erleben.

Die Frage war nun, sollten sie sich trennen, um eine größere Chance zu haben, die Gräfin rechtzeitig anzutreffen? Leo war dafür und Boo ebenfalls, Elaine weniger, aber sie stimmte den beiden dennoch zu. Sie hatte Angst, sich zu verlaufen oder mal wieder etwas Unangenehmes herauszufordern, wie in einem Horrorfilm, aber andererseits schien es nur logisch, dass sie getrennt schneller zum Ziel kommen würden.

Irony warf ein: „Wir sollten trotzdem nicht allein herumlaufen. Wir könnten uns ja paarweise aufteilen.“

„Wir sind zu fünft, Irony – aber das macht nichts. Ich finde mich auch allein zurecht“, entgegnete Corry darauf. „Das Haus hat zwei Stockwerke, einen Keller und den Dachboden, wobei die Gräfin nicht auf den Dachboden geht, weil sie zu viel Staub mit ihrem Kleid aufwirbeln würde. Ich nehme den Keller.“ Corry sah die anderen an.

„Ich gehe mit Ellie“, meinte Boo und Elaine war es nur recht. Boo und Leo waren ihr bisher am sympathischsten.

Irony nickte: „Komm, Leo, gehen wir in den ersten Stock. Vielleicht hat sie allen Vermutungen zum Trotz doch noch eine Ruhepause vor ihrer Abreise eingelegt – das Schlafzimmer dürfte oben sein.“

Leo murmelte: „Also, ich möchte diese Schreckschraube nicht im aufgelösten Zustand sehen, selbst ausgehfertig ist sie sicher eine Zumutung“, aber Irony ging bereits zur Treppe.

„Na komm schon, Großer. Du wirst doch mit einer halben Portion wie mir mithalten können.“

„Hey, lass das!“ Leo setzte sich ebenfalls in Bewegung.

Corry war bereits unten im Keller. Dort war es ungewöhnlich leise und ruhig verglichen mit dem Trubel im Erdgeschoss. Keine Menschenseele zu sehen, nur Spinnen und Spinnweben. Corry ging leise und langsam zwischen den Regalen. Sie waren voller Tand und Lebensmittel, die quer durcheinander eingelagert worden waren. Dann kam sie an einigen Regalen mit Wein vorbei, in dem sich bestenfalls Jahrgänge mittlerer Klasse befanden, und noch immer war niemand da. Teilweise lag eine mehrere Millimeter dicke Staubschicht auf den Sachen, zunehmend mit der Entfernung zur Treppe. Da waren alle möglichen Dinge, je weiter Corry ins Gewölbe hineinging: alte Kleider, mit Gazeüberwürfen vor Staub geschützt und darüber mit eben diesem völlig zugedeckt. Auch Männerkleider waren dabei, die noch staubiger waren. Corry glaubte sich zu erinnern, dass manche von den Sachen den Eltern der Gräfin gehört hatten. Aber der Gräfin selbst hatten die Kleider ihrer Mutter nie gepasst. Im Gegensatz zu ihren eher schlanken Eltern war sie ziemlich beleibt, schon als Kind, wie ihre Großmutter mütterlicherseits.

Dann schließlich, am anderen Ende des Kellers, sah sie eine Truhe. Auf ihr waren Spuren von Händen im Staub, als ob sie erst kürzlich geöffnet worden war. Corry wurde neugierig und konnte nicht widerstehen, einen Blick ins Innenleben dieses schönen, aber völlig vernachlässigten und verstaubten Stücks zu werfen. Doch das schwarze Vorhängeschloss aus Stahl hinderte sie daran, es war neu und sogar frisch geölt, wie es aussah. Corry grinste verspielt und kramte einen Satz Dietriche mit ihren behandschuhten Händen aus ihrer Tasche. Zwei erfolglose Versuche brauchte sie, um sich auf das Schloss einzustellen, beim dritten machte es Klick und das Schloss sprang auf. Sie rieb sich die Hände, ölte die Scharniere und öffnete den Deckel, wobei sie sich bemühte, nur dorthin zu greifen, wo bereits Spuren im Staub waren.

Sie hatte einen modrigen oder zumindest miefigen Geruch erwartet, doch es kam nichts in der Art. Stattdessen schlug ihr ein sanfter Veilchenduft in die Nase. Corrys Gedanken wirbelten davon, in die Vergangenheit. Es war ein schöner, strahlender und warmer Morgen. Sie sah Malvina, ihre kleine Schwester, im Garten spielen. Sie war noch ein Kind, noch keine Verehrer hatten ihr Auge auf sie geworfen. Sie hatte sich Veilchen gepflückt und sie sich in die Haare gesteckt. Malvina hat so hübsch, so bezaubernd an diesem Tag ausgesehen, dass Corry selbst jetzt, viele Jahre danach, Tränen in die Augen kamen.

