Читать книгу Hochschulbaby - Ingo Stephan - Страница 6
ОглавлениеDie Wiege wird gebaut – nur fehlt da
noch was.
Schütze beginnt fieberhaft an der Reifung seiner Puppe zu werkeln. Die Parteiarbeit hat sein Stellvertreter übernommen – dieses Land ist ja voll davon. Für jeden und alles gibt es einen Stellvertreter und zumeist noch einen Stellvertreter für den Stellvertreter. Denn ein Stellvertreter bedeutet Sicherheit, dass Arbeiten erledigt werden, sollte der Verantwortliche mal nicht können. Und weil der oft nicht kann oder keine Lust hat, braucht dieses Land diese vielen Stellvertreter.
Anton hat Tag für Tag und Nacht für Nacht im Konstruktionsbüro verbracht. Nebenher hat er mit seinem Freund, dem Parteisekretär der Pädagogischen Hochschule Erfurt, eine Unterstützungsbewegung ins Leben gerufen unter der Losung – Studenten in die Produktion! Alle Hände für die Planerfüllung unserer Spielzeugbetriebe! Das ist im Lande üblich. Da werden die Studenten im Sommer zu Arbeiten herangezogen, die eigentlich keiner machen will und weshalb dafür naturgemäß nur wenige Menschen zur Verfügung stehen. Diese Tätigkeiten reichen von Ernteeinsätzen über Sauerkrautstampfen bis hin zu Gräbenausheben mit Spaten und Schaufel für Telefonkabel an den Gleisanlagen der Deutschen Reichsbahn. Harte Arbeit, wenig Lohn, eigentlich kein Lohn, da es ein Stipendium von 200 ostdeutschen Mark monatlich für jeden gibt. Das ist Lohn genug.
Die jungen Frauen und Männer haben das Lagerhaus leer geräumt, in dem sich die geplanten, produzierten, aber nicht verkaufbaren Artikel stapelten. Sie haben die Kisten auf Lastkraftwagen der volkseigenen Gütertransportbetriebe DEUTRANS verladen. Diese haben die Waren nach Rostock zum volkseigenen Überseehafen verbracht, wo sie in die leeren Bäuche riesiger volkseigener Transportschiffe verpackt und über die welteigenen Ozeanwellen nach Kuba und Angola und Vietnam als Zeichen der Solidarität und Völkerfreundschaft verschifft worden sind. Des Weiteren ist aller Dreck und alter Bauschutt auf Lastkraftwagen der Erfurter Müllabfuhr verladen und zur stadtnahen Halde gefahren worden. Dann hat Anton einige Kästen Bier und hundert gute Thüringer Bockwürste ausgegeben, bevor die Halle regenfest gemacht worden ist. Die studentischen Jungarbeiter und Jungarbeiterinnen haben die Löcher in den Wänden mit Beton gestopft, den Boden gereinigt und mit frischem Estrich glatt gemacht, das Dach mit Wellasbestplatten geflickt, alte Isolierwolle darunter gestopft und mit alten Latten und Planken und Brettern und Platten verdichtet, sodass eine ordentliche Isolierung herausgekommen ist. Das alles haben sie in sechs Wochen geschafft. Am Ende hat Anton wieder Bier und Bockwürste spendiert, die jungen Menschen haben eine Diskothek zum Abschluss zelebriert, einige die Gunst der nächtlichen Stunde zum Verlieben genutzt und am nächsten Tag sind sie wieder in den Hörsälen aufgewacht. So hat Anton zumindest eine Fertigungshalle bekommen und ist natürlich auch nicht untätig gewesen. Er hat jene Kraft geschürt, die ein Mensch aufbringen kann, um eine Begehrlichkeit, die in ihm geweckt worden ist, auch zu befriedigen. Da er Scheider zwar zum Freund hat, aber auch weiß, dass diese Freundschaft an jener Grenze endet, die zum einen sozialistische Produktionsweise heißt, zum andern das Innehaben des Stuhles als Kombinatsdirektor bedeutet, hat er die Zeit bis zum Ende des Sommers genutzt und den zweiten Teil seines Planes schneller als vorgesehen in die Tat umgesetzt. Er hat im Büro zwei Prototypen des Babys hergestellt. Von diesen hat er Fotos anfertigen lassen und an Frauenzeitschriften wie GUTER RAT und FÜR SIE, an Kinderzeitschriften wie ATZE, BUMMI und FRÖSI, an die Fernsehzeitung FF-DABEI, an andere Zeitschriften wie DAS MAGAZIN und NBI sowie an Tageszeitungen in der ganzen Republik verschickt, ohne Scheider davon Mitteilung zu machen. Das brauchte Anton auch später nicht zu tun. Das hat ein anderer Mann übernommen. Der Sekretär für Wirtschaft im Zentralkomitee der Staatspartei. Denn der Kombinatsdirektor Genosse Erich Scheider erhielt eines schönen, spätsommerlichen Morgens einen Anruf vom Genossen Günter Abend:
Abend: Genosse Scheider, was ist das wieder für ein Mist?
