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»Really crazy« – Samuel Beckett und Karl Valentin

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IM Winterhalbjahr 1936/​37 unternahm Samuel Beckett eine größere Deutschland-Reise, die ihn außer nach Hamburg und Berlin auch nach Dresden und München führte. Da er sich für Malerei interessierte – und hier wiederum für die deutschen Expressionisten, insbesondere für die soeben von den Nationalsozialisten mit dem Bannstrahl des Ausstellungsverbots belegten Künstler –, war er bei seinem München-Aufenthalt darauf aus, Bilder von einigen der bereits »Verfemten« zu sehen. Kurz zuvor, in Dresden, war ihm das noch gelungen, der dortige Museumsdirektor hatte ihn noch einen Blick ins Depot werfen lassen. In München warf jedoch offenbar die Ausstellung »Entartete Kunst« schon ihre Schatten voraus, so dass ihm das dort nicht mehr geglückt ist. Immerhin schaffte er es, beim Verleger Piper und bei einem weiteren Sammler einige dieser Bilder zu sehen.

Theater und Literatur, für die man bei Beckett reges Interesse vermuten würde, standen damals hingegen kaum auf seinem Reise-Programm. Und dies, obwohl er relativ gut Deutsch sprach und sich bekanntlich später, in den 1950er Jahren, als er im Berliner Schiller-Theater einige seiner Stücke inszenierte, sogar an Übersetzungen gewagt hat. Um so ungewöhnlicher, dass er in München ausgerechnet eine Aufführung Karl Valentins im »Kabarett Benz« besuchte. Der Schauspieler Josef Eichheim, mit dem Beckett in Berlin, in derselben Pension wohnend, bekannt geworden war, nahm ihn eines Abends in die Schwabinger Bühne mit, nachdem Eichheim einige Monate zuvor Karl Valentin in Berlin bei einem Gastspiel erlebt hatte und hiervon begeistert war.

An diesem Abend nun stand Valentins berühmter Schwank »Der reparierte Scheinwerfer« auf dem Programm, mit ihm und mit Liesl Karlstadt als Darstellern. Und auch wenn sich Beckett mit dem bayerischen Dialekt und den ja oft mehr gegrummelten als gesprochenen Worten vermutlich schwergetan haben wird, hat er doch mit der Aufführung etwas anzufangen vermocht, hat sie ihn offenbar zutiefst beeindruckt. Ja, er war davon so fasziniert, dass er Karl Valentin persönlich kennenlernen wollte. Und in der Tat hat Eichheim dies ein paar Tage später vermitteln können. Die Begegnung fand – kein Aprilscherz! – am 1. April 1937 statt, wobei Beckett und Eichheim den Komiker in dessen mit »Grusel- und Lachkeller« titulierten Räumen am Münchener Färbergraben besuchten, einer Art Privatmuseum voller Valentinscher Kuriositäten. Der Hausherr soll die beiden, höchst typisch für ihn, mit einem pelzbesetzten »Winterzahnstocher« begrüßt haben (ein Gerät, das es übrigens noch immer im Münchener Valentin-Musäum zu sehen und als Replik zu kaufen gibt).

Wie und worüber sich die beiden verständigt haben? Hier der kauzige und nach innen gekehrte, ebenso spröde wie trockene Ire, dort der gleichfalls kauzige und im Prinzip ähnlich in sich gekehrte Bajuware, der bei allem Charme und aller Offenheit doch alles andere als daran gewöhnt war, mit ausländischen Besuchern umzugehen oder sich gar weltläufig zu geben; beide zudem depressive Naturen und daher im privaten Gespräch eher scheu und zurückhaltend. Doch manchmal genügt ja ein Gespür für das Besondere, Ungewöhnliche im jeweils anderen, um auch ohne sprachliches Verständnis miteinander kommunizieren zu können. Und in diesem Fall besaßen beide Protagonisten eine gehörige Portion davon. Karl Valentin wird dem Gast sicherlich seine in Vitrinen und auf Sockeln ausgestellten »Fundstücke« vorgeführt haben, so zum Beispiel den »Kamm der Loreley«, das »Nest voller ungelegter Eier«, die »Geschmolzene Eisskulptur« oder das »Glas mit Berliner Luft«, das Beckett höchstwahrscheinlich amüsant fand. Die Komik, die dieser Vorführung innewohnte, hat sich ihm gewiss umgehend vermittelt.