Es war Malvinas Duft, ihr Parfüm, und als die Erinnerungen Corry wieder verließen, glitzerten ihre Augen wie die eines wütenden Raubtiers auf. Sie hatte nach dem Ursprung des Duftes gesucht und eine blaue Schleife gefunden. Jetzt verstand sie, was das Flüstern gemeint hatte. Sie dachte bisher, die blaue Schleife sollte ein Codewort sein, aber dem war nicht so. Das war tatsächlich eine Schleife, eine Schleife von Malvinas Kostüm, welches sie in der unglückseligen Nacht getragen hatte. Eine blaue Schleife, wie ein Schmetterling, wie Malvina. Corry ballte die Fäuste und ihre Fingernägel bohrten sich durch die Handschuhe ins Fleisch. Sie achtete nicht auf den Schmerz. Sie war so wütend wie noch nie. Man hatte sie an der Nase herumgeführt und der ganze Adel schien daran beteiligt zu sein. Und sie erwischten sie an der Stelle, an der sie am verletzlichsten war – ihre kleine Schwester. Vielleicht war Ellies Auftauchen doch ein glücklicher Zufall gewesen, der ihnen jetzt helfen würde.

Corry seufzte mit geschlossenen Augen, dann verstaute sie die Schleife sicher und behutsam in der Innentasche ihres Mantels und sah noch einmal in die Truhe. Alles andere war ihrer Aufmerksamkeit nicht wert, auch wenn sich zu ihrer Überraschung auch ziemlich kostbare Stücke darin befanden – bis auf eine scheinbar weniger wichtige Kleinigkeit. Es war ein Büchlein, in inzwischen stellenweise abgewetztes Leder gebunden und verschnürt, kaum größer als ihre Hand. Corry steckte es in die rechte Innentasche ihres Mantels und schloss die Truhe wieder. Alles sah aus wie vorher. Corry war mit sich zufrieden, klopfte den Staub von sich so gut es ging ab und schlich wieder nach oben. Ein Paar kleiner, gelber Augen beobachtete sie aus einem dunklen Winkel heraus und kicherte still und schrill vor sich hin, als Corry wieder die Treppe hinaufgegangen war.

Leo und Irony waren im oberen Stockwerk angekommen, wo es ebenfalls ruhiger war, wenn auch nicht völlig ausgestorben. Einige Zimmermädchen hetzten hin und her, meist so beladen und so beschäftigt, dass sie die beiden Männer gar nicht wahrnahmen. Hier oben war es gemütlicher, auch wenn das Chaos der Vorbereitungen und der anscheinend sehr plötzliche Aufbruch der Gräfin ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten. Die meisten Bilder an den Wänden wurden bereits abgedeckt, um sie vor dem Staub zu schützen, der sich überall in der Hauptstadt breit machte.

Auch an diesem Haus sah man deutlich, dass seine Eigentümerin langsam verarmte, wie das auch bei Sir Karnickle der Fall war. Die Tapeten waren nicht mehr im besten Zustand und man sah ihnen ihr Alter an den vielen Abschürfungen und Kratzern an. Hin und wieder fehlte sogar eine Ecke hier oder dort. Das Parkett war ebenfalls zerkratzt und stellenweise waren auch Dellen zu sehen, die nicht durch die alten Läufer abgedeckt werden konnten.

„Du schaust in die Zimmer rechts, ich nehme die linken“, schlug Irony in einem leisen Tonfall vor. Leo nickte.

Vorsichtig lugten sie in einen Raum nach dem anderen, aber sie waren alle leer und die Möbel fast ausnahmslos abgedeckt. Auch das Schlafzimmer am Ende des Ganges stand leer, sehr zur Erleichterung beider Freunde. Die Gräfin wäre ganz und gar nicht begeistert davon gewesen, wenn ein Mann sie in einem solchen unvorbereiteten Zustand gesehen hätte. Sie war eine alte Jungfer mit scheußlichem Charakter und würde wohl gerade deswegen bis ans Ende ihrer Tage unverheiratet bleiben, aber sie war auch eine alte Jungfer aus Überzeugung. Und wehe dem Mann, der in ihr Schlafzimmer eindringen würde! Männer konnte sie fast genauso wenig ausstehen wie Kinder. Aber zum Glück war sie nicht da. Enttäuscht, aber nicht zu enttäuscht, machten Leo und Irony leise kehrt und begaben sich wieder nach unten.

Inzwischen streiften Elaine und Boo vorsichtig durch das Erdgeschoss. Auch hier herrschte in allen Räumen wildes Durcheinander und niemand achtete auf sie. Deswegen gaben sie bald ihr vorsichtiges Vorgehen auf, wurden selbstsicherer und ließen ihrer Neugier freien Lauf. Besonders faszinierend war der Empfangssaal, der wirklich gut erhalten und gepflegt war. Hier war ebenfalls alles darauf ausgerichtet, dass die Eigentümerin wohl eine Weile nicht von der Einrichtung Gebrauch machen würde und fast alle Möbel und Gegenstände waren bereits abgedeckt. Nur ein Blickfang blieb noch, das schöne Gemälde in Ölfarben über dem Kamin. Darauf war ein Paar abgebildet, eine hübsche Frau Mitte dreißig in einem schönen und sicher kostspieligen, nachtblauen Samtkleid, das Elaine an die Kleider der adligen Damen vom Hof des Sonnenkönigs erinnerte. Ihre honigblonden Haare waren zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, in die auch etwas blaues eingewoben war. Zudem war die Dame mit blauen Juwelen geschmückt. Der Mann war adrett gekleidet, er trug eine Uniform aus der Zeit von Kaiser Napoleon. Er sah gute zehn Jahre älter aus als die Frau, aber seine Augen waren mindestens so jung wie ihre. Das Bild schien nicht allzu alt zu sein, nur einige Jahrzehnte. Elaine schien es, dass hier das ungeschriebene Gesetz herrschte, Bildnisse von nächsten Verwandten über den Kamin zu hängen, zumindest kannte sie dies von Sir Karnickle. Doch Elaine kam nicht dazu, sich das Bild genauer anzusehen und vielleicht festzustellen, ob es auch lebendig war, weil einer der Diener gerade einen Staubschutz darüber hängte. Und bald darauf war der Raum verlassen. Stille breitete sich aus und den jungen Leuten wurde mulmig zumute. Sie gingen wieder auf den Gang hinaus.

