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Faszination des Fliegens – Franz Kafka und Gabriele D’Annunzio

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WÄHREND vermutlich jeder Abiturient in Deutschland wie in Italien weiß, wer Franz Kafka ist, löst die Frage nach Gabriele D’Annunzio hierzulande für gewöhnlich Ratlosigkeit aus. Bei unseren südlichen Nachbarn hingegen gilt D’Annunzio nicht nur als bedeutender Fin-de-siècle-Autor, sondern sogar als eine Art Nationalheld – dies weniger seiner Schriften wegen als vielmehr mit Blick auf die Taten, die er im Ersten Weltkrieg vollbracht hat. Vielen Deutschen ist der Name allenfalls aus dem Italienurlaub vertraut, wo sie, vielleicht auf der Suche nach einem Parkplatz, auf ihn gestoßen sind, gibt es doch in den meisten italienischen Kommunen, ganz gleich, ob groß oder klein, eine »Viale Gabriele D’Annunzio« – und sei dies auch nur des klangvollen Namens wegen.

Was Franz Kafka und D’Annunzio miteinander verbindet? Beide haben an einem Septembertag des Jahres 1909 an der damals berühmten Flugschau von Brescia teilgenommen, dem »Circuito Aero«: Kafka als Zuschauer, von Riva am Gardasee aus angereist, wo er im von Hartungschen Sanatorium die Ferien verbrachte, in dem kurz zuvor bzw. danach Heinrich und Thomas Mann zur Kur weilten, ebenso wie Sigmund Freud, wie kürzlich in einer zur Geschichte dieses Hotels verfassten Studie in Erinnerung gerufen wurde.1 D’Annunzio gehörte sogar zu den eigentlichen Protagonisten jener Veranstaltung: Halb Abenteurer, halb Dichter, war er nicht weniger von dem neuen Fortbewegungsmittel namens aeroplano fasziniert als der Prager Versicherungsangestellte, der in seinem Büro täglich mit den neuesten technischen Entwicklungen und deren Unfallgefahren zu tun hatte. Protagonist war D’Annunzio deshalb, weil er mit den Betreibern der Flugschau befreundet gewesen ist und mit zu ihren Organisatoren gehörte. Anders als Kafka hat er denn auch bei dem Großereignis nicht nur zuschauen und darüber schreiben wollen, sondern es ging ihm mindestens genauso darum, mitzufliegen, sich selber in das Luft-Abenteuer zu stürzen – der Geschwindigkeitsrekord lag damals bei sage und schreibe 76 km/​h! –, was ihm übrigens auch gelang, wurde er doch gegen Ende der Schau von einem der Starpiloten, Glenn Curtis, mitgenommen und durfte so, für wenige Minuten wenigstens, »Höhenluft« atmen. Kafka war zu dem Zeitpunkt schon wieder abgereist. Zusammen mit Max Brod und dessen Bruder Otto hatte er den Zug zurück nach Desenzano bzw. Riva nehmen müssen.

Kafka und D’Annunzio sind einander also nur im übertragenen Sinne begegnet. Doch abgesehen von der gemeinsamen Teilnahme an der Flugschau und dem durchaus bemerkenswerten Faktum, dass Kafka D’Annunzio in seinem Text gleich zweifach erwähnt, wurden beide von diesem Ereignis zum Schreiben angeregt: der Italiener, indem er es zu seinem Roman »Forse che si, forse che no« verarbeitete, auf Deutsch 1911 immerhin vom renommierten S. Fischer Verlag unter dem Titel »Vielleicht, vielleicht auch nicht« verlegt; Kafka, indem er das Erlebte zum Gegenstand eines Aufsatzes mit dem Titel »Die Aeroplane in Brescia« gemacht hat, erschienen am 29. September 1909 in der deutschsprachigen Prager Tageszeitung »Bohemia«, seine zweite Publikation überhaupt und im übrigen wohl auch die erste Beschreibung von Flugzeugen in der deutschen Literatur. D’Annunzio findet darin, wie gesagt, sogar zweimal Erwähnung. Zunächst als Person, die jedermann kennt, dessen Berühmtheit sich quasi von selbst versteht, sodann im Kontext mit all den Notabeln und Prominenten, die sich unter den Zuschauern und vor allem im Festkomitee ausmachen lassen – die örtlichen Honoratioren, die Principessa Laetitia Savoia Bonaparte, die Principessa Borghese und nicht zuletzt Giacomo Puccini, der laut Kafka »von der Tribüne über das Geländer schaut mit einer Nase, die man eine Trinkernase nennen könnte«. Eine Anmerkung, die vermuten lässt, dass der Schreiber in bezug auf die anwesende Prominenz durchaus Bescheid wusste.