Scheider: Entschuldige, aber ich versteh nicht ganz ... ?
Abend: Ich habe gerade die FRÖSI meiner Enkelin vor mir liegen und rate mal, was ich da lese?
Scheider: Tut mir leid, aber ich habe noch nicht in die neue Ausgabe hineingesehen. Was steht denn da?
Abend: Dass ihr eine neue Puppe produzieren wollt, ein so genanntes Hochschulbaby. Und das, ohne mich zu fragen?
Scheider: Oh, Genosse Abend, jetzt verstehe ich, ja, wie soll ich antworten, aber ich habe meine Sekretärin schon vor Wochen beauftragt, dich über unsere neuen Pläne zu informieren. Ist bei dir wirklich nichts angekommen?
Abend: Nein, Erich, du kennst mich doch. Ich hätte mich sofort gemeldet.
Scheider: Aber, du kennst mich doch auch, ich meine, ich weiß ja, dass wir ohne dein JA nichts tun können. Das ist mir äußerst peinlich. Ich werde sofort nachforschen, wo hier wieder geschlampt wurde. Natürlich produzieren wir noch nicht. Wir wissen ja gar nicht, ob dafür Ressourcen frei sind. Ich werde die ganze Sache sofort abblasen!
Abend: Nein, Genosse Scheider, das wirst du nicht. Im Gegenteil. Meine Enkelin ist schon ganz verrückt nach deiner Puppe. Ich werde mit den zuständigen Genossen der staatlichen Plankommission telefonieren. Sie sollen dir alles bereitstellen, was du brauchst. Was fehlt, organisieren wir mit Schalk, wie immer. Ich brauche aber unbedingt neue Zahlen, hörst du? So schnell wie möglich.
Scheider: Kein Problem, Genosse Abend. Ich stelle alles zusammen und schicke es dir noch heute raus. Wenn es sein muss mit einem Kurier. Wir kennen ja die Deutsche Post!
Gelächter auf beiden Seiten.
Abend: Ja, der Genosse Minister für Staatssicherheit. Mir ist bald, als liest der jeden Brief. Sonst würde das ja nicht Tage dauern, eh man einen hat, nicht wahr?
Wieder Gelächter auf beiden Seiten.
Abend: Gut, das war das. Ich höre von dir, Genosse Scheider. Sozialistische Grüße!
Scheider: Auf Wiederhören, Genosse Minister.
Scheider hat Erika sofort die Situation erklärt und alles verfügbare Material mit Bildern und Zahlen per Kurier nach Berlin geschickt. Dabei hat er sich im Geheimen gefreut wie eine Mutter, die gerade ein Baby zur Welt gebracht hat. Der Genosse Minister für Wirtschaft hat ihren Plänen zugestimmt. Auf die frisierten Zahlen für 1975 ist keine Reaktion aus Berlin gekommen. Und nun hat Anton auch seinen Willen. Und damit ist Scheiders Plan wohl aufgegangen.
Gute Nachrichten in Form von Leserbriefen bestärken auch unsern Schütze darin, dass eine Rücknahme oder gar ein Stoppen des begonnenen Prozesses nicht mehr möglich ist. Das hat nämlich Ähnlichkeit mit dem gesellschaftlichen Prozess der Errichtung des Sozialismus und Kommunismus im kleinen ostdeutschen Land. Einmal begonnen, hält den in seinem Lauf weder Ochs noch Esel auf. Denn in diesen Bürgerbriefen ist von Begeisterung zu lesen, von vielen Fragen, wann und wo man die Puppe kaufen könne, von Lobreden an die Designkräfte ostdeutscher Spielwarenhersteller und und und.
Anton hat die Schreiben seinem Erich vorgelegt. Der hat nur milde gelächelt und von seinem Telefonat mit dem Genossen Sekretär für Wirtschaft im ZK der Staatspartei erzählt. Daraufhin haben beide eine weitere Flasche Zaraptaner getrunken, den Schnaps mit reichlich Dominator-Bier hinuntergespült, haben nichts mehr gespürt, sind am Tisch eingeschlafen und Erika hat ihnen Decken gebracht.
