Читать книгу Veanis - Ingrid Mayer A. - Страница 4
Die Entdeckung
ОглавлениеLina saß am Ufer des kleinen Sees im Gras und war völlig vertieft in ihr Manuskript, das auf ihren Knien lag. Auf der anderen Seite des Sees brauste ein Wasserfall von einem meterhohen Felsen herab. Dort, wo er in das Gewässer eintauchte, lag ein feiner Nebel über der Seeoberfläche.
Lina hatte gerade einen Einfall, den sie aufschreiben wollte, als plötzlich dicke Wassertropfen tropften auf das Papier tropften. Ungehalten sah sie auf und sah ihren Bruder Fabian vor sich stehen. Nur mit einer Badehose bekleidet schüttelte er die Nässe aus seinen schwarzen kurzen Haaren, die ihm nun wie dicke Stacheln vom Kopf abstanden.
„Was schreibst du denn schon wieder?“, wollte er wissen. „Komm’ doch lieber mit ins Wasser. Es ist auch garnicht kalt.“
Lina legte ihren Stift weg und atmete tief durch. Dass ihr jüngerer Bruder sich nicht für ihr Hobby begeisterte, wusste sie schon lange. Aber musste Fabian immer stören, wenn ihr gerade die tollsten Ideen durch den Kopf schossen? Sie beschloss, geduldig mit ihm zu sein und erklärte: „Ich schreibe eine Geschichte über ein Land, in dem es viele Wasserfälle gibt. Hinter einem von ihnen ist ein Schatz versteckt, der...“
„Wasserfälle?“, unterbrach Fabian sie und deutete hinter sich. „So wie dieser hier? Und du glaubst, jemand käme auf die Idee, dahinter einen Schatz zu vergraben?“
Lina seufzte. Es war hoffnungslos. Niemals würde er ihre Leidenschaft für fantastische Welten verstehen. Sie beschloss, ihren Bruder zu ignorieren und starrte stur auf ihren Schreibblock, bis sich Fabian beleidigt trollte. Erst als sie ein Platschen hörte, sah Lina wieder auf. Fabian hatte sich ins Wasser gestürzt und trieb nun wie eine lebende Luftmatratze auf der Oberfläche des kleinen Bergsees. Hinter ihm rauschte ein Wasserfall über die Felsen hinab und ergoss sich in das flache Becken. Lina schloss die Augen und konzentrierte sich auf das stetige Rauschen.
Dass der Sonntagsausflug mit der Familie an diesen Ort geführt hatte, freute Lina sehr, denn nun hatte sie Gelegenheit, einen echten Wasserfall zu erleben. Die neuen Eindrücke wollte sie gleich in ihre Geschichte einfließen lassen.
Als Lina ihre Augen wieder öffnete, sah sie oben, auf dem höchsten Punkt des Berges, zwei Gestalten stehen, die zu ihr hinabwinkten. Lina winkte zurück. Ihre Eltern hatten den großen Felsen über dessen Rückwand bestiegen. Nun befanden sie sich dort, von wo aus sich das Wasser in die Tiefe stürzte. Linas Blick wanderte wieder nach unten, denn da winkte ihr ebenfalls jemand zu. Direkt vor dem Wasserfall stand Fabian und gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass er vorhatte, durch die Wasserwand zu gehen. Anscheinend wollte er tatsächlich nachsehen, ob dahinter ein Schatz versteckt war.
‚Dieser Idiot’, dachte Lina. Zum Glück sahen die Eltern nicht, wie Fabian kurz darauf hinter den Wassermassen verschwand.
* * *
Das Wasser umfing Fabian mit einer Wucht, mit der er nicht gerechnet hatte. Ein breiter, gleichmäßiger Schwall ergoss sich über ihn und presste ihn mit seiner überraschenden Schwere beinahe zu Boden. Er bekam keine Luft mehr und torkelte zurück. Doch das Wasser war überall, drückte ihm in Nase, Mund und Ohren. Es fühlte sich an, als sei er von flüssigen Mauern umschlossen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Noch ein Schritt, weit konnte es nicht mehr sein! Mühsam kämpfte sich Fabian vorwärts.
Das Prasseln auf seinem Rücken hörte unvermittelt auf. Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, bis Fabian wieder ins Trockene trat, doch ihm war es wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Er wischte das Wasser aus seinen Augen und sah sich um. Vor ihm ragte ein Felsblock auf. Der Stein ähnelte einer in den Fels gehauenen Treppe, die etwa zwei Meter nach oben führte und mit Moos bewachsen war.