Wer herausfinden will, was es mit Gabriele D’Annunzio auf sich hat und was ihn bis heute in Italien so berühmt sein lässt, halte im Lexikon oder im Google-Suchdienst weniger nach dem Schriftsteller Ausschau – da kennzeichnet ihn ein heute kaum mehr erträgliches schwelgerisches Pathos –, sondern nach dessen in der Tat aufregender und sehr italienischen Vita, und mache sich insbesondere einmal das Vergnügen, Gardone am Gardasee zu besuchen, genauer gesagt das dort in einem weitläufigen Parkgelände gelegene, mit einem Mausoleum und vor allem mit zahlreichen Kriegstrophäen versehene Anwesen namens »Il Vittoriale degli Italiani«, wie die ebenso faszinierende wie prunkvollkitschige Residenz heißt, die sich D’Annunzio noch zu Lebzeiten dort auf einem Hügel gebaut hat.

Schon das Haus selbst ist eine opulente Mischung aus privatem Wohnhaus, hochstilisierter Künstler-Werkstatt und Ort der Selbstdarstellung, Selbstinszenierung (ähnlich den Künstler-Häusern Lenbachs, Stucks und Makarts gegen Ende des 19. Jahrhunderts). Das mit Heroenbüsten, Trophäen und mythologisch aufgeladenem Krimskrams angefüllte D’Annunzio-Museum liegt dabei inmitten einer auf Effekt hin inszenierten Garten- und Brunnenanlage, ergänzt um eine Freiluftarena sowie das pompöse Mausoleum für den Hausherrn mitsamt 13 seiner Mit-Heroen. Krönung des Ganzen ist ein pittoreskes, auf einem Hügel plaziertes, in Beton gegossenes Kriegsschiff aus dem Ersten Weltkrieg. Zusammengenommen bildet das Ensemble ein höchst pathetisches Sammelsurium, das D’Annunzio dem italienischen Volk und nicht zuletzt sich selbst als nationales Siegesmal widmete. Seit Mussolini steht es im Rang einer nationalen Gedenkstätte und ist heute noch eines der touristischen Highlights dieser Region, wenn nicht sogar Norditaliens überhaupt. Zwar findet sich hier auch der schriftstellerische Nachlass ausgestellt, die Sammlung von D’Annunzios Büchern, Aufsätzen und politischen Schriften. Weit stärker indes beeindrucken die damals wohl hochmodernen Kriegsgeräte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: besagtes in den Boden eingelassenes Kriegsschiff, zwei aus der selben Zeit stammende Flugzeuge, mehrere Rennautomobile, Motorräder. Alles Objekte, die einzig und allein dazu gedacht sind, dem Ruhm des einstigen Hausherrn Ausdruck zu verleihen sowie die vielfältigen Rollen vorzuführen, in denen er Geschichte schrieb.

So erfährt man etwa, dass D’Annunzio neben Gedichten und Romanen auch Theaterstücke verfasst hat – natürlich Tragödien! –, sogar das Libretto für eine Oper; dass er ein halbes Jahrzehnt lang der Liebhaber und Lebensgefährte Eleonora Duses war, einer anderen Ikone der italienischen Volksseele; dass er früh schon den Faschismus propagierte und hierbei zunächst Rivale Mussolinis war, später dann von diesem protegiert und gefördert wurde (daher »Il Vittoriale« als nationale Gedenkstätte); dass er sich heftig für all die neuen Erfindungen und Entwicklungen im Fahrzeug- und Flugzeugbau interessierte und begeisterte. Und man erfährt vor allem, was D’Annunzio neben seiner Schriftstellerei und seinem Dandy-Wesen für die Italiener in ganz besonderer Weise verehrungswürdig macht: dass er nämlich im und nach dem Ersten Weltkrieg mit gleich drei Aktionen sein Volk in kriegerisch-nationalistische Verzückung zu versetzen wusste:

Im Jahr 1917 feuerte er mit einem Ein-Mann-U-Boot vor dem damals österreichischen Triest drei Torpedos auf gegnerische Schiffe ab (wobei freilich zwei davon in Fischernetzen hängenblieben und der dritte sein Ziel verfehlte). Ende des Krieges, im August 1918, unternahm er dann mit Hilfe eines höchst geübten Piloten (die Strecke betrug immerhin fast 1.100 km) einen Propagandaflug in Richtung Österreich, auf dem es ihm nicht nur gelang, bis Wien vorzudringen, sondern dort – wenn auch keine Bomben – auch immerhin 11.000 Flugblätter in deutscher und italienischer Sprache abzuwerfen. (Flugblätter allerdings mit einem für die Österreicher kaum verständlichen pathetischen Text und vor allem endend mit dem Ausruf »Viva l’Italia!«, was aller Wahrscheinlichkeit nach die potentiellen Adressaten nur wenig beeindruckt haben dürfte, um so mehr jedoch seine Landsleute zu Hause.) Im September 1919 schließlich, also ein Jahr nach Kriegsende und damit das Waffenstillstandsabkommen unterlaufend, führte D’Annunzio eine Gruppe Freischärler ins österreichische Fiume und hielt die Adria-Stadt mit seinem Trupp, der in eigens von ihm dafür entworfenen Uniformen auftrat, für mehrere Monate besetzt – ein Coup, der Mussolini später als Vorbild für seinen berühmten »Marsch auf Rom« diente und D’Annunzio 1924 den vom italienischen König verliehenen (erblichen) Adelstitel eines »Principe di Montenevoso« einbrachte.

Kurzum, man trifft im »Il Vittoriale« auf Zeugnisse von Heldischem – etwas, das uns Deutschen aufgrund unserer eigenen Geschichte höchst suspekt erscheint, wobei für die Italiener offenbar nicht ausschließlich die Tat zählt, sondern vor allem die Pose, der Effekt. Ob das Ganze auch wirklich etwas bewirkt hat, ist demgegenüber weniger wichtig. (Ein glückliches Volk!, möchte man da aus hiesiger Sicht anfügen.)

Was dies alles mit Franz Kafka zu tun hat? Schon Max Brod, der enge Freund und Nachlassverwalter, hat der gängigen Sicht auf Kafka als den Prototyp eines von Daseinsfremdheit, von Schuldgefühlen und vor allem von Angst bestimmten Autors widersprochen und Kafka statt dessen als einen durchaus dem Leben zugewandten Menschen beschrieben. Brod widersprach insbesondere der Auffassung, wonach Kafkas Denken und Handeln aus einer höchst säkularen, existentialistischen Weltsicht heraus entstanden sei, die tödliche Erkrankung daher möglicherweise von ihm sogar unbewusst-bewusst »herbeigesehnt« worden sei. Für Brod waren solche Deutungen nichts anderes als von außen aufgestülpte Theorien. Kafkas Werk liege vielmehr in erster Linie dessen religiöses Schuld- und Sendungsbewusstsein als Jude zugrunde, so sein Credo. Zumal in Prag habe der Deutsch schreibende Autor stärker noch als anderswo erfahren müssen, dass das Judesein und die damit verbundene Außenseiterstellung, egal wie sehr man um Anpassung bemüht sein mochte, sich unter keinen Umständen überwinden lasse. Wobei Max Brod, zeitlebens Zionist und schon von daher solcher Sichtweise zuneigend, an diesem Credo bis zuletzt festgehalten hat, ungeachtet der geradezu erdrückenden Gegenbeweise, auf die die Kafka-Forschung der 1950er und 1960er Jahre hingewiesen hat, solches Bild vom Autor und von der Person Franz Kafka vielfach korrigierend und ergänzend.

Brod mochte daraufhin allenfalls einräumen, dass sich in Kafkas Werk durchaus auch anderes widerspiegele, von einer nihilistischen Weltsicht oder gar von Todessehnsucht jedoch könne bei ihm keine Rede sein, Kafka sei lediglich einer damals weitverbreiteten Krankheit, der Schwindsucht, zum Opfer gefallen. (Der Verfasser hatte im Jahr 1966 als Student in München das Glück, Max Brod anlässlich der Buchvorstellung seiner Reuchlin-Monographie zu begegnen, wobei er ihn auf Kafka anzusprechen suchte. Brod wiederholte dort seine These, dass Kafka demgegenüber eine dem Leben zugewandte Person gewesen sei. Und diese seine Antwort war ungemein überzeugend, da Brod selbst große Energie und Lebensfreude ausstrahlte.)

Und in der Tat lässt sich vielleicht auch in diesem Fall der Wahrheit näherkommen, indem man davon ausgeht, dass in jedem Menschen neben dem Typischen gleichzeitig auch Untypisches angelegt ist, sich Charakterzüge finden, die im Widerspruch zu dem sonst so dominierenden Bild stehen. So scheint sich Kafka zwar in der Tat phasenweise stark mit religiösen Fragen beschäftigt zu haben, dies aber keineswegs durchgängig und in einem Maße, dass es sein Denken und Schreiben insgesamt beherrscht hätte. Ansatzweise ist wohl auch zu unterscheiden zwischen dem Tag-Menschen und dem Nacht-Menschen Kafka, wobei letzterer sowohl für dessen elementare Angst vor jeglicher Nähe oder gar Zugehörigkeit steht als auch für die beständige Suche hiernach.