Am Morgen darauf, nach einem Kaffee, hat Anton nach der Maschine für den Puppenbau gefragt.
Scheider hat sich im Stuhl von einer Seite auf die andere gelehnt und mit offenen Händen Anton an seinen Satz erinnert:
- Du kümmerst dich um die Zahlen, die ich unterschreibe. Ich kümmere mich um mein Baby, dessen Produktion du unterschreibst.
Also ist Schütze im Herbst 1976 höchstpersönlich in die bereits eisige Kälte des sibirischen Ostens geflogen, um mit den sowjetischen Produktionsgenossen über die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu reden. Die Tawarischs haben ihre Skepsis mit runzligen Stirnen zum Ausdruck gebracht. Anton hat von der großen pädagogischen Bedeutung seiner Puppe gesprochen, in der sich die siegreiche Stärke des sozialistischen Menschenbildes widerspiegele, wodurch sie dem Ziel der SED-Bildungspolitik zur Formung allseits entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten umfassend dienen würde. Zusätzlich wäre sie ein Symbol für die bestehende brüderliche Zusammenarbeit zwischen den Werktätigen der DDR und der UdSSR. Er hat ebenfalls von der großen Nachfrage nach diesem Spielzeug in der ersten sozialistischen deutschen Arbeiter- und Bauernrepublik erzählt, die eine Dimension angenommen habe, in der letztlich der Sieg des Sozialismus und der sozialistischen Produktionsweise auf dem Spiel stehe, wenn man diese Wunschdimension nicht bald mit Puppen füllen, nicht bald die Gemüter der DDR-Mütter und Väter sowie ihrer unruhigen kleinen Mädchen besänftigen könne. Ein neuer Volksaufstand läge quasi in der DDR-Luft.
Die sowjetischen Genossen haben darin natürlich eine maßlose Übertreibung erkannt. Sie haben den dicklichen, schnauzbärtigen Deutschen angelächelt und ihm Wodka, sauren Fisch sowie ihr freundliches Achselzucken geschenkt.
- Vsjo budjet, Tawarisch Schütze, aber wie willst du Maschinka bezahlen? Wir den Sozialismus chaben, da, aber zu verschenken wir chaben nichts, nu schto, was nun?
Anton hat einige Produkte des VEB Spielwarenkombinates „Erfi“ aus Erfurt vorgelegt und von Naturalienhandel gesprochen. Das sei doch so üblich zwischen beiden Bruderländern. Der eine gebe das Produkt und bekäme ein anderes dafür.
Der grobschlächtige, riesenhafte, breitschultrige sowjetische Maschinenbaukombinatsdirektor Alexander Fedorowitsch Krutschkin, Träger des Leninordens seit 1968, Träger des Ordens der Völkerfreundschaft seit 1972 sowie Träger des Vaterländischen Verdienstordens seit 1974, hat einige Spielzeuge in die Hand genommen, an seine kleine Enkelin Maschenka gedacht und überlegt, ob ihr diese Sachen gefallen würden. Dann hat er sich ein Bild des Hochschulbabys nochmals zeigen lassen, hat eine Träne unterdrückt – und zugestimmt. In dieser Puppe, so ist es ihm gewesen, hat er seine Maschenka als Neugeborenes wiedererkannt. Dieses Gefühl hat sein Herz geöffnet und ihm die Zustimmung entlockt. Allerdings hat Anton noch eine Frage auf den Lippen gehabt, eine heikle Frage, aber vor allem eine wichtige Frage:
- Vielen Dank, mein bester Genosse Krutschkin. Ein großes Zeichen der brüderlichen Zusammenarbeit der DDR und der UdSSR im Kampf für den Sozialismus und den Frieden ... aber, da ist noch eine Kleinigkeit, ich meine, ein toller Wodka ist das auch.
Sie haben einen Becher voll hintergekippt und Anton hat erneut begonnen:
- Tolles Zeug, dieses Wasser, Teufelswasser ... aber, die Kleinigkeit, mehr ist meine Frage nicht, ich meine, wann können wir mit der Maschine rechnen ...?
Krutschkin hat die Becher nochmals vollgemacht mit klarem Schnaps, sie haben getrunken und der Sowjetgenosse hat gesagt:
- Nu, Tawarisch Schütze, wir werden sehen, sagen wir im Februar?