Nur schwer vorstellbar scheint allerdings, dass Beckett auch im eigentlichen Sinne begriffen hat, was diesen so eng mit der deutschen Sprache verbundenen, ihre Sprichworte und Mythen umkreisenden Valentinschen »Erfindungen« konzeptuell zugrunde lag. Die Begegnung der beiden ist daher von einer Art Geheimnis umgeben: zwei Künstler, die sich kaum miteinander verständigen konnten, doch jeweils erfasst und erkannt haben, worin das Eigenwillige ihrer Person und ihrer (Sprach-)Kunst bestand.

»Really crazy«, so lautet Becketts Tagebuch-Vermerk über diese Begegnung, wobei sich die Beckett-Experten einig darin sind, dass das kein Ausdruck von Distanz oder gar Abwertung ist, sondern vielmehr einer der Bewunderung. »Really crazy« beschrieb offenbar das Empfinden von höchst Merkwürdigem, Befremdlichem, aber auch, dass Beckett den bayerischen so mit Witz und Hintersinn ausgestatteten Komiker als ebenso verquer-skurril wie umwerfend komisch wahrgenommen haben muss.

Dass er damals Deutschland bereiste, mag auf den ersten Blick verwundern, hat dies doch mit Blick auf seine Herkunft und sein Studium des Französischen nicht unbedingt nahegelegen. Was also waren die Gründe für diese Entscheidung? Er sei innerlich ausgebrannt gewesen, so die Beckett-Literatur. Weil er mit seinen ersten schriftstellerischen Versuchen mehr oder weniger gescheitert war, habe Beckett Anregung, neue Impulse gesucht. Das Ganze sei ein spontaner Aufbruch »einfach so« gewesen, zumal er schon zuvor mehrfach in Deutschland geweilt hatte, um in Kassel eine Cousine zu besuchen. Also eine Reise der Liebe wegen, nicht etwa aus Bildungsambitionen heraus.

Bekanntlich gab es in den 1920er und 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine ganze Reihe englischer Schriftsteller, die Deutschland bereist und hier zum Teil sogar für längere Zeit gelebt haben – so zum Beispiel Christopher Isherwood, Stephen Spender oder W. H. Auden. Deutschland-Reisen waren in England damals fast wieder so in Mode wie im 19. Jahrhundert, als es ja ebenfalls vornehmlich Engländer gewesen waren, die Deutschland als Reiseziel »entdeckt« und dabei den Rhein geradezu zum Inbegriff der romantischen Landschaft gemacht hatten. Becketts Neugierde und Interesse galten demgegenüber vornehmlich den Städten und hierbei wiederum in erster Linie solchen, die das Neue, Moderne verkörperten. Er hat sich denn auch am längsten und intensivsten in Hamburg und Berlin aufgehalten. Berlins großstädtische Dynamik zog ihn an, ebenso wie wohl auch die liberale Lebenshaltung seiner Bewohner, die 1936/​1937 dort offensichtlich noch zu spüren war.

Ein wenig befremdlich erscheint allerdings, dass er sich hierbei, sieht man von seinem Interesse für die verfemten expressionistischen Maler ab (das freilich ungewöhnlich genug war), augenscheinlich kaum für die Veränderungen interessiert hat, die sich infolge des Nazi-Regimes bereits in Politik, Gesellschaft, aber auch im Straßenbild eingestellt hatten. Dergleichen registriert er allenfalls am Rande. Und dies, obwohl er sich politisch eher »links« verortete und später in Frankreich, während der deutschen Besatzung, sogar in der Résistance aktiv war. Nimmt man sein Interesse am deutschen Expressionismus, so stellte dieser Aufenthalt genau besehen weniger eine »Bildungsreise, sondern eine Bilderreise« dar (Wolfgang Kemp).

Die Begegnung mit Karl Valentin war jedoch anderer Art. Dabei spricht, wie gesagt, vieles dafür, dass Beckett vor allem von dessen besonderem Umgang mit Sprache gefesselt war. Karl Valentins Sprachkraft und die von ihm betriebene Sprachakrobatik faszinierten ihn – sein Spiel mit Doppeldeutigkeiten, seine ebenso überraschenden wie naheliegenden Wort-Assoziationen, seine fortwährenden Wortverdrehungen, sein »Wortezerklauben«, wie Alfred Kerr es nannte.

