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Sander fuhr in seine Wohnung und duschte. Als er sich anzog, fühlte er wieder das Alleinsein. Mit einem Ruck griff er zum Telefon.

„Hallo?“, meldete sich eine tiefe weibliche Stimme.

„Na!“

„Hi, Brüderchen. Wieder zurück in der Zivilisation? Seit wann denn?“

„Noch nicht lange. Ich muss dich unbedingt sehen.“

„Was ist denn los?“

Er sagte es ihr.

„Tot? Nein! Nein! Das kann nicht sein.“ Sarah Sander weinte.

„Ich komme zu dir. Hörst du?“

„Schon gut. Aber ich möchte nicht hier drin sein. Nicht jetzt. Ich will raus. Zur Schlachte. Ins Cilana. An der Weser sitzen. Leuten zusehen. Ich sitze auf der Mauer.“

„Ich komme.“ Sander legte auf.

Im und vorm Cilana, einem Mix aus Eiscafe und Bar, tummelten sich vor allem schwarze Bekleidungsstücke. Wer zeigen wollte, er sei intellektuell oder irgendwie mit Kultur beschäftigt, trug irgendwas schwarzes, sei es ein Rollkragen, ein Jackett, eine Bluse, ein V-Pullover mit großem V für weiße Haut. Sander saß auf der niedrigen Steinmauer und sah ständig auf seine Uhr. Endlich erblickte er seine Schwester, die sich einen Weg zu ihm bahnte. Da und dort blieb sie kurz stehen und tauschte Begrüßungen aus.

Sarah Sander war zweiunddreißig Jahr alt. Das verbrauchte Gesicht, leicht aufgedunsen, war früher einmal schön gewesen. Sie sah wie Mitte fünfzig aus. Die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder bestand in der langen geraden Nase. Der große Mund hatte volle Lippen. Das Make-Up war dick auftragen. Ihr Körper war schlank, aber kräftig, ihr Gang der einer Katze. Sander stand auf und schloss die Arme um seine Schwester. Sie erwiderte die Umarmung und presste sich an ihn, suchte Halt.

Kai kaufte für beide Ice-to-Go. Sie setzten sich auf die Steinmauer. Schweigend schleckten sie. Sarah war als erste fertig.

„Warum Charlie?“ Sarah vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich war doch gestern Abend noch bei ihm.“

„Was?“ Ihr Bruder runzelte die Stirn.

„Ja, wir haben uns aber die neuesten Arbeiten unterhalten. Er hatte Aufträge für zwei van Gogh Bilder und einen Monet. Er überlegte wieder auszustellen, mit neuen Bildern, die von Tod und Infektion handeln sollten. Außerdem wollten wir es wieder probieren. Er wollte, dass ich zu ihm ziehe. Hört sich das nach Selbstmord an? Nein!“

„Dann hat Charlie“, überlegte Sander laut, „Besuch bekommen, als du schon weg warst. Dieser Gast hat ihn ermordet und es so aussehen lassen wie Selbstmord. Jeder wusste, dass Charlie Bluter war und deshalb sehr vorsichtig mit Messern umging, überhaupt mit allen scharfen und spitzen Sachen. Jede Wunde bedeutete Lebensgefahr für ihn.“

„Aber er hatte genug Gerinnungsmittel, um sich zu retten. Er muss sich gewehrt haben.“

„Keine Spur von Kampf“, schüttelte Sander den Kopf. „Der Arzt sprach von einer Schädelverletzung. Der Mörder muss ihn bewusstlos geschlagen haben. Dann erst hat er Charlies Pulsadern aufgeschnitten. Charlie hatte keine Chance.“

Nach einem kurzen Schweigen fragte sie:

„Was willst du tun?“

„Rumfragen. Ein bisschen kenne ich die Szene ja auch, obwohl ich mich in seine geschäftlichen Dinge nie eingemischt habe. Ich weiß nur, dass er nach der Infizierung mit Fälschungen bekannter Maler gutes Geld verdiente. Vielleicht hatte er sich Feinde gemacht.“ Er zuckte kurz mit der Schulter.

„Hm, also Mirko Genaro war auf jeden Fall kein Freund von Charlie.“ Ihre Augen leuchteten. Sie nickte vor sich hin. „Dem würde ich das zutrauen. Genaro ist arrogant und kalt.“

„Wo wohnt er?“, fragte er. Sie gab ihm die Adresse. Sander kannte sich aus in dem Viertel. Genaro wohnte in Charlies Nähe.

„So ich muss jetzt los. Ich muss heute ins Sprenkel.“ Das Sprenkel war eine Künstlerkneipe, in der Sarah als Bedienung arbeitete. Sie stand auf, schwankte, setzte sich wieder hin. Ihr Körper zitterte. Sie schien Schmerzen zu haben, hielt den Bauch mit ihren Armen umklammert und krümmte sich nach vorne.

„Sarah!“ Sein Blick war nicht nur fragend.

Sie winkte ab. Langsam richtete sie sich auf.

„Es geht wieder. Musste ja mal so kommen, ein passender Zeitpunkt finde ich.“ Sie versuchte zu lächeln. „Guck nicht so. Es war doch klar, dass es irgendwann soweit ist.“ Sie stand wieder auf, schwankte, blieb aber stehen. „Rufst du mich an, wenn du was rausgefunden hast?“

Ihr Bruder nickte. Die Augen verrieten seine Gedanken.

Sie ließ die Arme hängen.

„Seit drei Tagen! Charlie bemerkte es sofort und wollte deshalb, dass ich zu ihm ziehe. Er wollte mich pflegen bis ...“ Sie wandte den Kopf. Tränen schossen aus den Augen. Sander war sofort bei ihr und schloss sie in die Arme.

„Ich hab Angst, Kai! Ich will nicht sterben und kann nichts dagegen tun.“

Sander blieb stumm, streichelte ihren Kopf.

„Komm, ich bring dich nach Hause.“

Tödliche Rechnung

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