Dort wurde es ebenfalls zunehmend stiller und stiller. Beiden kroch ein unangenehmer Gedanke ins Bewusstsein.

Boo flüsterte: „Oh, so ‘n Mist! Wir haben sie vielleicht schon verpasst!“

„Ja, aber was ist so schlimm daran. Wir könnten ihr doch hinterher reisen“, antwortete Elaine, die nicht verstand, warum Boo so aufgebracht war.

„Ähm, Ellie, das Problem ist, dass wir Gemeine die Stadt nicht verlassen dürfen – keine Stadt und keinen Ort – sofern uns nicht ein Adliger einen Auftrag gibt oder wir nicht einen Reiseantrag bewilligt bekommen – und die Prozedur dauert ewig. Das ist wieder so ‘n Adelsprivileg, verstehst du?“

Elaine seufzte. Schon wieder ein Adelsprivileg. In ihrem Inneren tauchte der Gedanke auf, dass diese Welt dringend eine Revolution brauchte. In Frankreich hatte es zumindest anfangs ja auch relativ gut funktioniert. Aber um diesen Gedanken weiter auszuführen blieb ihr keine Zeit. Sie mussten schließlich die Gräfin rechtzeitig abfangen.

Schnell liefen sie durch den Gang und suchten ein Zimmer nach dem anderen ab, aber alle Räume waren leer und verlassen, kein Laut zu hören, keine Regung zu sehen. Als hätten sich alle Diener in Luft aufgelöst. Sie sahen sich mit geweiteten Augen und angehaltenem Atem an.

„Vielleicht... vielleicht hatten die anderen mehr Glück...“, flüsterte Boo, den seine Stimme vor Aufregung und anwachsendem Schreck fast verlassen hatte.

„Bestimmt... sonst wären wir doch fündig geworden“, antwortete Elaine ebenso leise, auch wenn das nicht mehr nötig war, weil keiner sie hätte belauschen können.

Das Erdgeschoss hatte nur noch ein Zimmer, in das sie nicht hinein geschaut hatten. Unschlüssig standen sie im Gang, keiner traute sich, diese Tür zu öffnen und damit vielleicht festzustellen, dass alles vergebens gewesen war.

„Na, bei euch auch nichts?“, hörten sie einen kräftigen Bass hinter sich.

Beide zuckten erschrocken zusammen und drehten sich hastig um, aber der Schreck war völlig unnötig gewesen. Es war Leo. Neben ihm stand Irony und hinter ihnen kam auch schon Corry mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck aus dem Keller. Elaine schüttelte den Kopf. Und sie fragte sich, wie sich diese zwei so lautlos hatten anschleichen können, bei der Stille im Haus.

Boo deutete ans Ende des Gangs, wo noch eine geschlossene Tür auf sie wartete: „Das ist der letzte Raum hier unten, den hatten wir noch nicht.“

„Die Küche“, antwortete Corry knapp.

Sie gingen zusammen dorthin. Irritiert zögerten sie einige Augenblicke, denn hinter der Tür schien alles still zu sein, als ob auch dort niemand wäre. Corry legte bestimmt ihre Hand auf den Griff, drückte und die Tür öffnete sich.

Ihnen schlug ein lautes, irrsinniges Durcheinander entgegen, kreischende Stimmen, ein schreiendes Weinen oder Quieken, Geklapper von Metall auf Metall und dahinter leiser das Geräusch von Flammen. Noch schlimmer war allerdings die Luft, die sich aus dem Raum in den Gang ausbreitete. Sie war voller Wasserdampf, Schweiß, Essensgerüchen und vor allem roch sie durchdringend nach Pfeffer. Elaine fing sofort heftig zu niesen an, Boo nieste auch ein wenig, die anderen drei dagegen überhaupt nicht. Ebenso wenig niesten die Personen im Raum, zwei Frauen, die eine schien die Köchin zu sein und die andere war die Gräfin selbst. Die Köchin trug einfache, fast schon zerschlissen wirkende Kleider, fleckig und unordentlich. Ihre Haare waren hochgesteckt und darüber trug sie noch ein Tuch, um ihre Haare zu bändigen, doch ohne Erfolg. Überall unter dem Tuch kamen einzelne fettige und verfilzte Strähnen hervor. Die Gräfin trug eine für sie typische Kleidung. Für Elaine war es nicht zu erkennen, dass sie völlig aus der Mode war, aber um so mehr für Corry und Irony, die ihre Erfahrungen mit dem Hof gesammelt hatten. Die Kleider der Gräfin spannten sich um ihre Fettpolster und ließen sie noch dicker aussehen als sie ohnehin schon war. Zudem sahen sie alt aus und waren in einem fleckigen, zerknitterten und überhaupt sehr unordentlichen Zustand. Ihre hochgetürmten Haare mit grauen Strähnen darin sahen nicht wie eine Frisur, sondern mehr wie ein exotisches Vogelnest aus, nicht zuletzt auch deshalb, weil irgendwelche Dinge in ihren Haaren steckten. Ihr Gesicht war faltig und durch heftige Emotionen, vor allem durch Abscheu, stark verzerrt, zudem schrie sie auch noch. Sie stand an einem Tisch vor einem Teller Suppe und hielt ein Baby in den Armen, das sich schnell genug als ein rosiges, quirliges und sehr unruhiges Ferkel herausstellte. Es quietschte und brüllte fast wie ein menschliches Baby und es war auch genauso eingepackt, nur dass seine Windeln und Laken völlig chaotisch durcheinander gewickelt waren. Die Gräfin nahm keine Notiz davon, sie unterhielt sich kreischend mit der ebenso kreischenden Köchin. Beide waren so laut, damit sie den Ofen und das Klappern von Töpfen übertönen konnten. Dann drehten sich beide Frauen zu den in ihre Küche eingetretenen Eindringlingen um.

