Читать книгу Süße Träume, Elaine - Inga Kozuruba - Страница 4

Kapitel 2

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Der Tag war klar und sonnig, nur einige Schäfchenwolken waren am Himmel zu sehen. Die Straßen glänzten, sie waren immer noch nass vom nächtlichen Regen. Inzwischen war es wieder richtig warm geworden und der Asphalt der Straßen war inzwischen größtenteils von der Sonne beschienen, die über dem Rand der hohen Betonblöcke erschien. Corry schirmte sich die Augen ab und setzte dann mit ihren schwarz behandschuhten Händen eine tiefschwarze Sonnenbrille auf, die an eine Schweißerbrille erinnerte.

Irony lächelte: „Du hast noch immer etwas gegen die Sonne.“

Corry seufzte: „Ich habe es dir schon so oft gesagt, die Sonne ist mir viel zu aufdringlich.“ Dann schob sie sich zusätzlich einen Teil ihrer verwuschelten Haare wie ein Sonnendach vors Gesicht. Boo und Leo zuckten die Schultern.

„Also, ist doch ein schöner Tag für einen Spaziergang, nicht?“, meinte Elaine.

„Ich weiß nicht, ob das wirklich ein Spaziergang wird, Ellie“, murmelte Corry.

Elaine sah sich um, in der Hoffnung, diese Bemerkung verstehen zu können. Sie wurde erneut darauf aufmerksam, dass die Straßen erneut voller grauer Leuten waren. „Was ich schon mal fragen wollte – warum sind die so anders im Vergleich zu euch?“

Corrys Gesicht drückte nur Abscheu aus, aber auch Leo und Irony verzogen ihr Gesicht.

„Das sind Beamte. Sie dienen dem Hof und der Behörde, mit denen kann man nicht reden“, Boos Gesicht war todernst. „Am Besten ist‘s, wenn du sie ignorierst, wie sie uns, sonst gibt’s jede Menge Ärger.“

„Lasst uns gehen, reden können wir auch so“, ordnete Corry an und ging los. Die anderen folgten.

Mit Erstaunen musste Elaine feststellen, dass die Straßen, denen sie zwischen den großen Betonklötzen folgten, eine gelbliche Tönung angenommen hatten. „Was ist denn mit dem Asphalt los?“, sie deutete nach unten.

Boo grinste: „Corry hat doch den Weg markiert, erinnerst du dich? Also, wenn nicht irgendwelche Touristen auf dieselbe Idee kommen, brauchen wir nur der gelben Spur zu folgen. Aber – ich glaub‘ nicht, dass irgendwelche Touristen es mit Corrys Fähigkeiten aufnehmen können.“

„Fähigkeiten?“

„Na ja, sie ist eben ‘n Profi“, Boo stupste sie leicht mit dem Ellenbogen an, „und es ist immer gut, ‘nen Profi dabei zu haben.“

„Was ich dich schon gestern fragen wollte: Ein Profi in was?“

„Na, ‘n Profi eben. Ich hab‘ dir doch schon gesagt, ihre Arbeit ist so einmalig, dass es dafür keinen Namen gibt.“ Elaine schüttelte den Kopf.

Boo grinste wieder: „Keine Sorge, du gewöhnst dich dran. Übrigens, es ist echt gut, dass du deine Tasche dabei hast. Dinge aus deiner – unserer – Welt funktionieren hier ganz merkwürdig, oft noch merkwürdiger, als die Dinge hier.“

Dazu wollte Elaine lieber keine Fragen mehr stellen, aus der Befürchtung heraus, dass sie entweder mit unzähligen neuen Unbekannten zugeschüttet oder eine noch nebulösere Antwort bekommen würde und im Endeffekt nicht schlauer wäre als vorher.

Sie gingen weiter, die Sonne stieg immer höher und nach einiger Zeit verließen sie das blaue Viertel und betraten das Waldviertel. Die Häuser waren immer noch Klötze aus Betonplatten, aber inzwischen war etwas mehr als gar keine Vegetation zu sehen. „Tja, wegen der paar Bäumchen und Blümchen sieht man, warum das Viertel gleich den überheblichen Namen Waldviertel trägt. Ich glaub‘, bis auf die Parks, das Mohnviertel und die Adligenvillen im Smaragdbezirk ist hier das meiste Grün der Stadt“, Boo spielte den Stadtführer. Elaine schauderte es bei dem Gedanken, dass diese Hauptstadt ein einziges Betonpflaster war. Aber die anderen wurden davon anscheinend nicht gestört.

„Nervt euch das denn nicht, dass es hier so... bescheuert ist? Warum macht die Stadtverwaltung denn nichts dagegen?“

Alle grinsten und Boo antwortete ihr dann: „Meine Freunde haben schon immer hier gelebt und ich hab‘ mich nach einiger Zeit dran gewöhnt. Und die Stadtverwaltung... ich glaub‘, sie wollen, dass es hier so ist. Bäume und Gras zu haben ist auch ‘n Privileg. Die Preise für die Wohnungen im Waldviertel sind ganz schön gesalzen.“

Elaine schüttelte den Kopf: „Und warum machen die Leute dann nicht mehr Druck auf die Stadtverwaltung?“

Boo pfiff erstaunt und dann meldete Corry sich zu Wort: „Weil das keiner macht. Entweder haben die Leute Angst oder falschen Respekt oder sie schleimen oder sie werden geschmiert.“ Corrys Blick wurde richtig verächtlich: „Auf die meisten Leute hier würde ich nicht einen Cent geben – und auf die Beamten schon gar nicht“, zischte sie. Die anderen nickten stumm dazu.

„Die meisten sind echte Loser“, fügte Boo hinzu.

Einige Zeit später standen sie vor der „Grotte“, die auch so aussah wie sie hieß. Es war ein riesiger Felsbrocken mitten in der Stadt mit einem riesigen Loch darin. Vor dem Loch standen zwei Türsteher, beide wie Steinzeitmenschen gekleidet, aber mit weißen Schals um die Schultern gelegt, als Zeichen dafür, dass sie kultiviert waren.

Als sich die Gruppe dem Eingang näherte, versperrten die Männer ihnen den Weg: „Zutritt für Gemeine verboten!“

Corry schüttelte den Kopf: „Wir wollten nur wissen, wann die erhabene Gräfin Pepper das letzte Mal hier zu speisen beliebte...“

Die Türsteher wechselten die Blicke: „Keine Auskünfte für Gemeine!“

„Hey, ihr Trottel, ich rede mit euch! Seid gefälligst so höflich, auf meine Frage zu antworten!“

Nochmals ein Blickwechsel: „Keine Höflichkeit für Gemeine!“

Corry rollte die Augen und atmete gepresst die Luft aus, als ob sie sich beherrschen müsste, um nicht sofort in die Luft zu gehen. Zu Elaine meinte sie dann mit verkniffenem Mund: „Da siehst du, warum ich den ganzen dämlichen Adligenkram nicht ausstehen kann. Wenn du nicht adlig bist, brauchst du dich nicht blicken zu lassen.“

Oben, auf dem Balkon eines höheren Stockwerks der Grotte stand ein riesenhafter Mann mit groben und harten Gesichtszügen, aber in vortrefflich geschnittener und sündhaft teurer Kleidung. Sein Blick fiel auf die Gruppe und dann rief er hinunter: „Ist schon gut, sie sollen sie hineinlassen.“ Die Türsteher duckten sich und machten daraufhin den Weg frei.