Während des Heimfluges hat Anton keine Angst gespürt, die er immer hat, wenn er nichts als Metall und Luft zwischen sich und der Erde weiß. Er hat das Bild vom Genossen Krutschkin mit Wodka, saurem Fisch und rauer Machorka vor Augen und die letzten Worte des riesenhaften Russen aus Sibirien im Ohr: - Da, Tawarisch Germanski, im Februar, vsjo budjet, das wird schon.
Allerdings, das weiß eigentlich jeder, ist die Zuverlässigkeit eine Tugend, für die es im Sozialismus eine andere Bezeichnung gibt – Hoffnung.
Und die ist leider nicht erfüllt worden. An einem Morgen Anfang März geht Schütze zu seinem Freund Scheider ins Büro und fragt, ob aus dem fernen Irkutsk vielleicht eine Nachricht eingetroffen sei. Scheider verneint wie seit Tagen. Aber auch er bekommt allmählich ein Problem. Die Zahlen für 1976 bewegen sich auf eine schwarze Null zu, das ist also alles im Rahmen – aber – die Leipziger Frühjahrsmesse steht an. Sein Kombinat „Erfi“ aus Erfurt wird in diesem Jahr mit einem besonderen Stand vertreten sein. Erstmals werden der Öffentlichkeit die beiden Prototypen des Hochschulbabys präsentiert. Gleichzeitig ist es Scheiders Wunsch gewesen, den Produktionsstart zu verkünden. Nun sieht die Sache anders aus. Nun scheint es, als müsse Scheider die Kinder des Landes weiterhin vertrösten. Das wird mit der Zeit immer schwieriger. Denn anstatt einer Nachricht aus dem fernen Sibirien, häufen sich die Briefe auf seinem Tisch mit den Anfragen, wann denn endlich diese Puppe in den Handel käme. Selbst das Wirtschaftsministerium hat nachgefragt und um eine Stellungnahme während des Besuches des ersten Sekretärs der Staatsführung auf der diesjährigen Frühjahrsmesse in Leipzig gebeten. Diesem Eröffnungsbesuch werde auch der Wirtschaftsminister beiwohnen. Und man erwarte etwas vom Genossen Kombinatsdirektor. Man erwarte eine planungsfrohe Nachricht auf die Anfrage:
- Nun, Genosse Scheider, bist du mit unserem Hochschulbaby guter Hoffnung?
Worauf er mit Ja würde antworten müssen.
Die beiden Freunde sitzen sich an diesem verregneten Märzabend gegenüber und haben den Messebeginn in zwei Wochen vor sich. Auf dem Schreibtisch des Kombinatsdirektors lagern die Anfragen in schriftlicher Form. Aber keiner dieser Briefe enthält die rettende Nachricht, auf die Scheider und Schütze eigentlich warten. Erich schenkt diesmal Wodka nach. Beide trinken und sehen sich an. Dabei greift sich Anton an die linke Brust.
- Alles in Ordnung mit dir, fragt Scheider tatsächlich besorgt.
- Klar, sagt Schütze. Wir können jetzt nicht schlapp machen.
- Sicher nicht, erwidert Scheider. Uns bleibt nur, so weiter zu machen, wie wir begonnen haben.
- Und das wäre?
- Na ja, mit einer kleinen Notlüge, die natürlich unter uns bleiben müsse. Niemann habe ich schon kalt gestellt. Der ist auf einem Weiterbildungslehrgang der Gewerkschaft. Dauert bis Ostern. Also kommt er uns auf der Messe nicht in die Quere. Wie wäre es, wenn ich einfach sage, dass alles zur Produktion vorbereitet ist und wir allein auf den Startschuss durch die Planungskommission warten? Es fehlen einfach noch ein paar Sachen, meinetwegen das Plastezeug für die Puppenform oder so, verstehst du?
Anton nickt, trinkt, schüttelt sich und sagt fast tonlos:
- Hast du eigentlich keine Angst, dass die ganze Sache in die Hose gehen könnte?
Scheider blickt überrascht. Das erste Mal hört er von Anton einen solchen Pessimismus.
- Bist du krank, fragt er zurück.
- Nein.
Schütze hebt wieder den Kopf, ist sauer auf sich wegen dieses Moments der Schwäche.
- Aber eine Bitte habe ich, fügt er leise hinzu.
- Nur zu, alter Freund.
- Ich möchte hier bleiben. Das wird mir zu stressig auf der Messe. Zeig du die Puppen und genieße den Andrang. Ich brauche etwas Ruhe.
- Gern, erwidert Scheider und ist tatsächlich froh, ohne Schütze auf der Messe zu sein.
Denn der Mittelpunkt ist jener Ort, an dem sich Scheider am wohlsten fühlt, vor allem, wenn er da alleine steht.