„Lina, hier kann man hinaufklettern!“, brüllte Fabian gegen das Tosen des Wasserfalls an, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihn hören konnte. Prüfend betrachtete er das nasse Gestein. Ziemlich glitschig, fand er, doch die Neugier war stärker als seine Angst auszurutschen. Seine Hände griffen nach kleinen Einkerbungen, sein Fuß suchte sich einen festen Stand auf dem ersten Absatz. Als er das andere Bein nachziehen wollte, rutschte er ab. Fabian versuchte es erneut, und nun gelang es ihm, Halt zu finden. Fest krallte er seine Zehen ins Moos und hangelte sich Stück für Stück höher.
Als Fabian über die letzte Stufe stieg, erfüllte ihn das mit Stolz. Er wünschte, Lina hätte ihm dabei zugesehen, wie zügig er den Aufstieg bewältigt hatte.
Der blanke Fels unter seinen Füßen fühlte sich ungemütlich kalt an, so dass Fabian beschloss, sich nur kurz umzusehen und diesen Ort möglichst bald wieder zu verlassen. Vor ihm lag ein Hohlraum, der gerade so hoch war, dass ein Viertklässler aufrecht darin stehen konnte. Wie weit er ins Innere reichte, konnte Fabian nicht genau erkennen, doch er vermutete, dass es sich nur um eine kleine Einbuchtung im Fels handelte. Als er die Höhle betrat, begann sein Herz lauter zu klopfen. Das ärgerte ihn ein wenig, denn es gab eigentlich überhaupt keinen Grund, sich zu fürchten. Was sollte hier schon sein? Vielleicht ein paar Fledermäuse, doch vor denen hatte er keine Angst. Langsam tastete sich Fabian voran. Mit jedem seiner Schritte schien es um ihn herum finsterer zu werden. Nur ein paar einzelne Sonnenstrahlen drangen gelegentlich durch das herabströmende Wasser und ließen helle Flecken auf dem Gestein tanzen.
Es konnten keine zehn Meter gewesen sein, die Fabian zurückgelegt hatte, als er plötzlich vor einer Felswand stand. Das war es also. Eine Sackgasse. Kein finsteres Geheimnis, das sich in dem Gang verbarg, keine sensationelle Entdeckung. Nicht, dass er damit gerechnet hätte. Aber insgeheim war Fabian schon etwas enttäuscht.
Als er gerade umkehren und sich auf den Rückweg begeben wollte, fiel erneut ein wenig Sonnenlicht in die Höhle herein. Etwas blitzte kurz auf und warf das einfallende Licht zurück, so dass Fabian geblendet wurde. Er blinzelte und sah verdutzt zu der Stelle auf der Wand. Etwa in der Höhe seiner Brust glitzerte ein silberner Gegenstand. Er streckte die Hand aus, um das merkwürdige Ding zu berühren. Irgendwie kam es ihm bekannt vor. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, was seine Finger hier umschlossen hielten. Hastig zuckte Fabian zurück und starrte auf das Gebilde im Fels.
Das war kein Schatz, sondern etwas ganz anderes – etwas, das eigentlich nicht hierher gehörte.
* * *
„Liinnaa!“
Lina sah von ihrem Schreibblock auf und blickte zum See hinüber, wo Fabian durch das Wasser pflügte und ihr zurief: „Komm’ schnell, das musst du dir ansehen!“
Er stieg ans Ufer und lief nervös vor ihr auf und ab, während er von seiner Entdeckung berichtete.
„Jetzt komm’ doch!“, drängte er und packte ihren rechten Arm, um sie daran hochzureißen. „Wie kannst du hier noch ruhig rumsitzen?“
Doch Lina ließ sich die ganze Sache erst einmal durch den Kopf gehen. Die Eltern waren bestimmt noch mindestens eine halbe Stunde unterwegs. Es blieb also noch genügend Zeit. Sie kramte in der Tasche ihrer Eltern herum und fand dort den Autoschlüssel.
„Warte hier!“, befahl sie ihrem kleinen Bruder und stand auf. „Ich komme sofort wieder.“
„Wo willst du hin?“
Doch sie ließ Fabian einfach stehen und ging den kleinen Pfad entlang, der vom See wegführte. Hinter einer Biegung parkte das Auto.
Im Handschuhfach fand sie eine Taschenlampe und im Kofferraum lag eine Plastiktüte. Sie schaltete die Lampe kurz an und stellte zufrieden fest, dass sie funktionierte.
Zurück am Ufer packte sie vor dem erstaunten Fabian ihr Sommerkleidchen in die Tüte und steckte noch ihre Sandalen, sowie Fabians Badschlappen und sein T-Shirt hinein.