„Wer ist das?“, flüsterte Elaine und Boo flüsterte zurück: „Das ist Sir Boris Bason, der Inhaber der Grotte. Gerüchte gibt‘s, dass sein Geschmack fürs Essen etwas... komisch ist. Jedenfalls passt er in dieses Lokal wie kein anderer.“

Sie betraten die Grotte, darin war es kühl und ein wenig schummrig. Die vielen Fackeln im Gang und die unzähligen Kerzen in der großen Halle waren als Beleuchtung nicht ganz ausreichend, aber vermutlich war alles genau so vorgesehen. Die Halle war riesig, viel größer, als der Felsbrocken hätte vermuten lassen, mit unregelmäßigen ausgehauenen Wänden, aber besten Sitzmöbeln und auch einer freien, ebenen Tanzfläche in der Mitte. Die schweren, hölzernen, mit roter Samtpolsterung ausgestatteten Sitzmöbel, die nobel mit feinstem Porzellan und Silberbesteck gedeckten Tische und die gesamte Einrichtung wirkte antiquiert, achtzehntes und neunzehntes Jahrhundert, ebenso die Kleidung von Sir Bason, der ihnen entgegenkam. Er war wirklich ein Riese, mit über zwei Metern Größe und mehr als einem Meter Schulterbreite. Seine Augen funkelten schwarz und schienen viel zu wild für einen gewöhnlichen Adligen. Er trug einen Vollbart, ebenso schwarz wie seine dichten Haare und sein Teint wirkte südländisch. Elaine wusste nicht wieso, aber auf sie wirkte er mehr wie ein Pirat. Es lauerte etwas Gefährliches unter seiner gezügelten und der Etikette angepassten Oberfläche.

Boo flüsterte Elaine noch schnell zu: „Mach einen Knicks!“

Die männlichen Gruppenmitglieder verbeugten sich leicht, Irony besonders elegant, Boo besonders unbeholfen – und auch Corry verbeugte sich mit katzenartiger Geschmeidigkeit, obwohl sie als Frau einen Knicks hätte machen müssen. Das verwirrte Elaine ein wenig, zumal sie gar nicht richtig wusste, wie man einen Knicks machte, aber zum Glück erinnerte sie sich rechtzeitig an einen alten Film und tat hastig das, wozu Boo ihr geraten hatte.

Sir Bason sprach mit seiner tiefen, donnernden Stimme, die durch die ganze Grotte hallte: „Ah, Corry, Sie beehrt mich mit ihrer Anwesenheit. Und Irony ist bei ihr, wie interessant. Erfüllt mir doch den Wunsch, mit mir zu speisen, meine Lieben.“

Wieder ein Flüstern von Boo: „Ja ja, den Wunsch – ein Befehl ist das, ganz klar.“

Und dann fiel Sir Basons Blick auf Elaine, er ging zu ihr, nahm ihre Hand und gab ihr einen Handkuss: „Oh, wie ich sehe, haben wir wieder Zuwachs bekommen. Sehr angenehm.“

Elaine fühlte sich sehr unwohl unter seinem durchdringenden Blick und war absolut ratlos darüber, was sie tun sollte. Aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und lächelte: „Es... es ist mir eine Ehre, Sir Bason.“

Er lächelte jovial, wie ein Familienvater über den ersten Schritt seines Sprösslings: „Entzückend. Kommt jetzt.“ Diesmal klangen die Worte auch wie ein Befehl.

Sir Bason ging voran, die Gruppe folgte ihm mit einem mehr oder weniger mulmigen Gefühl im Magen. Corry und Irony gingen als erste, Leo ging mit leicht gespannten Muskeln hinter ihnen, und Boo und Elaine bildeten die Nachhut.

„Warum ist er so freundlich zu Corry und Irony gewesen? Ich denke, sie sind vom einfachen Stand?“ flüsterte Elaine.

„Ellie, das liegt dran, dass Corry ein Profi ist. Sie hat sich eben den nötigen Respekt verdient. Und Irony war immer ein gern gesehener Gast bei Hofe, bevor die Sache mit Malvina passiert ist. Er ist ein begnadeter Dichter. Jetzt schreibt er nichts mehr für die Öffentlichkeit und will nichts mehr vom Hof wissen“, kam die Antwort von Boo. Elaine schluckte.

Sir Bason führte sie in seine Privaträume im Obergeschoss, die ebenso eingerichtet waren wie die große Halle, aber nicht ganz so förmlich, sondern viel wohnlicher. Das Kaminfeuer erwärmte und erhellte den Speiseraum mit dem langen Tisch in der Mitte ein wenig, da auch dieser Raum keine Fenster hatte. Der Raum mit dem Balkon, von dem aus Sir Bason sie gesehen hatte, musste hinter der Tür liegen, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Speiseraums befand. Die Stühle waren schwer, aber Sir Bason hatte keine Mühe, Elaines Stuhl beiseite zu schieben, damit sie links von ihm Platz nehmen konnte. Irony half Corry, die rechts neben Sir Bason saß, und setzte sich neben sie und Leo und Boo setzten sich selbst hin, Boo neben Elaine. Damit hatten sie die Hälfte der Stühle besetzt und das andere Ende der Tafel blieb leer. Lakaien brachten einige Kerzenständer, um den Tisch aufzuhellen.

Noch ein schnelles Flüstern von Boo: „Ich hoffe, du hast nen starken Magen – hab’ gehört, Sir Bason isst wirklich seltsame Sachen.“

Kaum hatte Boo das gesagt, ging das Mittagessen los. Sir Bason war offensichtlich kein Vegetarier, so viel stand fest. Die Vorspeise war eine Suppe, in der sich unter anderem Augen befanden. Elaine musste sich stark zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben. Sie löffelte ein wenig die Flüssigkeit heraus, um nicht unhöflich zu wirken, aber ließ alles andere im Teller. Bis auf Leo schien sonst niemand mit der Suppe Probleme zu haben, zumindest nicht offensichtlich. Ihm war deutlich anzusehen, dass er einiges lieber gegessen hätte als eine Augensuppe.

„Also, Ellie, wie kam es, dass Sie hier ist?“, kam die donnernde Stimme von Sir Bason nach diesem Gang.

Elaine erinnerte sich an den Kauz und dessen Handschuhe, die immer noch in ihrem Rucksack lagen: „Ähm... ich hab den falschen Zug erwischt, in der U-Bahn. Eigentlich wollte ich nur eine Station weiter fahren.“

Sir Bason lachte los: „Das ist unser Tornado, beim Prinzen, das ist er.“

Dann kam die Hauptspeise, ein Braten. Als Corry ihn sah, erblasste sie.

Sir Bason beobachtete sie amüsiert: „Was ist denn, hat Sie etwas gegen Braten?“

Corry riss sich zusammen: „Ich... ich habe eine Magenverstimmung, fürchte ich, und kann nichts Schweres essen. Verzeiht mir, Sir.“

Er nickte: „Wie sie will.“

Mit Blicken und Kopfbewegungen leitete Boo Elaine, was sie denn essen konnte und was sie besser auf ihren Teller lassen sollte. Auch Irony und Leo suchten sich vorsichtig Stücke heraus, die nichts mit Raben, Katzen oder anderen Wesen zu tun hatten, die man lieber nicht essen möchte.

„Corry liebt Raben und Katzen über alles. Und das ist eine allgemein bekannte Tatsache in den Kreisen, in denen man sie kennt“, kam erneut ein Flüstern von Boos Seite.

Sir Bason ließ sich nicht stören. Er hatte einen unglaublichen Appetit. Nach diesem Gang stellte er eine weitere Frage: „Corry, meine Liebe, warum ist Sie wieder mit ihren Freunden unterwegs? Hat Sie gar etwas Neues über ihre Schwester gehört?“ Sir Basons Blick hing durchdringend an Corry.