Ein wütendes und keifendes Brüllen ging auf sie hernieder. Die Gräfin begann, ihnen übelste Beschimpfungen und Beleidigungen an den Kopf zu werfen, sie schrie und schrie ohne Unterlass, ohne eine Atempause und lief rot an. Ein wenig später stimmte die Köchin mit ein und dann konnte außer den beiden Frauen keiner auch nur ein Wort verstehen, weil sich die Schimpftiraden miteinander vermischten. Nur die höhere Stimme der Gräfin und die tiefere der Köchin waren noch voneinander zu unterscheiden. Und selbst wenn sie etwas verstünde, der Großteil der Beschimpfungen war Elaine ohnehin gänzlich unbekannt. Corry, Irony, Leo und Boo standen dennoch mehr oder weniger unbeeindruckt da, Elaine dagegen fühlte sich wirklich klein. Schließlich hatte die Gräfin ja recht und sie waren unberechtigt in ihr Haus eingedrungen. Dieses Gekreische schien eine halbe Ewigkeit zu dauern und sie ertrugen es mit mehr oder weniger starker Gleichgültigkeit. Dann schrie Corry laut auf und alles verstummte. Nur die Töpfe klapperten noch ein wenig auf dem Herd und das Ferkel quietschte leise hin und wieder auf. Corry grinste kurz und wurde dann wieder ernst.

„So, jetzt können wir reden, Gräfin. Wir sind nicht grundlos hier, wie Ihr Euch denken könnt“, sprach sie kühl.

Die Gräfin war völlig entsetzt ob dieser Frechheit, holte tief Luft und wollte erneut zu einem Schmähmarathon ansetzen, aber dann schlug es zehn Uhr und sie war plötzlich wie verwandelt. Sie sah gehetzt zur Tür, dann wieder auf die Uhr und wirkte überhaupt nicht mehr so herrisch wie vorher.

„Ich habe keine Zeit für Sie. Sollen Sie später wiederkommen, wenn ich wieder hier bin. Es ist eine dringende Angelegenheit. Ich habe keine Zeit mehr. Ich muss dringend abreisen“, begann sie mit einer auf einmal schwachen Stimme zu stammeln.

Corry hörte eine Zeitlang mit einem angewiderten Gesichtsausdruck hin, dann sah sie die Gräfin durchdringend an und stoppte deren Stammeln mit ihrer kratzigen, kalten Stimme: „Ihr sagt mir jetzt, was ich wissen will und dann könnt Ihr sofort abreisen. Ich habe nicht all das auf mich genommen, nur um jetzt klein beizugeben.“

Elaine musste zugeben, dass das, was Corry sagte, sehr bedrohlich und wichtig klang, aber sie verstand dennoch nicht, was sie damit sagen wollte. Gut, dieser Tag war wirklich anstrengend gewesen, aber es war nicht der Weltuntergang.

Die Gräfin schien anscheinend mehr davon zu verstehen und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie begann um sich zu blicken wie ein gehetztes Tier, von einer Ecke zur anderen und immer wieder zur Tür und auf die Uhr, deren Zeiger sich unerbittlich weiterbewegten.

„Es liegt an Euch, wie lange wir hier noch alle warten müssen, Gräfin.“

Die Gräfin suchte immer noch nach einem Ausweg, aber die Tür war durch die Eindringlinge versperrt. Die Köchin sah Corry offen feindselig an und Elaine dachte sich, wenn Blicke töten könnten, dann wäre die Köchin wohl eine weltweit gesuchte Kriminelle.

Aber Corry ließ sich nicht davon abhalten, sie wurde nur etwas blasser als sonst, und starrte die Gräfin immer noch an. „Was sagen Euch die Worte „blaue Schleife“, Gräfin?“, stellte sie direkt ihre Frage.

Die Gräfin begann, von einem Fuß auf den anderen zu treten, ihr Gesicht wurde fahl und sie atmete flach: „Ich... ich weiß nicht, was Sie meint. Ich hatte nie mit so etwas zu tun. Ich weiß doch überhaupt nichts. Ich bin nur eine Gräfin. Nur eine alte Frau. Alle meiden mich und keiner lädt mich ein. Ich war schon seit Jahren nicht mehr am Hof“, dann bemerkte sie, dass sie schon zu viel gesagt hatte, ihre Augen weiteten sich, ihr Gesicht sah entsetzt aus und sie legte ihre beiden Hände auf ihren Mund, dass nicht noch mehr der verräterischen Worte daraus entschlüpfen würden. Die Köchin zischte wie eine Schlange, sagte aber kein Wort. Aber es genügte, um alle Eindringlinge bis auf Corry zu Eis erstarren zu lassen.