„Für alle Fälle“, erklärte sie ihrem Bruder. „In einer Höhle ist es schließlich kalt und dunkel.“
Fabian nickte beeindruckt. Seine Schwester dachte wirklich an alles.
So gerüstet, wateten die Kinder auf den Wasserfall zu. Als wolle er ihr beweisen, dass er keine Angst hatte, schritt Fabian voran und zog Lina an der Hand hinter sich her, die ihm ohne Zögern durch die herabströmenden Wassermassen folgte.
„Du kannst die Augen wieder aufmachen“, schrie Fabian gegen das Getöse an. Lina klappte die Augen auf und rieb sich das Wasser aus dem Gesicht. Ihre langen Haare, die eigentlich die Farbe von Vollmilchschokolade besaßen, wirkten nun in nassem Zustand fast schwarz.
Sie kletterten die Steinstufen hinauf und zogen dort oben zuerst ihre Schuhe und Kleidung an, die in der Tüte trocken geblieben waren. Auch die Taschenlampe funktionierte noch. Lina leuchtete damit die Höhle aus und schritt beherzt voran.
Als die Kinder vor der Felsenwand am Ende des Ganges standen, nahm Fabian seiner Schwester die Lampe aus der Hand und ließ den Lichtkegel kreisen, bis er auf etwas Silbernes fiel.
„Hier ist es“, rief Fabian aufgeregt.
Lina legte mutig ihre Hand auf den Gegenstand. Eine Kugel aus Metall.
„Ich glaube du hast Recht“, sagte sie. „Es könnte sich wirklich um einen Türknauf handeln.“
Doch so sehr sie auch an dem Gebilde zerrte, drückte und drehte, es ließ sich nicht bewegen.
„Wahrscheinlich hat jemand abgeschlossen.“ Lina war enttäuscht. Sie würden hier kein spannendes Abenteuer erleben. Es gab nichts zu sehen.
„Na, das war ja ein Reinfall“, gab Fabian zu.
Sie wollte sich schon umwenden, um den Heimweg anzutreten, als die Wand einen quietschenden Laut von sich gab. Fabian und Lina sahen sich erschrocken an. Mit einem Rumpeln bewegten sich die Felsen und schwangen auf wie eine Tür, ganz von allein, und nur soweit, dass einer von ihnen hindurchschlüpfen hätte können.
„Schnell, wir hauen ab“, wisperte Fabian. „Hier spukt’s!“
Lina sah ihren Bruder verächtlich an.
„Willst du jetzt etwa kneifen?“
Betreten blickte Fabian zu Boden und schüttelte seinen Kopf.
„Also ich gehe da jetzt hinein“, teilte ihm Lina mit. „Wenn du dich nicht traust, bleibst du eben draußen. Ich erzähl’ dir dann, wie es da drin ausschaut.“
Lina ging einen Schritt auf die Tür zu und fühlte sich mit einem Mal unsicher. Wenn nun dahinter ein Ungeheuer lauerte? Nun ja, wahrscheinlich gab es keine Ungeheuer, außer jenen, die sie sich für ihre Geschichten ausdachte, versuchte sie sich gut zuzureden. Aber es könnte schließlich auch ein Verbrecher dort drin wohnen, der sich hier vor der Polizei versteckte. Irgend jemand musste ihnen schließlich aufgemacht haben. Doch wenn sie jetzt zögerte, könnte sich die Tür womöglich wieder schließen, und sie würden niemals erfahren, was sich hinter ihr verbarg.
Trotz aller Bedenken nahm Lina ihrem Bruder die Taschenlampe aus der Hand und schlüpfte kurzentschlossen durch den Spalt.
Dahinter lag eine kleiner Hohlraum, in dem völlige Dunkelheit herrschte. Zögernd tastete sich Lina ein paar Schritte vorwärts und leuchtete den Raum aus.
„Hallo? Ist da jemand?“
Niemand antwortete. Sie schätzte, dass die Höhle etwa vier Meter lang und ebenso breit war. Nun konnte sie auch sehen, dass sich außer ihr wirklich niemand hier drin aufhielt.
„Du kannst reinkommen!“, rief sie nach draußen. „Hier ist keiner.“
Fabian wollte die Tür noch weiter aufdrücken, um bequem hindurchtreten zu können. Doch als er an den Griff fasste, schnellte sie mit einer Wucht zurück, die ihn fast umriss. Der Eingang war wieder geschlossen. Und seine Schwester eingesperrt. Linas Hilfeschreie drangen nur gedämpft an sein Ohr. Hilflos rüttelte Fabian an dem Griff. Doch die Wand, die ihn nun von Lina trennte, bewegte sich keinen Millimeter, selbst als er mit seinen Beinen zutrat. Nichts half. Sie saß in der Falle.