Sie antwortete mit einem Pokerface: „Leider nicht, Sir Bason. Wir versuchen nur wieder einmal unser Glück.“ Corry sprach betont ausdruckslos, Sir Bason fragte nicht weiter nach, sondern schien sich mit dieser Anwort zufrieden zu geben.

Es kam das Dessert, in hohen Glasschalen mit Deckel. Es sah wie Eis aus, bis die Lakaien die Deckel hochgehoben hatten. Bis auf Sir Bason, dessen Gesicht von einem leichten, genüsslichen Lächeln bewegt wurde, und Elaine, der noch immer nicht klar war, worum es sich handelte, betrachteten alle mit erweiterten Augen und eindeutig angewidert das ihnen vorgesetzte Dessert. Sir Bason grinste grausam: Sein Spiel war aufgegangen.

Elaine blickte fragend zu Boo, der sich leichenblass eine Hand vor den Mund hielt.

Er schluckte und flüsterte: „Das... das ist Men... Menschenhirn, Ellie...“

Sofort wurde ihr übel. Es war nur ein glücklicher Zufall, dass sie ihr Essen in sich behalten konnte. Sir Bason war also ein Kannibale.

Entsetzt sah sie ihn an: „Wie...?“

Er schien ihre Frage verstanden zu haben: „Obdachlose, Huren, arme Schweine. Keiner vermisst sie, keiner fragt nach ihnen. Und meine Gäste bekommen ihre Spezialitäten.“

Sie schloss die Augen. Boo hatte also Recht damit, dass dieser Tag kein Spaziergang werden würde.

Er sprach noch weiter, diesmal nicht mehr höflich, sondern hart und verärgert: „Ich habe gehört, dass sie nach Gräfin Pepper gefragt haben – wohl an, ich sage ihnen, dass sie tatsächlich noch in der Stadt ist, aber wer weiß wie lange noch und wer weiß, ob sie sie nicht knapp verpassen werden!“

Daraufhin wurden alle durch eine verborgene Automatik mit breiten Metallklammern an ihren Armen an den Stühlen festgesetzt. Leo begann, sich wie ein wildes Tier in den Fesseln zu reißen. Er brüllte auf vor Wut, auch die Übrigen rüttelten an ihren Fesseln, nur Elaine nicht, die zu überrascht war.

Aber Sir Bason lachte nur trocken: „Ich kann sie doch nicht so schnell wieder gehen lassen. Die Gastfreundschaft gebietet es mir, sie zumindest über Nacht hier zu behalten – und vielleicht für ein weiteres Mahl.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum und sie hörten von außen die Riegel, die alle Türen versperrten.

Leo zerrte weiterhin wie wild am Stuhl. Er war ein wirklich starker Kerl, aber alles war vergebens. Der Stuhl war schwer und äußerst stabil und die Fesseln waren so gut gepflegt, dass sie wie neu wirkten. Elaine konnte immer noch nicht fassen, was sich gerade in diesem Raum abgespielt hatte. Es kam ihr vor, als wäre sie in einen billigen Horrorfilm geraten – und dann verhielt sie sich auch noch wie ein typisches Filmopfer. Und das machte mehr Angst, als die Drohung von Sir Bason.

„Was... was hat er gemeint?“, ihre zögernde, schwache Stimme ging beinahe in Leos Brüllen unter.

„Leo, Ruhe, verdammt! Wir haben keine Zeit für so was!“ Corrys kalte Stimme schnitt durch die schwüle und leicht rauchige Luft im Raum und Leo beruhigte sich tatsächlich.

Boo beugte sich zu Elaine: „Ich glaube, der will uns solange hier festhalten, bis die Gräfin abgereist ist – und wenn wir Pech haben, werden wir auch noch sein Futter werden.“

Elaines Augen weiteten sich.

Corry warf einen Blick auf ihre Taschen, die sie in einer Ecke des Raums abstellen mussten: „Leo, kommst du dich bis dorthin? Hast du noch die Kraft?“

Er nickte nur und begann, so lange am Stuhl zu zerren, bis er es schaffte, samt dem Stuhl aufzustehen. All seine Muskeln spannten sich, sein Gesicht nahm einen verbissenen Ausdruck an und er atmete heftig. Dann begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich langsam zu den Taschen zu bewegen.

„Du schaffst es!“, Boo wollte Leo anfeuern, erntete dafür allerdings eine Rüge von Corry: „Scht! Willst du, dass er wiederkommt?!“ Boo verzog das Gesicht wie eine Comicfigur und wurde sofort still.

Leo ächzte unter dem Gewicht des massiven Stuhls, aber Schritt für Schritt kam er ihren Sachen näher. Schließlich kam er in der Ecke an und stellte den Stuhl wieder ab, so dass er zu Corry sehen konnte. Er atmete schwer: „Und... und was jetzt?“

„Versuch, mir meine Tasche zuzutreten – und keine Angst, da geht so schnell nichts kaputt.“

Leo nickte und begann, Corrys Tasche mit seinen Füßen aus dem Berg heraus zu suchen, dann brachte er sie in Position und trat. Die Tasche flog und landete genau auf Corrys Schoß.

Sie grinste breit: „Du bist klasse, wie immer!“

Elaine war sehr überrascht und Boo grinste sie an: „Leo ist halt ein Supersportler, schon seit der Schulzeit. Er trainiert noch immer in seiner Freizeit, wenn er nicht gerade im Humpty Dumpty rumhängt.“

Corry beugte sich in der Zwischenzeit zu ihrer Tasche, die sie mit ihren Beinen festhielt und begann, mit ihrem Mund den Tunnelzug aufzumachen, der sie verschloss. Dann versank ihr Kopf in der Tasche. Die Anderen hörten sie gedämpft fluchen, weil sie nichts sehen konnte. „Mh... if glaufe, if habf...“ Ihr Kopf war wieder draußen und sie hatte eine Kreuzung aus einem Dietrich und einem Schraubenschlüssel zwischen den Zähnen.

Elaine flüsterte: „Aber... wie will sie die Fesseln damit öffnen, die sind doch mechanisch.“

Von Irony kam ein belehrendes Flüstern: „Was haben wir dir über die Technik hier erzählt?“ Elaine seufzte. Corry begann, irgendwo an den Fesseln mit dem seltsamen Werkzeug zu drücken und zu drehen. Elaine bekam Gänsehaut vom Geräusch des am Metall schabenden Metalls, aber dann machte es Klick und eine von Corrys Fesseln ging auf. Sie grinste triumphierend, immer noch mit diesem Ding zwischen ihren Zähnen. Sie nahm es in ihre freie Hand und öffnete die zweite Fessel wesentlich schneller. Dann befreite sie leise schleichend Leo, Elaine, Boo und Irony.

Während alle ihre Taschen einsammelten, sah sie durch das Schlüsselloch ins nächste Zimmer, dort wo sie den Balkon vermutet hatten. Dort war ein weiteres Zimmer, kein Balkon, aber es war zumindest leer. Sie ging zur Seite: „Leo, darf ich bitten?“

Er verbeugte sich: „Aber nur zu gerne...“ Dann nahm er einen der Stühle und brach damit die Tür auf. Das folgende Zimmer war ähnlich eingerichtet, aber ohne Kamin und ohne Essmöbel, stattdessen mit vielen Sitzgelegenheiten. Es war bis auf das Licht aus dem Esszimmer stockfinster darin, weil auch dieses Zimmer keine Fenster hatte. Dafür eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Leo nahm wieder den Stuhl und brach auch diese Tür auf. Sie gingen durch – und fanden sich im Esszimmer wieder.