Sie ballte die Fäuste: „Der Hof, so ist das also. Und was haben die am Hof mit blauen Schleifen zu tun, Gräfin?“ Corrys Stimme wurde plötzlich schmeichelnd und sie lächelte und dieses Lächeln jagte Elaine plötzlich Angst ein.

Nicht anders erging es anscheinend auch der Gräfin. Zuerst schwieg sie, bis sie sich gesammelt hatte, dann antwortete sie leise, nach einem erneuten Blick auf die Uhr: „Ich weiß wirklich nicht viel. Ich war nicht dabei, als die Sache passiert ist, ich bin kein gern gesehener Gast und Sie weiß es“, die Gräfin blickte verstohlen zu ihrer Peinigerin und Elaine glaube verblüfft, dass sie im Blick der Gräfin so etwas wie Komplizenschaft mit Corry bemerkt hatte. Die Gräfin nahm einen Zipfel ihres Rocks in die Hände und begann darauf zu kneten: „Ich kann Ihr nur sagen, sie soll sich an Sir Kalderick wenden, er war dabei, wenn auch nur kurz und er weiß mehr als ich. Sein Exil vom Hofe kam erst danach, aber auch das muss Ihr bekannt sein, genauso wie die Gründe dafür. Mehr weiß ich nicht und jetzt sollen sie mich gehen lassen.“

Corry kniff ihre Lippen zusammen: „Ich glaube Euch nicht“, und sie setzte sich in Bewegung.

Die Gräfin sah die plötzlich schrecklich wirkende blasse Frau vor ihr mit Entsetzen an, aber Irony ging zwischen Corry und die Gräfin, bevor Corry etwas tun konnte.

Mit einem unwiderstehlichen Lächeln und einer samtigen Stimme, die Elaine fast ins Land der Träume entführte, meinte er nur: „Verzeiht uns, Gräfin, aber Corry ist so verzweifelt wegen ihrer armen Schwester. Sie schnappt nach jedem Strohhalm und kann nicht mehr klar denken. Dennoch würden wir Eure Hilfe wirklich brauchen, Edeldame, bitte, gewährt uns diesen Wunsch, auch wenn wir nur Gemeine sind.“

So sehr die Gräfin die Männer hasste, so wenig konnte sie dem unerwarteten Charme des Barden widerstehen. Sie lächelte höflich, wirkte auf einmal tatsächlich wie eine Edeldame und sprach hoch erhobenen Hauptes: „Nun, so sei es. Auch wenn ich nicht viel dazu zu sagen habe, so weiß ich noch, dass sie nicht vergebens suchen werden, da die Schleife nicht zerrissen wurde und auch nicht zerrissen werden wird, wenn sie sich damit abfinden, dass sie das Kleinod verloren haben. Und jetzt werden sie mich entschuldigen, ich muss abreisen.“

Ironys Gesicht spiegelte Hoffnung und Enttäuschung wieder, Corry versuchte erneut, zur Gräfin zu kommen. Die Köchin verschoss immer noch giftige Pfeile aus ihren Augen und tastete hinter ihrem Rücken nach irgend etwas und dann warf die Gräfin plötzlich das Bündel aus ihren Armen Elaine zu. Elaine fing das Ferkel, aber sie hatte nicht erwartet, dass die Gräfin so viel Kraft hatte. Sie taumelte einige Schritte rückwärts, aus der Tür hinaus. Die Gräfin nutzte den Moment der Überraschung und stürmte mit rauschenden Röcken hinaus, die Köchin direkt hinter ihr. Elaine fühlte sich an mehrere Sportarten zugleich erinnert, während sie versuchte, ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen. Und schon waren die beiden Frauen am anderen Ende des Ganges verschwunden.

Leo reagierte als erster und hetzte hinterher, danach Corry und die anderen, alle an Elaine vorbei und als sie sich auch zusammengerissen hatte und ihnen nachkam, standen sie alle am Ausgang. Sie konnten nur noch zusehen, wie die Kutsche der Gräfin, mit einem Berg von Gepäck auf dem Dach und hinter der Kutsche befestigt, in irrsinnigem Tempo und an den Kurven fast umkippend, davon raste.

„Verflucht!“ Das war Corry, die mit einer Faust gegen die Wand schlug.

Dann quiekte das Ferkel auf, riss sich aus Elaines Armen los und verschwand in der Dunkelheit der Straße, der Kutsche hinterher. Ihr blieben nur die Laken und Windeln. Sie waren allein im verlassenen Haus der Gräfin und der Mond stand bereits hoch am Himmel.

„Es ist schon spät und wir kommen heute nicht mehr heim. Wir sollten hier übernachten“, schlug Corry vor.

„Aber das können wir doch nicht tun, es ist das Haus der Gräfin“, entgegnete Elaine leise.

Corry zuckte die Schultern: „Wieso nicht? Wir klauen nichts und wir machen auch nichts kaputt – und sie hat uns ja nicht rausgeworfen, bevor sie ging.“

Boo nickte: „Ja, genau. Für all den Ärger, den sie uns eingehandelt hat, werden wir uns doch ein wenig herausnehmen können.“

Leo und Irony wechselten skeptische Blicke. „Ach kommt schon, Jungs. Uns wird nichts passieren. Na, was ist?“ Corry legte ihnen jeweils einen Arm auf die Schultern.