Lina versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Sie durfte jetzt nicht in Panik verfallen. Die Tür, die sich hinter Lina geschlossen hatte, wies an der Innenseite keinerlei Griff auf, sondern war ganz glatt. Anfangs hatte sie versucht, mit aller Kraft dagegen zu drücken. Doch schließlich wurde ihr bewusst, dass sie damit nur ihre Kräfte vergeudete.
„Fabian, hol Hilfe! Allein komm’ ich hier nicht raus!“ schrie sie schließlich laut.
Fabian brüllte irgendetwas zurück, das sie nicht verstand. Lina wusste nicht, ob er sie überhaupt gehört hatte. Von der anderen Seite der Wand rief Fabian erneut etwas Unverständliches. Dann wurde es ruhig. Auch wenn sie ihm normalerweise nicht viel zutraute hoffte Lina, dass er tatsächlich losgelaufen war, um jemanden zu holen, der sie befreite.
Plötzlich fühlte sich Lina einsam. Sie ließ sich an der Wand entlang zu Boden sinken und wollte am liebsten weinen. Bald würde jemand die Tür aufbrechen, versuchte sie sich zu beruhigen.
Im Schein der Taschenlampe besah sich Lina ihr Gefängnis näher. Die Felswände glänzten nass, denn an vielen Stellen tropfte Wasser herab. Fast wollte sie die Lampe schon wieder ausmachen, um die Batterie zu schonen, als sie den Riss im Gestein entdeckte. Lina sprang auf und lief ein paar Schritte, bis sie vor der gegenüberliegenden Wand stand.
Der Spalt im Felsen war gerade so breit, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Lina zögerte nicht lange und zwängte sich hindurch. Von hier aus führte ein niedriger Gang tiefer in die Höhle hinein. Geduckt tastete sie sich vorwärts. Der Weg beschrieb eine leichte Kurve, sodass sie nicht weit sehen konnte. Lina vermutete eine Sackgasse, doch sie täuschte sich. Hinter der Biegung stieß sie auf einen weiteren Höhlenweg, der nach links abzweigte. Dort hatte jemand an die steinerne Wand mit Farbe einen Pfeil gemalt. Sollte sie ihm folgen?
Doch Lina entschloss sich dazu, lieber umzukehren, bevor sie sich verlief. Fabian musste jetzt bald zurück sein. Bestimmt hatte er jemanden mitgebracht, der das Tor aufstemmen konnte.
Aber auf ihr erneutes Rufen antwortete niemand. Es dauerte zu lange. So viel Zeit konnte Fabian doch gar nicht benötigen, um Hilfe zu organisieren.
Sie wartete noch eine ganze Weile, doch nichts passierte.
„Bevor ich noch länger unnütz hier herumstehe, probiere ich lieber den anderen Gang aus“, sagte sie laut und erschrak über ihre eigene Stimme, die ungewohnt hallte.
Lina holte tief Luft und ging los. An der Abzweigung mit dem Pfeil blieb sie kurz stehen, bevor sie dorthin abbog. Kaum hatte sie den Gang betreten, rumpelte es hinter ihr. Sie drehte sich blitzschnell um, doch bevor Lina reagieren konnte, hatte sich eine steinerne Wand aus dem Fels hervorgeschoben, die ihr nun den Weg zurück versperrte. Lina warf sich dagegen und versuchte verzweifelt, den Durchgang wieder zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Ohne nachzudenken lief Lina los, immer tiefer in die Gänge hinein, die bald höher und breiter wurden. Sie stieß auf einen weiteren Pfeil, dem sie folgte. Würde sich wieder eine Wand hinter ihr schließen? Sicherheitshalber bereitete sich Lina darauf vor, kurz vorher in den Gang zurückzuspringen. Doch diesmal geschah nichts. Sie stürmte weiter, immer den Pfeilen entlang.
Der ganze Berg, so schien es, war von einem Höhlenlabyrinth durchzogen. Lina fielen Geschichten ein, in denen sich Leute in solch verschachtelten Gängen verirrt hatten. Ob sie jemals wieder herausfände? Ihre ganze Hoffnung lag bei diesen merkwürdigen Markierungen an der Wand. Irgendeine Bedeutung hatten die Pfeile bestimmt, oder wollte jemand sie damit in die Irre führen?
Nach einer Weile tauchte in der Ferne ein kleiner Lichtpunkt auf. Lina schrie vor Freude auf. Ein Ausgang! Sie begann zu rennen.