Elaine fasste sich am Kopf: „Wie... wie geht das denn?“

Corry fluchte leise und trat gegen einen Stuhl: „Das ist eine ganz fiese Masche... ist öfters so bei diesen verdammten Adligenvillen und Amtsgebäuden... verflucht!“ Sie schmiss einen Teller gegen die Wand.

Boo sah zum Kamin: „Denkt ihr, was ich denke? Ellie, hast du zufällig etwas Schlagsahne dabei?“

„Ähm... lass mich mal sehen... ja, aber was willst du mit der?“, Elaine reichte ihm eine Sprühdose.

Corry grinste: „Der Kleine hat’s drauf...“

„Aaachtung!“, Boo nahm eine theatralische Pose ein und hielt die Schlagsahne vor wie in der Werbung: „Hier sehen sie gewöhnliche Sprühsahne – aber aufgepasst, was Mr. Boo daraus macht...“

Er hielt die Öffnung ans Feuer und begann zu sprühen. Das Feuer ersticke innerhalb weniger Augenblicke am seltsamen Schaum, der daraus quoll.

Dann gab Boo Elaine die Sahne wieder: „Schön aufheben, vielleicht werden wir ja noch ’nen Feuerlöscher brauchen. Oh, und ja nicht essen, das ist giftig!“

Danach blickte er in den Schacht und grinste. Oben war tatsächlich Licht zu sehen. „Also, ich kletter‘ mal rauf, dann sehen wir weiter.“

Leo ächzte: „Ob ich da durch passe?“

Irony grinste und zwinkerte ihm zu: „Keine Sorge, auch Sir Bason bekommt Besuch vom Weihnachtsmann... selbst wenn er gar nicht brav ist. Und im Vergleich zu dem bist du eine Bohnenstange.“

Elaine sah diesen verschmitzten Gesichtsausdruck zum ersten Mal auf Ironys sonst ernstem Gesicht. Inzwischen kletterte Boo bereits geschickt wie ein Affe nach oben. Er steckte seinen Kopf aus dem Kaminschacht raus und blickte von dort oben auf das unregelmäßige steinige Dach der „Grotte“ und die Stadt.

„Hey, es ist alles in Ordnung, kommt schon!“, rief er nach unten. Dann kletterte er aus dem Schornstein.

Irony half erst Elaine, dann Corry beim Aufstieg, die innerhalb des Schornsteins Vorsprünge in der Wand fanden, an denen sie sich festhalten und die Füße abstützen konnten. Dann folgte er, Leo warf die Taschen eine nach der anderen hoch und kletterte dann selbst nach oben. Auch wenn seine Vorgänger mehr oder weniger verrußt waren, seiner Größe verdankte er die Tatsache, dass er davon am meisten abbekommen hatte. Doch während Irony sich schnell abstaubte, schien es Leo nicht wichtig zu sein. Boo sah wirklich witzig aus mit der Asche im Gesicht und Corry stand der Ruß sogar richtig gut.

Boo grinste: „So, jetzt haben wir auch unsere Kriegsbemalung!“

Elaine sah nach unten und ihr wurde schwindlig: „Ähm, wie kommen wir jetzt wieder runter?“ Das war eine berechtigte Frage, denn das Dach befand sich gute zwanzig Meter über der Straße.

„Wir klettern, was sonst?“ Leo packte ein Seil aus seinem Rucksack aus. „Geh nie ohne Seil aus dem Haus, wenn du eine weite Reise vor dir hast!“, er grinste und band das Seil fachmännisch um den Schornstein, den man von der Straße aus gar nicht sehen konnte.

„Leo hat auch Bergsteigen gemacht, früher mal“, kam die Erklärung von Boo. „Wenn wir mal zurück sind, musst du dir unbedingt die Fotos anschauen!“

Leo überprüfte den Knoten und gab das Zeichen zum Abstieg. Also kletterten sie erneut, diesmal nach unten. Dann zog Leo am Seil, der Knoten löste sich, das Seil fiel ihm zu Füßen und er rollte es mit einem zufriedenen Nicken wieder zusammen.

Irony sah sich um: „Also, auf zur Gräfin. Vielleicht kann ein Troubadour sie aus der Reserve locken“, jetzt grinste er schon wieder, diesmal richtig schelmisch.

Sie gingen weiter, immer der gelben Spur nach. Sir Bason hatte sie lange genug aufgehalten und sie beeilten sich, so gut sie konnten.

Zwei Stunden später, die Sonne stand im Zenit, kamen sie ins Gelbe Viertel. Das Gelbe Viertel war wie das Blaue Viertel dadurch von anderen Stadtteilen zu unterscheiden, dass die Eingänge zu den Betonhäusern in der entsprechenden Farbe gekennzeichnet waren und – auch wenn die Farbe meist abgeblättert oder verblasst war – ein wenig Leben ins triste Grau brachten. Der Asphalt hatte sich aufgeheizt und das Wasser vom Regen verdampfte regelrecht. Elaine wurde schwindlig vom Teergeruch, aber die anderen schienen auch daran gewöhnt zu sein. Ursprünglich hatten sie vor gehabt, jetzt zu Mittag zu essen, aber nach dem, was Sir Bason ihnen vorgesetzt hatte, hatte nicht einmal Leo Hunger. Also gingen sie weiter. Um sie herum war der stetige Fluss des Autoverkehrs und der einheitlich in Anzügen gekleideten Passanten, sie alle hatten immer dasselbe ausdruckslose Gesicht, sie gingen immer im gleichen Tempo und sie nahmen wie immer keine Notiz von ihnen. Als wären sie gar nicht da. Die Straßen wurden hingegen immer verwinkelter und verwirrender. Wenn sie nicht ihre leitende Spur gehabt hätten, dann hätten sie sich wohl alle bereits verlaufen.

Und plötzlich brach die Spur einfach ab. Sie blieben stehen und sahen sich verwirrt um. Überall um sie herum ragten die riesigen Häuser wie ein gewaltiges Gefängnis auf und viele Straßen führten weiter, aber wohin?

Boo war verwirrt: „Das ... das kann doch nicht sein... was soll das?“

Corry biss sich auf die Unterlippe. Sie beugte sich zum Boden: „Hier ist gewischt worden, fürchte ich. Sir Bason oder sonst jemand muss gemerkt haben, dass wir den Weg markiert haben.“

„Und was machen wir jetzt?“

Zuerst standen sie mehr oder weniger ratlos herum, dann öffnete Irony seine Aktentasche und sah den Inhalt durch. „Hm... wir brauchen etwas, was uns die Spur zurückbringt.“

Zum Vorschein kam eine Sodaflasche. Er grinste erneut, diesmal triumphierend, und sprühte etwas davon auf die Straße. Die Flüssigkeit verteilte sich tropfenweise auf dem Boden und dann sahen sie wieder das Gelb der Markierung. „Na also.“

Erleichtert gingen sie langsam weiter, Irony besprühte immer wieder die Straße, um nachzusehen, wo es weiterging. Nach einigen hundert Metern und vier Abzweigungen, auf denen sie hätten falsch abbiegen können, fanden sie ihre gelb markierte Straße wieder. Die Sonne bewegte sich weiter nach Westen.

Einige Zeit später verließen sie das Gelbe Viertel und standen vor ihrer ersten Brücke. Leo packte erneut das Seil aus.

„Wozu das? Klettern wir wieder?“, fragte Elaine erstaunt.