Leo grinste: „Na, wenn du mich schon so nett bittest, was soll‘s. Was kann schon schief gehen?“ Corry grinste zurück.

Irony nahm ihren Arm von seiner Schulter: „Ich habe trotzdem kein gutes Gefühl dabei, hier zu übernachten. Ich würde lieber im Freien schlafen. Du kennst diese Adelsvillen doch auch, Corry. Wir sollten...“

Corry nickte: „Ja, ich weiß, ich weiß. Aber wir haben morgen vermutlich einen mindestens genauso anstrengenden Tag. Sir Kalderick wohnt am anderen Ende der Stadt. Du weißt, er hat schon fast sein ganzes Vermögen verloren und konnte seinen Familienbesitz hier nicht halten. Wir sollten ausgeschlafen sein.“

Irony seufzte: „Also schön. Aber wenn etwas passiert, dann sag hinterher nicht, ich hätte keine Intuition.“

Corry grinste: „Für einen Kerl hast du beängstigend viel Intuition. Trotzdem sollten wir hier bleiben.“

Elaine seufzte. Es behagte ihr gar nicht, in diesem Haus übernachten zu müssen, aber sie hatte wohl keine andere Wahl. Ganz alleine irgendwo im Freien zu schlafen wollte sie auch nicht. „Na schön, wenn ihr es alle wollt, dann bleibe ich auch hier.“

Boo grinste und kniff sie in die Seite: „Na also. Wir könnten ja noch eine Pyjamaparty schmeißen, na, was ist, Mädels?“

Corry schüttelte den Kopf: „Vergiss es, Boo. Wir müssen uns ausschlafen.“

„Och Menno“, kam noch die enttäuschte Antwort, aber Boo grinste. Er hatte keine andere Antwort erwartet.

Sie suchten sich jeder ein Zimmer im oberen Stockwerk. Elaine machte als letzte die Tür hinter sich zu, nachdem sie alle anderen auf den Zimmern verschwinden sah. In diesem Haus gab es keine elektrische Beleuchtung und Elaine hatte zuerst Mühe, sich zurecht zu finden, aber dann gewöhnte sie sich ans Mondlicht und fand auch eine Schlafgelegenheit, eine Chaiselongue. Kaum legte sie sich hin, verfiel sie in einen tiefen Schlaf, genau wie die anderen, und wie ihnen bescherte ihr die Nacht äußerst unangenehme Träume.

Während der Nacht holperte die Kutsche der Gräfin über die Pflastersteine des Smaragdviertels, sie raste die Straßen entlang, dann wechselte der Straßenbelag zu Teer als sie den Adelsbezirk verlassen hatte, und es ging noch schneller voran. Sie kam innerhalb der kürzesten möglichen Zeitspanne an der Stadtgrenze an und die Gräfin seufzte erleichtert. Sie glaubte sich in Sicherheit, doch dann fiel sie unkontrolliert nach vorne. Die Kutsche stand still.

Sie wurde von Gendarmen aufgehalten, aus dem Fenster konnte sie zwei Wagen sehen. „Gräfin Agatha Pepper?“, hörte sie eine tiefe und ausdruckslose Stimme von draußen, dann öffnete sich die Tür der Kutsche und zwei der Gendarme blickten sie an.

Ihr Herz rutschte in ihre Zehenspitzen und kaum hörbar sagte sie ja.

„Ihr werdet sofort aufgefordert, sich zum Palast zu begeben“, kam der Befehlston, wiederum von draußen, als ob sie nicht wissen sollte, wer zu ihr sprach. „Eure Kutsche wird solange konfisziert. Bitte steigt in unseren Wagen um.“

Die Gräfin hatte zunächst das Gefühl, dass sie jeden Augenblick an Aufregung sterben würde, aber sie riss sich dennoch zusammen und stieg aus. Dass ihr das in ihrem Alter noch passieren würde, hatte sie nicht erwartet, aber sie hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei dieser ganzen Affäre. Nun, jetzt war es zu spät. Es war auch nicht nötig, Fragen zu stellen, sie würde schon früh genug herausfinden, was man mit ihr vorhatte. Sie ließ sich zum Wagen führen, ein Automobil, welches Elaine an die zwanziger Jahre erinnert hätte. Unsanft wurde sie wie eine gewöhnliche Delinquentin hinein gedrückt und der Wagen fuhr los, in Richtung des Palastes. Einer der Gendarme stieg auf den Kutschbock, setzte sich neben den Kutscher und befahl ihm, hinterher zu fahren. Die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung. Eine zerzaust aussehende Frauengestalt verschwand im anderen Wagen, zusammen mit den letzten Gendarmen, und ein Bündel wechselte von ihnen zu ihr.

