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2 Viel Lärm um ein kleines bisschen Nichts

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Jetskis donnerten unbekümmert und dröhnend übers Mittelmeer.

„In Deutschland ist das verboten, viel zu gefährlich“, merkte Marie beiläufig an.

Motorboote zerschnitten fleißig rauschend die wunderbare Stille am weißen Sandstrand, dem Plage de la Croisette. Die ehrwürdigen Paläste entlang der palmengesäumten Promenade, heute fast ausnahmslos berühmte Hotels, darunter das Hilton, das Mercure und natürlich das hundertjährige Carlton, welches, wie Marie bereits vorher hatte anklingen lassen, Alfred Hitchcock 1954 in seinem Film „Über den Dächern von Nizza“ verewigte und das seither Nobelabsteige für Hollywood-Stars und andere Filmschaffende während der jährlichen Filmfestspiele ist, hielten sich kerzengerade, wie alte Leute mit großer Vergangenheit. Unnahbar und stolz ließen sie sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Ach ja“, seufzte Marie, „im Carlton würde ich auch gerne mal die Seele baumeln lassen – und das am liebsten in der Grace-Kelly-Suite mit Heiratsantrag inmitten einer zauberhaften Blumendekoration …“

Julie lachte. „Na klar, du bist ja auch Krösus. Weißt du eigentlich, was dort das günstigste Zimmer kostet? Achthundert Euro pro Nacht, und das auch noch ohne Frühstück …“

„Na und?“, antwortete Marie ungerührt. „Das zahlt doch dann der tolle Typ, der mir den romantischen Antrag macht.“

„Dein Wort in Gottes Gehörgang“, stöhnte Franca, und etwas Sehnsucht schwang in ihrer Stimme mit.

Sie waren in Cannes angekommen. Der Reiseleiter ergriff das Mikrofon und das Wort: „Vom Mittelalter bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert war auch Cannes noch ein kleines Fischerdorf gewesen. Dann kamen französische und ausländische Adelige in die Gegend und bauten sich ihre Ferienhäuser. Bis heute gilt die Stadt als Treffpunkt der Schönen und Reichen und …“

„Dann sind wir hier ja genau richtig!“ Madame Honoré lachte herzlich.

Jean Robie schaute sie kurz irritiert an, fing sich dann aber schnell wieder und beendete seinen Satz: „… und hat sich ihren mondänen Charakter bis in die Jetztzeit erhalten!“

Maurice chauffierte den Bus entlang des Boulevards bis zum Parkplatz oberhalb von Pointe Croisette. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Blick über die gesamte Promenade, auf das Festspielhaus, die drei Kasinos und den Palais des Festivals et Congrès, in dem jährlich die Internationalen Filmfestspiele stattfanden. Dazu Shops, Boutiquen, Bars und Restaurants … „… und dazwischen mein Lieblingshotel“, sagte Marie begeistert.

„Mon Dieu.“ Julie war langsam genervt. „Nun hör aber mal auf mit deiner ständigen Filmkulisse!“

„Nun ja“, unterstützte Eleni da überraschend Marie, „schließlich haben dort auch andere Berühmtheiten logiert, wie zum Beispiel Édith Piaf oder Gérard Philipe, übrigens der Schwarm meiner Jugendtage. Leider ist er sehr früh verstorben …“

„… und liegt hier auf dem berühmten Cimetière du Grand Jas, einem Friedhof, der als Frankreichs größter innerstädtischer Park gilt“, unterbrach sie Jean Robie. „Dort finden Sie auch die Gräber von so bekannten

Persönlichkeiten wie der Schauspielerin Martine Carol, Klaus Mann und der wunderbaren Koloratursängerin Lily Pons, die zwar in Dallas starb, sich aber hier in Cannes beerdigen ließ. Wenn Sie wollen, Mesdames, schauen wir uns die Gräber dieser Berühmtheiten gerne nach dem Essen kurz an.“

„Um Himmels willen“, ließ sich da die pensionierte Ärztin entsetzt vernehmen, „da landen wir noch früh genug. Jetzt wollen wir erst einmal ein köstliches Mahl einnehmen … Wo führen Sie uns denn eigentlich hin, cher Monsieur Robie?“

„Ins Astoux et Brun, das beste Fischrestaurant weit und breit. Es liegt ein Stückchen weiter unten direkt an der Promenade. Das Ambiente wird Sie auf den ersten Blick nicht besonders begeistern, es ist schlicht und einfach. Aber man findet dort die größte und vielfältigste Auswahl an frischen Austern …“

„Ach, du liebes bisschen“, sagte Marie erschreckt und gedachte der Austernkatastrophe vom vorigen Jahr in Saintes-Maries-de-la Mer mit ihren Freundinnen und Paolo, dem römischen Besuch.

„Haha“, lachte Eleni, „wenn ich daran denke, wie dir das Edel-Scheißerchen durch das ganze Restaurant flutschte …“

„Oui, oui“, ergänzte Julie fröhlich, „und wie du anschließend dem garçon unter das Tablett mit deinem Ersatzfisch schlugst und die köstliche Dorade mir dann vor die Brust klatschte …“

„… und sich folgerichtig fein säuberlich und selbstständig auf dem Tisch zerlegte“, fiel nun auch Franca ein. Und dann fielen alle drei erschöpft auf eine Promenadenbank, weil es sich im Stehen so schlecht lachte.