Leo schüttelte den Kopf: „Nein, das ist nur zur Sicherheit. Brücken sind störrische Biester. Wenn man nicht höllisch aufpasst, dann werfen sie einen von ihrem Rücken ins Wasser. Hinterlistige, gemeine Biester“, Leo verengte die Augen und blickte in Richtung der Brücke, so wie ein Held in einem Western seinen bösen Gegenspieler ansieht.

Elaine atmete tief durch. Das wurde ja immer schöner. „Warum? Brücken sind doch dazu da, damit man übers Wasser kommt.“

Corry lachte trocken: „Tja, bei euch vielleicht. Hier versuchen sie alles, damit man ins Wasser kommt.“

Sie banden sich also aneinander. „Haltet euch gut am Geländer fest!“, rief Leo.

Sie gingen langsam und vorsichtig los, Corry voran, Leo nach ihr, dann Irony, Elaine und Boo zum Schluss. Nichts regte sich. Alles war ruhig. Noch nicht einmal ein Windzug. Und dann, als sie in der Mitte der Brücke ankamen, begann sie sich zu schütteln, wie ein Hengst, der seinen Reiter abwerfen will, oder wie ein wilder Stier beim Rodeo. Sie krallten sich ins Geländer, um diese erste Erschütterung abzuwarten. Dann wurde es wieder still und sie gingen vorsichtig weiter, mit den Händen am Geländer, bis zum nächsten Rüttler. Die Passanten ließen sich nicht beirren. Es schien, als wären sie ein Teil der Brücke. Egal wie sie sich schüttelte, ihre Füße waren wie magnetisiert und ihre Gesichter zeigten nicht die geringste Spur von Verwunderung oder Angst. Aber Elaine und ihren Begleitern ging es anders. Sie mussten sich an der Brücke festhalten, um nicht abgeworfen zu werden. Das Wasser unter der Brücke schäumte inzwischen und schlug bis ans Geländer. Aber sie konnten sich halten.

Sie setzten ihre Bewegung erst wieder fort, als sich die Brücke erneut beruhigt hatte, diesmal mehr oder weniger stark durchnässt. Das Spiel wiederholte sich noch einige Male, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Erleichtert atmeten sie durch und sahen weiter: Einige Meter vor ihnen lag die zweite Brücke. Sie bissen die Zähne zusammen.

Die Brücke hielt still. Sie hielt still, als sie sie betraten, sie hielt still, als sie sich der Mitte näherten und sie hielt auch still als sie die Mitte überschritten hatten. Und dann, als ihnen nur noch wenige Meter bis zum anderen Ende blieben, ging es los. Die Brücke wölbte sich vor ihnen, sie warf sie zurück, als wären sie nichts weiter als Krümel auf einem Streifen Stoff. Dann begann sie zu schaukeln, sie stellte sich mit der Fahrbahn senkrecht zum Wasser und schwang noch darüber hinaus. Leo gelang es noch, sich am Geländer festzuhalten, alle anderen fielen schreiend und zappelnd von der Brücke und hingen dann an ihm im Seil. Corry schrie wütend irgendetwas durch das Toben des Wassers und das Krächzen und Knarren der wild gewordenen Brücke und dann war alles endlich still.

„Beeilt euch mal ein wenig, ich kann euch nicht lange halten!“, brüllte Leo.

Corry hing alleine am Seil, weil sie vor ihm gegangen war. Sie begann dann auch als Erste hoch zu klettern, zuerst am Seil, dann über Leo drüber und auf die Brücke. Boo bildete den Schluss, er folgte Corry, kaum dass sie zu klettern begann. Irony zog am Seil so gut er konnte, auf dem hinter ihm Elaine und Boo befestigt waren, damit Boo schneller voran kam. Elaine begann sich ebenfalls hochzuziehen, bis Irony sie an sich zog. Dann kletterte Boo bereits über sie drüber, nicht minder geschickt als vorher im Schornstein, aber nicht mehr so kraftvoll. Etwas später als Corry war auch Boo auf der Brücke. Sie hielt immer noch still. Dann schickte Irony Elaine weiter nach oben. Corry und Boo zogen sie hoch, als sie in ihre Reichweite kam und dann war auch Irony oben. Gemeinsam holten sie Leo zu sich rauf, der sich inzwischen nur noch dadurch hielt, dass seine Finger sich in den Beton gekrallt hatten und steif geworden waren.

Corry legte ihre Hände um seine verkrampften Klauen und dann entspannten sie sich. Schnell flohen sie aufs Festland, solange es noch ging. Dann umarmte Corry Leo: „Ich wusste, du schaffst es!“

Leo grinste: „Ich lass doch meine Freunde nicht fallen, wenn sie mich brauchen.“ Dann setzte er sich erst einmal hin.

Sie lösten das Seil und während sie verschnauften, fasste sich Irony an den Kopf: „Ich habe meine Tasche verloren! Verflixt!“ Sie sahen nach unten, seine lederne Aktentasche trieb im Wasser herum.

Corry nahm das Seil: „Jetzt müssen wir wohl fischen gehen.“ Sie kramte erneut in ihrer Tasche und holte einen kleineren Enterhaken heraus. Den band sie am Seil fest und begann, es zu schwingen.

Elaine sah mit Erstaunen zu Boo: „Hat sie immer solche Sachen dabei?“

Boo kicherte: „Aber sicher doch, wobei sie sich für gewöhnlich an ihr kleines Werkzeugset hält. Ich glaub‘, zur Not käme sie mit einem Taschenmesser aus. Sie ist halt ein Profi.“

Inzwischen warf Corry die Angel aus. Daneben. Grummelnd zog sie das Seil zurück und fing wieder zu schwingen an. Ein zweiter Wurf und diesmal ein Treffer, der Haken fing den Tragegriff der Aktentasche ein. Corry nickte zufrieden und begann, am Seil zu ziehen. Ihre Armmuskeln spannten sich sichtlich an, das Wasser wollte seine Beute nicht wieder hergeben. Irony half ihr, und dann hatten sie die Tasche wieder aus dem Wasser.

Irony prüfte den Inhalt und seufzte erleichtert – alles da und alles trocken. „Es geht doch nichts über ein Qualitätsprodukt“, nickte er und schloss die Tasche wieder. Sie konnten weiter.

Vor ihnen erstreckte sich das Mohnviertel. „Warum heißt es eigentlich Mohnviertel, Boo?“

„Ähm... Corry?“, Boo wusste offensichtlich nicht mehr weiter.

„Hier waren früher mal Mohnfelder, soweit das Auge reichte, bevor die Hauptstadt wuchs und die Menschen mehr Platz brauchten. Dann wurde auf den Feldern das Mohnviertel errichtet und nun geht die Stadt nahtlos in den adligen Smaragdbezirk über. Hier leben hauptsächlich privilegierte und reichere Gemeine und höhere Beamte. Hier ist auch ein Park, wir werden noch dran vorbeigehen.“

Das Mohnviertel wurde nicht mehr durch Blockhäuser charakterisiert, hier schien es gemütlicher zu sein. Die Häuser wirkten wärmer und einladender, manche von ihnen sogar mit mehr Eigensinn gebaut. Viele hatten kleine Gärten oder zumindest einen Rasen oder ein Blumenbeet daneben oder davor. Doch viele wirkten auch zu ordentlich oder zu steril. Sie gingen durch die Straßen und sahen kaum jemanden. Keine Passanten, keine Bewohner. Es war ruhig und still. Die Sonne überschritt den Zenit und senkte sich langsam nach Westen, während sie ihrem Weg folgten. Die Stille und Wärme wirkten ermüdend. Sie kamen zum Park und die Ruhebänke wirkten auf einmal so einladend. Der Park schien der einzige Ort im Mohnviertel zu sein, wo es tatsächlich noch Mohnblumen gab – dafür aber bedeckten sie hier alle Rasenflächen. Sie suchten sich ein Plätzchen auf einer Bank und setzten sich hin. Die Bank war von der Sonne gewärmt und gemütlich und nicht nur Elaine fielen die Augen zu.

