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Laboratorien einer neuen Zeit

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Wenn wir den Suchaufträgen nachgehen, die in diesen Erinnerungsbildern stecken, dann stellt sich bald die Frage nach dem Epochalen, nach dem Neuen in dieser Art zu wohnen, zu leben, zu arbeiten. Neu ist nicht, dass Professor und Schüler unter einem Dach wohnen. Diese ganzheitliche Art des Lernens, deren Wurzeln man schließlich bis zu den Rabbinen und zu Jesus und seinen Jüngern zurückverfolgen kann. Auch das Bursenwesen hat eine lange Geschichte,20 in der die zusätzlichen Einnahmen für den Lehrer immer schon eine wichtige Rolle spielten.


Schwarzes Kloster: das Lutherhaus

Neu ist, dass Magister und Doktor verheiratet sind, dass die Ehefrau des Lehrers die Haushaltung organisiert, die Zimmer vermietet, die Gelder eintreibt, und dass die Schüler in eine real existierende Familie aufgenommen werden.

Das hat eine sehr interessante ökonomische Seite. Katharina Melanchthon stammte aus einem Handwerkerhaushalt. Jetzt hatte sie einen Haushalt aufzubauen, bei dem noch ein paar mehr „Lehrlinge“ und „Gesellen“ zu beherbergen und zu verköstigen waren als zu Hause. Melanchthon prahlt einmal: „Heute wurde an meinem Tische in elf Sprachen geredet, lateinisch, griechisch, hebräisch, deutsch, ungarisch, slavisch, türkisch, arabisch, neugriechisch, indisch und spanisch.“21 Katharina war dieser Aufgabe durchaus gewachsen, auch wenn sie nicht so geschäftstüchtig war, wie Luthers Käthe. Nur ein Mal, als sie sich über längere Zeit schwach fühlt, bittet Melanchthon die jugendlichen Kostgänger, „sich andere Tischplätze zu suchen“.22

Katharina Luther dagegen baute ihre Position zielstrebig aus. Das große Kloster bot viele Räume, die sie an Studenten vermieten konnte. Die Wohn- und Lernatmosphäre um sie und ihren Mann hatte so viel Faszinierendes, dass oft alle Zimmer ausgebucht waren und sie nicht einmal mehr Freunde aufnehmen konnte. Luther war ungewöhnlich freigiebig und von einer königlichen Gastfreiheit. Ihr fiel die Rolle zu, mit den Studenten unnachgiebig abzurechnen. Und Luthers große offene Tafel ließ sich nur durch eine professionell organisierte Hauswirtschaft beschicken, zu der ein wachsender Bestand an eigenen Gärten und schließlich sogar eine kleine Landwirtschaft gehörten. Sie wurde dabei zu einer selbständigen Unternehmerin und verdiente zeitweise mehr, als ihr Mann, der am besten bezahlte Professor in Wittenberg.

Während Luther die Lehrtradition seines Klosters im Rahmen einer reformatorisch umgestalteten theologischen Fakultät weiterführte, brachte sie ihr ökonomisches Können zum Einsatz, das sie ebenfalls der Erziehung im Kloster verdankte. Klöster waren mitunter äußerst erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen mit einer Ausstrahlung, die noch heute andauert. Luther hat sie darin voll anerkannt, und man kann seine amüsanten Beschreibungen ihrer weitläufigen Unternehmungen unmittelbar neben die seiner eigenen Arbeitsüberlastung stellen, die ja auch amüsant klingen.23

Diese Struktur ist etwas Neues: nicht die der traditionellen Arbeitsehe, wo Mann und Frau sich gemeinsam an der Ausübung des Berufs beteiligen, in Handel, Handwerk oder bäuerlicher Arbeit; auch nicht der spätere Beamtenhaushalt, wo der Mann der Ernährer ist und die Frau sich der Küche und den Kindern zu widmen hat. Hier leuchtet ein drittes Modell auf: Wo beide in ihrem eigenen Bereich selbständig arbeiten, gleich erfolgreich, und kooperieren.