„Sie können dort auch gerne das beste Lachs-Carpaccio von Topqualität genießen“, unterbrach der Reiseleiter da ungeduldig ihre fröhlichen Erinnerungen. Und während sie nun alle im Gänsemarsch zum Restaurant promenierten, dachte Jean Robie verzweifelt: Im nächsten Leben studiere ich nicht noch einmal Kunsthistorisches und arbeite für ein Zubrot als Reiseleiter, im nächsten Leben lerne ich gleich Millionär. Dann muss ich mich nicht mehr mit Erinnerungen aus früheren Leben, Eigenwilligkeiten und Besserwissereien der Seniorinnen herumschlagen, dann kann ich mich gleich mit jungen Gespielinnen vergnügen, die zwar arm an Geldbeutel und Geist sind, dafür aber bildschön wie Models. Und dann trieb er seine Herde zur Eile an: „Ich bitte Sie, chères Mesdames, nicht trödeln“, und hob die verschlungenen Hände wie zum Gebet gen Himmel, „sonst bekommen wir keinen Tisch mehr. Im Le Brun kann man leider nicht reservieren. Jetzt um die Mittagszeit ist sicher noch einiges frei. Aber Sie müssten es mal am Abend versuchen. Da stehen die Leute in einer langen Schlange bis auf die Straße, um einen freien Tisch zu ergattern.“

„Amen“, sagte Marie salbungsvoll und die anderen grinsten.

„Napoleon Bonaparte gilt als eine der faszinierendsten Personen der europäischen Geschichte“, bereitete Jean Robie nach dem Essen seine Schäfchen auf ihre Weiterreise vor. „In den Wirren der Französischen Revolution hatte es der kleine korsische Landadelige geschafft, kurzzeitig zum mächtigsten Mann des Kontinents zu werden …“

„Und weil er einfach größenwahnsinnig war, scheiterte er genauso wie mehr als ein Jahrhundert später ein irrer Deutscher an der Weite des russischen Landes“, unterstützte Marie die Worte des Reiseleiters.

„Er musste abdanken, und der Senat verbannte ihn auf die Insel Elba“, nahm Monsieur Robie den Faden wieder auf.

„Warum erzählen Sie uns davon, und was hat es mit unserer Reise nach Grasse zu tun?“, wollte Eleni neugierig wissen. „Das kennen wir doch alle noch aus dem Geschichtsunterricht in der Schule …“

„… und aus dem Film ‚Desirée‘ mit der zauberhaften Jean Simmons und dem wunderbaren Marlon Brando. Übrigens einer der besten Napoleon-Darsteller aller Zeiten“, warf Cineastin Marie ernsthaft ein, „gedreht nach dem Bestseller von Annemarie Selinko, neben Vicki Baum eine der erfolgreichsten Unterhaltungsschriftstellerinnen ihrer Zeit“, und brachte damit Jean Robie kurz aus dem Konzept.

„Das gehört doch nun wirklich nicht hierher!“

„Natürlich gehört auch das hierher, denn die Selinko hat das Buch ihrer Schwester Liselotte gewidmet, die unter dem Regime des uns allen bekannten zweiten Irren von den Nazis im Krieg einfach ermordet wurde.“

„Ja, dann …“, seufzte er ergeben, „aber ich erzähle Ihnen davon, weil wir gleich auf der berühmten Route Napoléon weiter nach Grasse fahren“, und wirkte leicht genervt.

„Ach“, sagte Franca und tat gekonnt unwissend, „warum hat man denn die Straße dorthin nach dem großen kleinen Feldherrn benannt?“ Und sie himmelte ihren Jean betörend an.

Der lächelte geschmeichelt zurück. „Kommen Sie, Mesdames, den Rest erfahren Sie auf dem Rückweg zum Bus.“

Und so brach man hastig auf, und im Eiltempo sprach er im Gehen weiter, während Franca bewundernd an seinen Lippen hing. „Die Route Napoléon folgt dem Weg Bonapartes, der mit einer Handvoll Getreuen von Elba floh, vor den Toren des damals noch kleinen Fischerdorfes Cannes lagerte und dann binnen kürzester Zeit und im Marschtempo über Grasse, Digne, Sisteron und Grenoble nach Paris zurückkehrte, um dort die legendäre ‚Herrschaft der hundert Tage‘ anzutreten …“

„Und da dieses Unternehmen mit dem Flug ‚von Kirchturm zu Kirchturm‘ verglichen wurde“, fiel Julie dazu noch ein, „ziert von nun an das Adlersymbol die Ortstafeln der an der Route Napoléon liegenden Ortschaften.“