„Müssten wir nicht weitergehen?“, fragte sie schwach, fast schon im Halbschlaf.

„Nur noch eine Minute, Mum“, Boo war bereits im Land der Träume und Leos Kopf sackte ebenfalls nach vorne. Ihm entfuhr ein leises Schnarchen. Er war bereits müder, als er es zugegeben hatte. Irony runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und wollte noch etwas aus seiner Aktentasche ziehen, als er das gesehen hatte. Corry sah ebenfalls so aus, als ob sie etwas wichtiges zu sagen hatte, aber dann fiel zuerst sie und dann auch er seitlich um und beide schliefen fest, wieder einmal aneinander gelehnt. Elaine wusste nicht, wieso sie auf einmal so müde war, sie hatte doch in der Nacht am meisten geschlafen, aber die Müdigkeit lag bleiern auf ihren Augenlidern.

Die errötende Sonne neigte sich immer weiter Richtung Horizont und kam den Wipfeln der Bäume im Park immer näher, während Elaine mit dem Schlaf kämpfte. Es war viel zu warm und viel zu still, sie hörte weder Vögel noch Insekten, noch nicht einmal ein Auto vorbeifahren, und etwas an dieser klebrigen, warmen, süßlich riechenden Stille kam ihr nicht geheuer vor. Dann fiel ihr müder, langsamer Blick auf Ironys Aktentasche. Sie begann wie in Zeitlupe an ihm zu rütteln, aber er erwachte nicht. Sie zog ihm die Tasche aus den Händen, wobei sie mit ihren eigenen, auf einmal so schwachen Muskeln kämpfen musste und sah hinein, was er denn gesucht haben mochte. Das Erste, das ihr auffiel, war die Sodaflasche. Also nahm sie die Flasche raus und dabei sprühte sie sich aus Versehen etwas vom Inhalt ins Gesicht. Die Flüssigkeit war kalt und klar und sprudelte auf ihrer Haut, und dann war Elaine nicht mehr so müde. Also sprühte sie auch etwas auf Irony und Corry.

Als sie zu sich kamen, verzerrte sich Corrys Gesicht zu einer erschrockenen Miene: „Das ist Schlafmohn!“

Zusammen weckten sie Boo, aber Leo kam einfach nicht zu sich, egal was sie versuchten. Selbst eine doppelte Portion Soda half nicht. Also hievten Irony und Boo ihn auf ihre Schultern und schleppten ihn mit, während Corry und Elaine sich gegenseitig abstützen, weil die Wirkung des Sodas nachließ und die Müdigkeit zurückkehrte. Das Gehen fiel ihnen schwer. Erst einige Meter vom Park entfernt schien die Müdigkeit nachzulassen, und dann war Leo auch endlich wieder wach.

„Was ... hab ich geschlafen?“, murmelte er, noch immer mit halb geschlossenen Augen. Ein erneuter Sprühstoß aus der Flasche löste seine Augenlider, er schüttelte seine Mähne: „Danke... ich weiß nicht, was über mich kam, aber ich war plötzlich todmüde.“ Leo sprach das aus, was jeder von ihnen gefühlt hatte und sie verließen schleunigst die Gegend.

Corry flüsterte verärgert: „Wie konnte ich nur den Schlafmohn vergessen!“

Erneut standen sie vor einer Brücke. Die Sonne war noch ein Stück tiefer gesunken und die Brücke begann sich schon zu bewegen, da waren sie erst in ihre Sichtweite gekommen.

Corry atmete erleichtert auf: „Das ist ein gutes Zeichen – Hunde die bellen, beißen nicht.“ Trotzdem banden sie sich aneinander, nur zur Vorsicht. Die Brücke zitterte und schwankte unter ihren Füßen, erneut mussten sie sich am Geländer festhalten. Elaines Knie gaben immer wieder nach, aber sie konnte dennoch gehen, und wenn sie auch nur langsam vorankamen, so doch nahezu problemlos. Bald hatten sie endgültig festen Boden unter ihren Füßen. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihnen, als sie die gelb markierte Straße in Richtung Smaragdbezirk entlang blickten. Dann lösten sie das Seil und gingen weiter und die Sonne senkte sich noch um ein weiteres Stück.

Der Smaragdbezirk trug seinen Namen nicht umsonst. Er war so grün, wie nichts anderes, was Elaine jemals gesehen hatte. Kleinere und größere Villen säumten die Hauptstraße, der sie nun folgten, einige von ihnen waren zwar nicht mehr in bestem Zustand, aber der überwiegende Eindruck war positiv. Sie hörten Vögel zwitschern und hier und da bereits eine Grille. Es wurde Abend und der Himmel färbte sich rosa. Die Straße war leicht gewunden, aber eben und leicht zu beschreiten. Und sie war nicht mehr asphaltiert, sondern mit Steinen gepflastert, die ebenfalls wegen der Markierung gelb waren.

Sie kamen an einem Häuschen vorbei, es musste einmal sehr wohnlich gewesen sein, war jetzt aber nur noch ein abbruchreifer Schatten seiner selbst. Auf der Sitzbank davor saßen zwei ältere Lakaien, und auch ihre Livreen hatten schon bessere Tage gesehen. Plötzlich sah Elaine den Kauz eilig das Haus verlassen. Er begann mit seinen Dienern zu schimpfen, die nur dumm lächelten und sich duckten. Elaine vergaß, wohin sie eigentlich wollte und ließ die anderen zurück. Sie rannte schnurstracks auf den Kauz zu, während sie in ihrem Rucksack nach seinen Handschuhen kramte. Aber sie fand sie einfach nicht. Der Kauz schimpfte immer noch, als sie beim Haus ankam.

„Entschuldigen Sie, Mr...“

Er drehte sich zu ihr um und nun ergoss sich eine Schimpftirade über sie: „Sir! Ich bin Sir Alvin Karnickle, ist das denn so schwer zu merken?! Warum ist das Personal heute immer so fürchterlich ungebildet?! Und warum trägt Sie so... unziemliche Sachen?! Wo sind wir hier, in einem Gemeinenviertel?! Ist das hier das neue Hausmädchen?!“

Die letzte Frage schrie er zu seinen Dienern, die beide die Schultern zuckten und dumm lächelten. „Na schön, dann ist sie das wohl!“

Wieder zu Elaine: „Sie – ja, Sie meine ich, Sie gehe jetzt rein ins Haus und suche nach meinen Ersatzhandschuhen, ich will, dass sie gefunden sind, bis ich wiederkomme!“

Elaine wollte ihm noch etwas entgegnen, aber er rauschte bereits ab. Sie stand ratlos da und von ihren Begleitern fehlte plötzlich jede Spur, als ob sie sich in nichts aufgelöst hätten. Irritiert fragte sie die Lakaien: „Was... was sollte das denn?“

Beide zuckten die Achseln: „Sir Karnickle ist nun mal so cholerisch. Es ist am besten, du lächelst und nickst und dann machst du weiter, wie gehabt, wenn er weg ist. So machen wir es auch seit Jahren.“ Einer sprach und der andere wiederholte alles wie ein Echo kurze Zeit später.