Elaine träumte davon, wie sie in ein wundersames und wunderschönes Palast gebracht wurde, wo alle sich vor ihr verneigten und ihr freundlich zulächelten. Dann sah sie einen jungen Mann, mit einer mit Edelsteinen besetzten goldenen Krone auf seinem Haupt. Auch er war sehr freundlich zu ihr. Sie hörte kein Wort, aber sie verstand alles und dann führte er sie zu einem riesigen Spiegel. Darin sah sie ihr Zuhause, ihre beste Freundin und ihre Eltern, die zusammensaßen und sehr bestürzt wirkten. Ein Polizist war bei ihnen und er stellte ihnen Fragen und notierte die Antworten. Sie galt schon seit Tagen als vermisst. Elaine war entsetzt darüber, schien ihr doch die Zeit hier kaum mehr als ein Tag gewesen zu sein. Es traf sie sehr hart, ihre Lieben so verletzt zu sehen und eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Und dann berührte der Prinz sie an ihrem Kinn, hob ihr Gesicht höher, so dass sie ihn wieder ansehen konnte, wischte ihre Träne weg und lächelte ihr zu. Er deutete wieder auf den Spiegel. Sie sah eine veränderte Szene, als wäre nichts gewesen, sie sah sich selbst bei den Menschen, die sie liebte und sie hatte das Gefühl, dass alles mehr als nur wieder gut geworden war.

Der Prinz wollte ihr das schenken, verstand sie, wenn sie eine Kleinigkeit für ihn erledigen würde. Das war wirklich eine winzige Sache, kaum der Rede wert, völlig unbedeutend und Elaine fühlte sich auch bereit dazu. Sie sollte nur einem blauen Schmetterling die Flügel ausreißen. Und dann sah sie die Augen des Schmetterlings, winzige Sterne und erschrak vor dieser Tat. Sie streckte ihre Hände aus, als ob sie sich vor all dem abschirmen wollte. Dann stürzte alles in sich zusammen und Elaine fühlte sich elend. Sie war wieder in der Betonwüste, für alle Ewigkeit und alle Passanten ignorierten sie und sie war völlig allein. Sie wachte auf und sah die Sonne aufgehen. Es sollte ein heißer Tag werden. Dennoch war ihr eiskalt. Sie stand auf und suchte nach den anderen.

In seinem Traum war Boo unterwegs. Er hatte mal wieder kein Geld in der Tasche, aber er fühlte sich frei. So frei, wie er sich nie im Leben gefühlt hatte. Er genoss die Sonne, den Wind und selbst die Passanten schienen ihm an diesem Tag freundlicher als sonst. Er sah mitten auf dem Asphalt eine kleine blaue Blume wachsen. Und er wollte sie pflücken. Noch nie hatte er Blumen pflücken wollen, aber diesmal war ihm danach. Er beugte sich runter und griff bereits nach ihr, aber dann zögerte er. Vielleicht wäre es besser, sie wachsen zu lassen. Dann könnte sie noch mehr Leute erfreuen. Er richtete sich wieder auf. Und dann kamen die Gendarme. Sie packten und schlugen ihn und dann zog ihn einer von ihnen zum Wagen und ließ ihn ins spiegelnde Seitenfenster schauen. Boo sah sich mit Entsetzen wieder in seiner Heimat, in der Armut seiner Familie, er sah seinen Vater, der mit geballten Fäusten und vor Alkohol rotem und aufgedunsenem Gesicht auf ihn zuging und begann am ganzen Leib zu zittern. Keiner sprach ein Wort, aber er verstand, was man von ihm wollte – er soll die Blume nehmen oder zurückkehren in die Welt, die er zu hassen gelernt hatte. Boo hatte schreckliche Angst, aber er zögerte immer noch. Dann wachte er auf, schweißgebadet und sah mit Erleichterung den Sonnenaufgang, das Zimmer im Haus der Gräfin und seine eigenen Füße, die frei waren zu gehen, wohin sie wollten. Er sprang auf und hastete auf den Gang.

Leo träumte von einem gemütlichen Haus am Stadtrand, wo er ein ruhiges Leben führen konnte, wo seine Freunde ihn besuchten und wo seine liebreizende Frau Siren bei ihm war. Es war ein schöner, gemütlicher Sommernachmittag, er saß draußen und genoss schweigend das Leben. Dann hatte er das Gefühl, dass Siren ihn brauchte. Er hastete zu ihr und musste lachen, als er sie sah, wie sie sich vor einer blauen Maus fürchtete. Siren flehte ihn an, dieses Ungeziefer zu töten. Auch wenn sie dabei kein Wort sprach, so verstand er sie dennoch. Er verstand aber nicht, wo das Problem war. Die Maus sah friedlich aus, sie hatte schönes, glänzendes Fell und war ein hübsches, niedliches Tierchen. Sie erschien ihm gänzlich harmlos. Siren begann zu schreien, die Maus lief weg und dann kam ein schrecklicher Sturm und fegte alles in einem Augenblick fort. Er stand vor dem nichts, inmitten einer bedrückenden Szenerie aus Hochhäusern, und ein Leben voller endloser Mühsal wartete auf ihn. Er schrie auf, als er aufwachte und rannte aus dem Zimmer auf den Gang.