Der Münchener Komiker ist oft mit Charlie Chaplin verglichen worden: dort der kleine x-beinige Mann mit Zylinderhut und Stöckchen, hier die fast 1,90 m große, spindeldürre Krummgestalt mit den allzugroßen Schuhen, den verdrehten Beinen und mit einer Art Lottermütze auf dem Kopf, beide zudem jeweils ausgestattet mit einem schalkhaften, spitzbübischen Gesichtsausdruck. Die eigentliche Faszination Valentinscher Komik dürfte indes mehr im Verbalen begründet liegen, in den Wort Slapsticks, mit denen er die Banalität des Alltags und das Sichverheddern des einzelnen in den Wirrnissen der modernen Zivilisation aufzuzeigen und als grotesk bloßzulegen suchte. Auch bei ihm ging es um die Welt des »kleinen Mannes«, dessen Gewohnheiten und Ängste. Doch Valentins Medium war in erster Linie die Sprache, getreu dem Motto: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie’s schon ist.«

Beckett scheint denn auch an Valentin speziell dies beeindruckt zu haben, das Doppelbödige und Vertrackte, die destruktiven und anarchischen Elemente, die in dessen Texten verborgen sind. Und dies jeweils auf die Spitze getrieben in einfachen, kurzen Geschichten, in denen es fast immer um alltägliche Katastrophen geht, um das kleine wie große Scheitern. Nicht zu reden davon, dass viele der Valentinschen Szenen eine Art dialektische, ans Absurde grenzende Hintergründigkeit besitzen.

Wenn Beckett auch manches von dem, was da auf der Bühne verhandelt wurde, wahrscheinlich mehr erahnt denn wirklich verstanden haben wird, geht man gewiss nicht zu weit in der Annahme, dass die Bekanntschaft mit Karl Valentin für ihn, für sein eigenes Schaffen durchaus initiierende Wirkung hatte. Denn das, was ihm da an Absurdem, Groteskem begegnete, liegt ja auch seinem eigenen Werk zugrunde. Wobei solche Annahme um so plausibler erscheint, als Beckett sich schon zuvor intensiv mit James Joyce und seiner Theorie der sprachlichen Verkürzung und der Doppeldeutigkeiten befasst hatte.

Liest man vor diesem Hintergrund seine großen Stücke »Glückliche Tage«, »Warten auf Godot« oder »Endspiel«, drängen sich jedenfalls unmittelbare Parallelen zu Karl Valentins Texten auf. Selbst in szenischer Hinsicht meint man da immer wieder Figuren Valentinscher Prägung zu erkennen, man denke etwa an Clov oder auch an Wladimir und Estragon. Dass Beckett in seinem Werk auf diese Einflüsse Bezug nimmt, ist denn auch unter Literaturwissenschaftlern so gut wie unbestritten.

Nicht zu übersehen sind andererseits die Unterschiede zwischen beider künstlerischem Vorgehen. So erweisen sich Karl Valentins Stücke trotz aller Sprachakrobatik und mimischer Kraft letztlich doch als »kleine Geschichten«, Schwänke, Sketche, während Beckett weit angelegte, »große Stücke« geschrieben hat, deren Figuren über das Alltägliche und Enge unseres Lebens hinausgreifen und dabei tiefen philosophischen Gehalt haben. Seine Protagonisten haben kein Vertrauen mehr in die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens, ihre Freiheit hat sich auf Null reduziert, mit ihrem Handeln oder in ihrer Handlungsunfähigkeit wird jeweils das Ende unserer Zeit behauptet. Bekanntlich war Beckett Anhänger der Philosophie des Existentialismus, seine Texte zeugen davon.

Und noch etwas trennt die beiden: Karl Valentin hatte Humor, während Becketts Stücke geradezu humorfrei scheinen. Vielleicht, dass sich in ihnen englischer bzw. irischer Humor verbirgt, der unsereinem verschlossen bleibt, und durchaus denkbar auch, dass sich in ihnen »philosophische Clowns-Spiele« (James Knowlson) verbergen.1 Doch über Becketts Figuren lässt sich nicht unbedingt lachen, so verzerrt-komisch sie zuweilen auch sind. Allenfalls, dass einem angesichts ihres jeweiligen Handelns oder Nichthandelns das Lachen im Halse steckenbleibt. Bei Karl Valentin dagegen gehört das Lachen stets dazu, ist Lachen, Lachenkönnen immer ganz selbstverständliches und unmittelbar zugehöriges Sprachelement. Seine Stücke sind in weitestem Sinne »Kabarett«. Und in ihnen spiegelt sich gerade auch die befreiende Wirkung, die Lachen zu erzeugen vermag.

Ob Beckett an dem Aufführungsabend oder bei jener privaten Begegnung im April über Karl Valentins Texte und Gesten nicht nur geschmunzelt, sondern auch gelacht hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Unumstritten ist jedoch, dass er offenbar für dessen Humor empfänglich gewesen ist. »Really crazy« – kürzer und treffender lässt sich jedenfalls Karl Valentins bis heute reichende Ausstrahlung kaum beschreiben.

Beckett bei Karl Valentin

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