Sie erstiegen den Bus durch seine hintere und die Vordertür. Prompt gab es im Mittelgang einen Verkehrsstau wie ständig auf der Autobahn zwischen Avignon und Marseille, weil die Ausmaße der Madame Honoré verhinderten, dass irgendjemand an ihr vorbeikam. Außerdem schrie sie auch noch die ganze Zeit sehr aufgeregt: „Wo ist mein Bikini? Mein Bikini ist weg! Wer von euch schlanken Dingern hat meinen Bikini geklaut?“

Worauf Franca amüsiert antwortete: „Sehen Sie. Hätten Sie das schicke Teil selbst am Leibe getragen anstatt in der Hand, wäre es mit Sicherheit nicht verschwunden.“

Alles lachte, und die Doktorin sagte grinsend: „Den hatte ich ja gar nicht ständig in der Hand, der war doch als Mitbringsel-Surprise für meine Enkelin bestimmt und steckte den ganzen Tag in meinem schicken Pompadour.“ Sie kramte eifrig in ihrem Riesenbeutel herum und hielt damit die anderen erst recht auf.

Marie legte ihr freundlich den Arm um die Schulter und fragte geduldig: „Jetzt mal ganz in Ruhe. Wann haben Sie denn zum letzten Mal Ihre Tasche geöffnet?“

„Das ist mir total entfallen“, jammerte ihre Busnachbarin. „Oh, là, là, ich werde alt und senil!“

„Vielleicht bei dem Juwelier auf der Promenade in Pointe Croisette“, versuchte der Reiseleiter, der sich nun bis zu der aufgeregten Gruppe um Madame Margritte durchgekämpft hatte, ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

„Das wäre eine Möglichkeit“, atmete die Doktorin erleichtert auf, „nur wer klaut einer Kundin, die bei ihm ein kostbares Armband ersteht, den Bikini, auch wenn er noch so ein teures Stückchen Stoff aus Saint-Tropez ist?“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz um, kletterte hastig wieder aus dem Bus hinaus und die Golden Girls mit ihr, um ihr im Notfall nützlich zur Seite zu stehen. Auch aus der Vordertür folgten ihnen einige der reichen, vornehmen Damen, allerdings nicht aus Hilfsbereitschaft, sondern bloß aus reiner Sensationslust.

Bald darauf drückte Madame Honoré auf die Klingel neben der – wie bei Juwelieren im ganzen Süden üblich – geschlossenen und vergitterten Eingangstür. Zögernd kam der Besitzer nach vorne und öffnete vorsichtig sein Geschäft. Alles drängelte sich in den kleinen Innenraum. Sie standen wie die Heringe dicht beieinander, und es blieb dem Rest der Reisegesellschaft nichts anderes übrig, als die Szenerie von außen zu verfolgen.

„Der Herr dort hat mich bedient“, rief Margritte laut und ihr Zeigefinger schnellte anklagend über die Ladentheke auf den Inhaber zu.

Der fuhr erschrocken zurück und beteuerte vorsichtshalber mal mit einem dreifachen „Nonnonnon!“ seine Unschuld.

Jean Robie hatte sich durch die aufgeregte Menge nach vorne gequetscht und erklärte dem Juwelier in ruhigen Worten die makabre Situation.

Nun wurde das „Nonnonnon“ sehr energisch. Wo käme er denn hin, wenn er Kundinnen teuren Schmuck verkaufen und dafür billige Wäsche entwenden würde?, und er sah Madame Honoré hoheitsvoll und empört an.

Diese hingegen fauchte nun ihrerseits wütend: „Das war keine billige Wäsche vom marché aux puces, das war ein sündhaft teures Badekleid von Kiwi, und dieses Geschäft in Saint-Tropez wird auch Ihnen, oder wenigstens Ihrer Frau, mit Sicherheit ein Begriff sein!“

Mesdames, ich bitte Sie!“ Der Busfahrer hatte den Kopf durch die geöffnete Tür gesteckt. „Machen Sie doch nicht so viel Lärm um ein kleines bisschen Nix!“ Und er zeigte stillvergnügt auf ein zusammengeknülltes Stoffteil, das am Boden vor der Ladentheke lag und dessen Farbe nun durch das Darübertrampeln der vielen Damenfüße von zauberhaft bunt zu mausgrau gewechselt hatte. Maurice hatte den verunstalteten Bikini schon gleich zu Anfang bemerkt, aber seine Entdeckung eine Weile für sich behalten, weil ihm der lebhafte Disput zwischen den Kontrahenten so viel Spaß gemacht hatte.

Madame Margritte hob das graue Nichts vom Boden auf, steckte es verschämt in ihre Tasche und schaute den Juwelier abbittend an.

Jean Robie erstand einen kleinen silbernen Anhänger, der sich später – o Wunder – an Francas Schlüsselbund wiederfand, und klopfte dem sich in triumphaler Siegespose – „wie einst Napoleon Bonaparte“, kicherte Eleni – wiegenden Juwelier entschuldigend auf die Schulter.

Und dann rollte der Bus schließlich aus dem mondänen Cannes, das sie trotz aller Querelen hoffentlich in guter Erinnerung behalten würden, über die Route Napoléon in Richtung Grasse.

Die Lavendelgang II

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