Irony war noch lange Zeit wach, weil ihn ein ungutes Gefühl wach hielt. Doch irgendwann gewann die Müdigkeit die Überhand und er schlief ein. Er fand sich erneut als ein gefeierter Dichter am Hof wieder, und alle beteten ihn an. Alles war vergeben und vergessen, der verlorene Sohn zurückgekehrt und der Prinz wollte ihm die höchsten Ehren zukommen lassen. Irony war so erleichtert, dass das alles endlich vorbei war, denn nichts war ihm lieber als die Menschen mit seinem Talent zu erfreuen, sie zum Lachen oder zum Weinen zu bringen, sie nachdenklich oder sorglos werden zu lassen. Jetzt standen ihm wieder alle Tore offen und er musste nur um Vergebung bitten. Vergebung für seine kindische Laune, wegen der er dem Hof den Rücken kehrte, wo man ihn dort doch so liebte. Vergebung für einen Fauxpas, der alle zutiefst getroffen hatte. Vergebung für etwas, was er niemals hätte tun dürfen. Er öffnete den Mund und suchte schon nach dem bestmöglichen Ausdruck, dann hielt er inne. Er erinnerte sich, dass er keine Tat begangen hatte, wegen der er um Vergebung bitten sollte. Er erinnerte sich auch daran, dass der Hof ihm etwas angetan hatte und nicht anders herum. Und er erinnerte sich an ein böses Spiel. Er schüttelte nur wortlos den Kopf und fand sich in einem Kerker wieder, mit herausgeschnittener Zunge und ausgebrannten Augen, seine Arme gefesselt und seine Ohren mit Blei versiegelt. Für immer. Irony schrie, als er erwachte und er war nur selten so froh gewesen, seine eigene Stimme zu hören. Er atmete tief durch.

„Ich habe es doch gleich gesagt“, dachte er sich, „dieser Ort bringt nichts Gutes“. Dann korrigierte er seine Kleidung und ging aus dem Zimmer.

Auch Corry plagte sich die erste Zeit, bevor sie endlich einschlief. In ihrem Traum war sie irgendwo, wo es heiß und stickig war, schwül und klebrig. Ein widerlich süßlicher Geruch hing in der Luft und verklebte nahezu ihre Nase und ihre Lungen, wie es ihr schien. Sie konnte nicht sprechen, weil ihr Mund voll mit einer klebrigen, genauso ekelhaft süßen Masse war, die ihre Zunge und ihre Kiefer zusammenhielt. Sie musste aufpassen, dass sie nichts davon schluckte, sonst könnte sie daran ersticken, dessen war sie sich sicher. Sie war eingesponnen in ein riesiges Spinnennetz, das weiß und glitzernd war, aber das Glitzern war stumpf in dieser Luft. Ihre Augen sahen kaum etwas durch den dicken, rostigen Nebel, der überall um sie herum war. Sie konnte sich kaum bewegen, nur ein schwaches Winden war ihr möglich.

Sie hörte Stimmen um sie herum, Flüstern, Kichern und dergleichen, aber sie verstand kein Wort, nur dass diese Stimmen sich über sie lustig machten und sie verspotteten. Und etwas bewegte sich über ihre nackte Haut, die nicht in die feinen Netze eingesponnen war, etwas glitschiges und ekelhaftes. Manchmal kroch auch etwas vorbei. Manchmal fühlte es sich an, als ob etwas sie ablecken würde und eine Schleimspur hinterließ. Die Übelkeit nahm immer mehr zu und raubte ihr den Atem, das Bewusstsein und den Verstand. Sie wollte nur raus. Aber sie konnte nicht. Zu spät, hörte sie in ihrem Verstand, schon viel zu spät. Du hängst schon im Netz, du weißt es nur nicht. Und dann sah sie noch fünf weitere Kokons, aus einem von ihnen hing ein blaues Bändchen heraus und Corry begann zu schreien und sich von einer Seite zur nächsten zu werfen. Sie erwachte, als sie von der Couch fiel. Sie musste husten. Dann riss sie sich zusammen und verließ den Raum. Die Sonne rötete den Horizont.

Sie trafen sich im Gang des Obergeschosses, alle sahen die anderen und wussten, dass die Nacht für jeden von ihnen schrecklich war. Keiner sprach ein Wort.

„Sie... sie wollen uns aufhalten, denke ich“, flüsterte Corry so leise, dass die anderen ihre Worte fast nicht wahrnehmen konnten.

Irony wirkte sehr düster, als er nickte. Die Schatten um seine Augen schienen heute dunkler zu sein und Corrys Narben stachen noch weißer aus ihrer Haut hervor als sonst. Boo wirkte sehr verängstigt und sehr viel jünger. So hatten ihn Leo, Irony und Corry in seiner ersten Zeit in ihrer Welt erlebt und es machte ihnen auch Angst, ihn wieder so zu sehen. Auch bei Leo hatte sein Traum Spuren hinterlassen. Der große Kerl schien kleiner geworden zu sein und seine Vitalität bemerkte man kaum.

Elaine wusste nicht, wie sie aussah, aber alle andern sahen deutlich Zweifel und Heimweh in ihren Augen. „Ich... ich habe Angst, dass ich nie mehr nach Hause komme.“

Corry ging zu ihr und umarmte sie: „Ich weiß. Ich hatte auch Angst, als ich geträumt habe. Wir werden es schaffen. Das zeigt doch nur, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Sonst würden sie uns machen lassen und sich ins Fäustchen lachen über unsere Blindheit. Wie alle Jahre zuvor. Wir finden Malvina und wir bringen dich wieder heim. Versprochen.“

Elaine war erstaunt Sie hätte nicht erwartet, dass Corry sie trösten würde, diese Frau kam ihr bisher immer so hart und stachelig vor. Sie lächelte: „Danke.“

Die Freunde wechselten Blicke, bestärkten sich mit einem Lächeln und verließen das Haus. Die Sonne lugte über den Horizont und der Tag versprach, richtig heiß zu werden. Sie gingen weiter ihren Weg.

Süße Träume, Elaine

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