„Aber... aber ich bin doch gar kein Hausmädchen!“

Sie lächelten wieder und einer von ihnen öffnete ihr die Tür. „Natürlich bist du das, das hat er doch gesagt. Jetzt geh und such seine Handschuhe, sonst wird er ungemütlich und das willst du doch nicht, oder?“ Der andere schubste sie ins Haus und die Tür fiel ins Schloss.

Elaine rüttelte dran, aber ohne Erfolg, die Tür blieb zu. Der Eingangsraum war klein und eng, mit sperrigen Möbeln ausgestattet und ziemlich düster, weil das einzige Fenster über der Tür klein war und kaum Licht durch die trüben und verstaubten Glasscheiben drang. Sie seufzte und ging weiter ins Haus hinein. Der enge, düstere Gang, mit einem bereits stark zerschlissenen Läufer und Spinnweben in den Ecken und mit einigen abgesperrten Türen, führte sie am Ende einerseits zu einer hölzernen Treppe nach oben und andererseits in ein großes Zimmer, anscheinend ein Wohnzimmer, wo ebenfalls alles etwas verstaubt und schmuddelig war, auf dem Teppich waren sogar Rotweinflecken. Aber über dem Kamin hing ein wunderschönes Bild von einer reiferen Frau mit gütigem Gesicht und einem warmen Lächeln. Das Bild war anziehend und Elaine beschloss, das obere Stockwerk später nach den Handschuhen zu durchsuchen.

Sie ging näher an den Kamin heran und las die Inschrift am Bilderrahmen: „Lady Belinda Karnickle“ stand darauf und Elaine dachte sich, dass das wohl Sir Karnickles Mutter sein musste, denn irgendwo gab es eine undefinierbare, aber überwältigende Ähnlichkeit zwischen ihm und der Frau auf dem Bild.

Sie wollte sich abwenden, als sie eine Stimme aus der Richtung des Bilds hörte: „Na, junges Fräulein, wo will Sie denn hin? Leiste Sie mir doch Gesellschaft.“ Die Stimme war zuckersüß, aber darunter eiskalt und eindeutig ein Befehl.

Elaine schrie erschrocken auf und taumelte zurück, bis sie in einen alten Sessel fiel, der so vor dem Kamin stand, dass sie das Bild betrachten konnte. Im Kamin entzündete sich ein Feuer und die Frau auf dem Bild schien Elaine genau anzusehen, mit ihrem lieblichen Lächeln und dem scharfen Blick.

„Also, Sie ist hier fremd und dennoch ganz allein in meinem Haus. Warum? Und Sie soll es ja nicht wagen, mich zu belügen!“

„Lady... Lady Karnickle... ich bin Ellie... das ist ein Missverständnis... ich wollte gar nicht hier rein... aber die Diener haben mich rein geschubst.“ stammelte Elaine als Antwort.

„So, Sie lügt also doch und wie gedruckt – und die Schuld auf andere schieben tut Sie auch, was für ein gemeines Luder Sie doch ist!“ Jetzt wirkte das Lächeln plötzlich gar nicht mehr liebenswert, sondern boshaft.

Die Stimme wurde schneidend: „Na, dann werde ich ihr wohl Manieren beibringen müssen!“

Elaine saß vor Schreck erstarrt im Sessel und sah das Bild mit erweiterten Augen an.

„Sie hat Angst, das ist gut, das ist genau die richtige Grundlage für den Unterricht! Also, Lektion eins: Lüge niemals – und ich wiederhole, niemals, eine Person höheren Standes an, verstanden?“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte fauchte das Feuer im Kamin. Wenn Lady Karnickle auf dem Bild Beine gehabt hätte, dann hätte sie wohl mit dem Fuß gestampft.

Elaine nickte: „J-ja, Lady Karnickle, aber...“

Jetzt wurde das Bild richtig boshaft und die Stimme schrill: „Lektion zwei: Widerspreche nie, nie, nie einer adligen Person, die zudem noch älter ist als Sie. Verstanden?!“

Lady Karnickle kreischte, Elaine drückte sich eingeschüchtert in den Sessel und eine unliebsame Erinnerung aus ihren Kindertagen an Ms. Crumble, ihre strenge Grundschullehrerin und eine alte Jungfer, kroch in ihrer Erinnerung hoch. Sie hatte immer Angst vor Ms. Crumble gehabt, und nicht nur sie. Diese Frau auf dem Bild war wie eine überzogene Version von ihrer verhassten Lehrerin.

Elaine erinnerte sich aber auch daran, dass Ms. Crumble vor einigen Jahren an Krebs gestorben war. Und das schien ihr zu helfen.

Sie stand auf und schrie das Bild an: „Für wen halten Sie sich eigentlich?! Für Gott?! Halten Sie doch einfach die Klappe!“

Das Bild begann zu wettern, aber Elaine hatte genug davon, sie ging hin und nahm es von der Wand.

„Was.. was hat Sie vor?!“ Lady Karnickle kreischte hysterisch auf. Sie schien plötzlich Angst zu haben. „Hören Sie auf zu schreien, oder ich werfe Sie in den Kamin!“

Elaine war richtig sauer. Da wurde sie beinahe von einem Menschenfresser verspeist und von einer Brücke geworfen und dann noch fast eingeschläfert und jetzt kommandierte ein lächerliches, altes Bild sie herum!

Lady Karnickle schrie weiterhin hysterisch: „Wage Sie es ja nicht! Wenn mein Sohn zurückkommt, der wird Ihr schon zeigen, was so ein billiges Flittchen wie Sie bekommt!“

Aber Elaine sah die Angst in den Augen des Bilds flackern und sie hatte genug davon, sich von dieser vermutlich schon lange toten Frau beschimpfen zu lassen. Sie zerbrach den Rahmen an ihrem Knie und machte die Drohung wahr. Das schreiende Bild flog in den Kamin. Dann kehrte sie dem Zimmer den Rücken zu und ging wieder zurück zur Eingangstür. Sie hatte auch nicht die geringste Lust, für diesen Kerl, der ihr alles eingebrockt hatte, die Dienerin zu spielen. Sie warf sich gegen die Tür und stolperte hinaus, weil die Tür plötzlich nicht mehr verschlossen war. Die Diener saßen gelangweilt auf der Bank und sahen sie stupide grinsend an. Sie hatte auch davon genug und beschloss, die Handschuhe von Sir Karnickle als Entschädigung zu behalten. Das hatte er nun davon. Und sie sah auch, wie ihre Begleiter am Straßen­rand standen und sie verwirrt anblickten, und ging zu ihnen.

„Was ist nur in dich gefahren, Ellie?“ fragte Boo.

„Es... es war etwas, was ich noch erledigen musste...“ Irony sah entnervt zum Himmel, sagte aber kein Wort. „Lasst uns weitergehen, ja?“ fragte sie leise ihre Begleiter.

Sie nickten und setzten mit ihr zusammen ihren Weg fort. Elaine sah noch die Diener den aus dem Kamin aufsteigenden Rauch bemerken, sah ihre verdutzten Gesichter und dann den Erkenntnisschimmer auf ihnen, der von blanker Angst abgelöst wurde. Sie rannten rein und Elaine hörte mit Genugtuung ihre Entsetzensschreie. Dann verschwendete sie keinen weiteren Gedanken mehr daran. Als die Diener wieder hinaus gerannt kamen, um nach der Übeltäterin zu suchen, war sie schon lange weg.

Für Elaine war es aber noch nicht ganz vorbei. „Also, Ellie, was war denn los? Wir haben uns Sorgen gemacht, was du mit diesem... Schleimbeutel zu tun hast“, fragte Boo erneut.

Dann erzählte Elaine ihnen, warum sie überhaupt in den Tornado gestiegen war.