Für Max Brods These vom »positiven Kafka« spricht jedenfalls, dass dieser, ungeachtet seiner gewiss schwachen physischen Konstitution, häufiger gemeinsam mit dem Freund rudern und schwimmen ging, dass er sogar geritten und Motorrad gefahren ist, was zu jener Zeit ja nicht eben selbstverständlich war, ganz zu schweigen davon, dass Kafka in puncto Sexualität offensichtlich ein ausgesprochen aktiver und in seinem Begehren durchaus selbstbewusster Mann war. Zudem gilt es, zwischen dem Franz Kafka vor und nach der Erkrankung zu differenzieren, wobei wir es bei der Flugschau in Brescia mit dem noch jungen Kafka zu tun haben, der in Riva vor allem des Schwimmens wegen Ferien machte.

In den vergangenen Jahren sind im übrigen im Rahmen der Kafka-Forschung zahlreiche neue, bislang unentdeckte Züge dieses Jahrhundertautors zutage getreten. So zum Beispiel, dass es in seiner Tätigkeit bei der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung dominant um industrietechnische Fragen und Probleme gegangen ist, Kafka also weit mehr als üblich mit technischen Dingen befasst war und nicht lediglich mit deren juristischer Behandlung. Oder dass er sich in der Beziehung zu Felice Bauer ausgesprochen intensiv mit den den Inbegriff technischer Neuheiten verkörpernden Stimmaufzeichnungsgeräten der Berliner Firma, bei der Felice beschäftigt war, befasst hat.2 Nicht zu reden davon, dass Kafka ein starkes Interesse fürs Kino hegte, wobei es ihm wohl weniger um dessen Inhalte ging als vielmehr um die technischen Aspekte des neuen Mediums.3

All dies lässt eine Person erkennen, die in bezug auf die damals rasant um sich greifende Technisierung sowie die damit verbundenen Entwicklungen hin zu einer immer undurchsichtiger und fremd werdenden Massengesellschaft nicht nur deren verzerrende Bürokratien und Entfremdungen erkannte, sondern sich offenbar, und zwar dies mehr als bisher angenommen, geistig wie seelisch mitten in der Moderne verortet hat, der Kafka in der Tat, wie von Max Brod stets so beharrlich behauptet, »positiv« gegenüberstand, zumindest interessiert und offen, Neuem gegenüber durchaus und bewusst aufgeschlossen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Flugschau-Erlebnis von Brescia durchaus noch andere Facetten – etwa, dass der Besuch dort kein bloßer Zufall war und dass es möglicherweise eher Kafka gewesen ist, der die beiden Prager Freunde hierzu animiert hat – eine Vermutung, die angesichts der Erzählung »Die Strafkolonie«, in der Kafkas Technikbegeisterung durchscheint, durchaus schlüssig wirkt. Diese Technikbegeisterung teilt er wiederum durchaus mit D’Annunzio. Dem ging es zwar in erster Linie um den Effekt und erst danach um das eigentlich Technische. Doch beide muss das Ereignishafte der Brescia-Veranstaltung fasziniert haben, besaßen doch jene Flugschauen eine den heutigen Open-Air-Konzerten oder Autorennen vergleichbare Anziehungskraft. Was damals die 40.000 Zuschauer in Brescia waren, sind in unseren Tagen die 100.000 Motorsport-Fans in Hockenheim oder auf dem Nürburgring.

D’Annunzio – und damit unterschied er sich von den Futuristen, die die Beschleunigung des Lebens und die Herausforderungen der Moderne enthusiastisch begrüßten – hatte in erster Linie die politische Aktion im Sinn, und dies in Wort und Tat. Lautstark plädierte er für eine an Nietzsche orientierte kulturelle Erneuerung Italiens, für die Wiederherstellung von Führertum, patriarchalischer Gewalt und absoluter Ordnung, kurzum für ein autoritäres Regime. Insofern erwies er sich bis zum Schluss als rückwärts gewandt, als ein reaktionärer Phantast und Vertreter eines heute kaum mehr erträglichen Ästhetizismus. Die Person, der Akteur D’Annunzio mag für die Italiener bewundernswert bleiben, hierzulande allerdings erscheint er als eher bizarre Figur, eine Art »Scharlatan«, als den ihn Bertolt Brecht bezeichnet hat.4

Kafkas Werk hingegen hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die glasklare Prosa sowie die eindringlichen und bedrohlichen Szenarien, die seine Texte uns liefern und die sich uns einprägen, sprechen noch immer ganz unvermittelt an. Keine Frage, sie sind auch weiterhin von geradezu elementarer Relevanz.

Beckett bei Karl Valentin

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