Das eigentlich Neue, das epochal Neue aber spielt sich in einem ganz anderen Bereich ab, der etwas mit der Intimität der Familie zu tun hat. Das wird sehr drastisch illustriert durch eine Begebenheit einhundertfünfzig Jahre später, die Philippe Ariès in seiner „Geschichte der Kindheit“ referiert:

„Man duldete damals zwar, dass Lehrer heirateten, hielt jedoch daran fest, dass verheiratete Lehrer keine Universitätsämter übernehmen dürften. Im Jahr 1677 nun wird ein verheirateter Professor zum Dekan der Tribu von Paris gewählt. Der unterlegene Kandidat, der Kanzlist du Boulay, erhebt dagegen Einspruch, und die Angelegenheit wird an den Conseil Privé weitergeleitet. Du Boulays Anwalt gibt in einem Memorandum die Gründe an, die sich für die Aufrechterhaltung des Zölibats der Professoren anführen ließen. Lehrer nehmen gewöhnlich Pensionäre bei sich auf, und die Tugend dieser Knaben kann in mehrfacher Hinsicht in Gefahr geraten:

Unschicklichkeiten, die nur allzu oft auftreten, weil verheiratete Lehrer genötigt sind, häufig junge Leute bei sich zu haben, die sie dann in Gegenwart ihrer Frauen, ihrer Töchter und ihrer Dienerinnen unterrichten. Solches lässt sich unmöglich verhindern und trifft auf die Pensionäre in noch größerem Maß zu als auf die Externen. Ich bitte die Herren Kommissare bei ihren Überlegungen folgendes zu bedenken: welche Unschicklichkeit es insgesamt bedeutet, dass die Schüler auf der einen Seite die Kleider der Ehefrauen und Töchter und auf der anderen Seite ihre Bücher und ihr Schreibzeug und oft genug alles durcheinander zu sehen bekommen, dass sie mitansehen, wie die Ehefrauen und Töchter sich kämmen, ankleiden, zurechtmachen, dass sie Kinder in der Wiege und in Windeln und alles übrige erleben, was zur Ehe gehört …


Schwarzes Kloster, Großer Hörsaal

Der verheiratete Lehrer antwortet darauf, dass es dort, wo Frauen leben, auch Zimmer gibt, in denen sie für sich sind, wenn sie sich ankleiden …, und andere Zimmer für die Schüler. Was nun die Kinder in der Wiege betrifft, so kann man in den Pariser Wohnungen keine solchen finden, weil sie alle bei einer Amme sind: Bekanntlich schickt man die Kinder zu einer Amme auf irgendein benachbartes Dorf, so dass man bei den Eheleuten ebenso wenig Wiegen und Windeln antrifft wie in der Kanzlei besagten du Boulays“.24

Interessant ist, dass es zwischen beiden Bewerbern, dem verheirateten und dem zölibatär lebenden, einen Konsens darüber gibt, dass Schüler weder Frauen zu Gesicht bekommen dürfen, die sich ankleiden, noch Kinder in der Wiege und in Windeln. Erst vor einem solchen Hintergrund wird erkennbar, welch ein epochaler Schritt in den Häusern von Melanchthon und Luther geschieht. Er betrifft nicht nur das Verhältnis zu Frauen und zur Sexualität, sondern auch das Verhältnis zu Säuglingen in der Wiege und in Windeln – vor allem aber die Frage, wie weit Schüler mit beidem in Berührung kommen dürfen und wie weit beides, Unterricht und Familie, unter einen Dach stattfinden darf.

Wie sind die Dinge bei Melanchthon und Luther geregelt? Bestimmte Regeln des Anstands gelten auch hier. Katharina Melanchthon scheint ein eigenes Schlafzimmer gehabt zu haben.25 Melanchthon hat seine kleinen Enkelinnen daran gewöhnt, haben wir gehört, dass sie in seinem Arbeitszimmer pinkeln dürfen, wenn er allein ist, „wenn aber Fremde da sind, sollen sie dies auf keinen Fall tun“.26 Aber diese Regeln sind begleitet von einer gänzlich unbekümmerten Großzügigkeit und Sorglosigkeit und eingebettet in die Freude an der kreatürlichen, leiblichen Existenz. „Als ein französischer Gesandter ins Haus kam, traf er Melanchthon an, wie er in der einen Hand ein Buch zum Lesen hielt, mit der anderen Hand die Wiege schaukelte“.27

Die französische Szenerie aus dem 17. Jahrhundert lässt eine Ahnung aufkommen von der ungeheuren Arbeit, die nötig war, die zölibatäre Welt zu überwinden und nicht nur eine neue Beziehung zu Frauen und zur Sexualität zu finden, sondern gerade auch zu Kindern, kleinen Kindern zumal.28

Melanchthon und Luther als Väter

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