Corry blieb stehen, runzelte die Stirn und zog dann ihre Augenbrauen zusammen: „Dann hat es einen Grund, warum du hier bist. Das ist gar nicht gut. Du bist wegen einem Adligen hier – das ist noch schlimmer. Und kaum tauchst du auf, hören wir etwas von ihr“, Corry meinte natürlich Malvina, „und dann geht das alles los... hm... sehr merkwürdig. Ich hoffe, du bringst kein Unglück.“ Corry blickte Elaine aus verengten Augen an.

Elaine verstand nicht warum, aber auch Irony sah sie daraufhin skeptisch an.

Boo lächelte und winkte ab: „Ach was, Corry, du siehst nur Gespenster vor Sorge.“

Sie schüttelte den Kopf und lächelte: „Kann sein. Vielleicht.“

Sie gingen weiter. Die Sonne war noch näher an den Horizont gerückt, die Wolken waren lila und der Himmel oben bereits dunkler geworden. Bald würden sie die ersten Sterne sehen können, der Mond hing bereits wie ein blasses Gespenst am Himmel. Die Grillen zirpten immer lauter und die Luft wurde langsam frisch. Elaine zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. In den Gärten der Häuser war es bereits richtig düster und hier und da sahen sie ein Licht im Fenster. Sie sahen auch, wie zwei Leute in Livree ihnen auf der Straße entgegen kamen und immer wieder hielten, um die Laternen anzuzünden. Als sich ihre Wege kreuzten, lächelten die beiden Männer freundlich und nickten der Gruppe zu. Irony tat, als würde er einen Hut lüpfen und die anderen grüßten die Männer ebenso freundlich.

Corry lächelte warm: „Das sind unsere Lichtbringer. Wie es oft so ist, wird die Bedeutung ihrer Arbeit unterschätzt. Dabei sorgen sie dafür, dass die Straßen auch nachts hell sind.“

Für Elaine war das ein plötzlicher Gesinnungswandel, hatte sie Corry doch bisher als jemanden kennen gelernt, der das Licht nicht allzu sehr zu mögen schien. Aber die anderen kannten das wohl, sie nickten dazu.

„Weißt du, Elaine, der Adel hat ja so gut wie keine Technik, das Höchste ist eine mechanische Uhr. Sie haben ihre Diener. Und darum braucht man die Leute, die die Laternen hier anzünden.“

Mit dem Einbruch des Abends füllten sich auch die Straßen. Sie sahen edle Kutschen und Reiter auf herrlichen Pferden, wohlgekleidete Spaziergänger, doch alles wirkte antiquiert und erinnerte Elaine an einen Kostümfilm. Die Kleidung variierte von mittelalterlich bis zum neunzehnten Jahrhundert, aber es waren auch eine römische Toga und Kleidung vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen. Doch überwiegend war es der Kleidungsstil des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts der westlichen Welt. Boo schien ebenfalls nicht viele Adlige vor die Augen zu bekommen und blickte sich ebenso erstaunt um wie Elaine.

Sie mussten aufpassen wo sie hingingen. Das bedeutete, dass sie dem Adel den Weg freizumachen hatten, der auch das Privileg genoss, ungestört seinen Weg zu gehen. Erneut kamen sie sich vor wie Außenseiter, aber wenigstens nahm der Adel Notiz von ihrer Anwesenheit, auch wenn es meist be­deutete, dass die adligen Personen die Nasen über die Gemeinen rümpften, die in ihren privilegierten Bereich eingedrungen waren. Nur nicht über Corry und Irony, ihre Anwesenheit verursachte Erstaunen. Elaine glaubte, überall um sie herum wurde geflüstert und getuschelt, aber sie sah keinen auch nur den Kopf auf die Seite wenden. Das verursachte ihr Unbehagen. Und nicht nur ihr, sie sah, dass auch Boo wirkte eingeschüchtert und selbst Leo schien kleiner zu sein, als er eigentlich war. Allein Corry und Irony hielten sich stolz, auch wenn er mit verkniffenem Mund verkrampft seine Aktentasche festhielt und sie eine gleichgültige Maske aufsetzte und mit harten Schritten voranging.

Das Smaragdviertel war riesig. Corry erklärte Elaine, dass jeder Adlige des Landes hier mindestens einen seiner Wohnsitze hatte, selbst wenn er sich selten hier aufhielt. Die meisten höheren Adligen hatten sogar ihre eigenen Familienbereiche innerhalb des Smaragdviertels. Es war im Grunde genommen eine Stadt für sich, eine Stadt, die nur für den Adel und dessen Bedienstete gedacht war. Ihr Weg führte sie immer weiter. Sie kamen an einigen Parks vorbei, aber diese waren nicht wie der Park im Mohnviertel. Sie waren viel kunstvoller angelegt, mit zugeschnittenen Bäumen und Sträuchern, perfekten Blumenbeeten und breiten, sauberen Kieselwegen mit etlichen hübschen Ruhebänken. Es gab sogar einig große Schachfelder, auf denen mit menschengroßen Schachfiguren gespielt wurde. Als Elaine genauer hinsah, stellte sie sogar mit Erstaunen fest, dass die Figuren tatsächlich Menschen waren. „Das sind alles verkleidete Diener“, kommentierte Corry.

Sie sahen auch dort viele Spaziergänger und auch leichte Kutschen. Und wie auf den Straßen waren kein einziges Kind und vielleicht ein, zwei Jugendliche zu sehen.

„Woran liegt das, dass die hier keine Kinder haben?“

Als Antwort auf diese Frage erhielt sie nur Schweigen. Entweder wusste das keiner von ihnen oder die Antwort war vielleicht zu scheußlich, um sie auszusprechen, dachte sich Elaine mit Unbehagen.

Elaine kramte in ihrem Rucksack und fand endlich wieder die Handschuhe von Sir Karnickle, die sich vorhin vor ihr versteckt zu haben schienen. Sie faltete sie ordentlich zusammen und verstaute sie diesmal in einer der Seitentaschen, damit sie sie nicht wieder suchen musste, wenn sie sie brauchte. Dann klopfte sie auf diese Seitentasche, um sich zu vergewissern, dass die Handschuhe auch wirklich drin blieben. Vielleicht würden sie sich ja wirklich irgendwann mal als nützlich erweisen.

Langsam wurde es richtig dunkel und Corry nahm ihre Sonnenbrille ab. Die Spaziergänger wurden immer weniger, es wurde kühl und leichter Nebel zog auf. Und dann blieb Corry plötzlich stehen. Die Markierung war zu Ende. Sie waren da.

Sie standen vor dem Grundstück auf dem sich ein größeres, leicht verfallenes im viktorianischen Stil Haus befand. Davor lag ein nicht besonders gut gepflegter Rasen, der mit in verschiedenen Formen zugeschnittenen Bäumen und Sträuchern geschmückt war. Den Rand bildete ein mehr oder weniger ordentlich weiß gestrichener, hölzerner Zaun. Das Schild neben dem Tor sagte: „Villa Pepper“ und etwas kleiner war darunter geschrieben: „Eigentum von Gräfin Agatha Pepper. Betreten auf eigene Gefahr. Vorsicht vor dem bissigen Hausschwein. Bettler und Straßenprediger werden sofort erschossen.“

Da waren sie also – und kein bisschen zu früh, denn etwas weiter die Straße hinunter, dort wo sich der Dienstboteneingang befand, stand bereits eine mit Koffern und Kartons voll beladene Kutsche. Die Gräfin schien zu verreisen. Sie wollten keine Zeit verlieren.

Süße Träume, Elaine

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