Читать книгу Zeitenwandel - Ingrid Mayer A. - Страница 3

Herberts Schätze

Оглавление

Während der letzten Schulstunde verdunkelte sich der Himmel. Dicke Wolken zogen auf und kündigten einen Wetterumschwung an.

“Es wird bald regnen“, stellte Inge nach dem Unterricht fest und deutete nach oben.

Herbert sah sie mit traurigen Augen an und nickte wortlos. Sie mussten sich beeilen, wenn sie nicht nass werden wollten, denn Regenschirme besaßen sie keine. Inge, die in der entgegengesetzten Richtung wohnte, lief bereits los.

“Bis morgen!“, rief sie ihm noch zu und winkte, während ihre kleine Gestalt sich schnell von ihm entfernte. Er blieb noch eine Weile stehen und sah ihr nach, wie sie mit wippendem Zopf die Straße überquerte und sich noch einmal umwandte, um ihm erneut zuzuwinken.

Herbert lebte mit seinen Eltern und Geschwistern ein wenig außerhalb der Stadt. Er wünschte sich, wie Inge in der Stadt zu wohnen, sodass sie den gleichen Schulweg hätten. Wie gerne wäre er jeden Tag an ihrer Seite gegangen. Und vielleicht hätte sich so irgendwann eine Gelegenheit ergeben, ihr seine Liebe zu gestehen. Doch Herbert wollte noch aus einem anderen Grund lieber in die andere Richtung gehen. Denn dann müsste er nicht an der alten Fabrik vorbei.

Das Werk war vor einigen Jahren stillgelegt worden. Früher, vor dem Krieg, hatte sein Vater hier gearbeitet, doch dann waren die Männer an die Front beordert worden. Seitdem standen die Gebäude leer. Den schwarzen Schlot, von dem das obere Stück abgebrochen war, konnte Herbert bereits von weitem sehen. Wie ein erhobener Zeigefinger ragte er mahnend in die Luft. Ein kleiner Pfad führte ihn dicht an der Fabrikmauer vorbei, aus der immer wieder Teile herausbrachen und Lücken hinterließen, die, wenn man sein Gesicht dicht daran presste, einen Einblick auf das Werksgelände gewährten: Verlassene Baracken, verfallen und dreckig, alles in tristem Grau, überwuchert von Unkraut, das aus den Mauerritzen wuchs.

Doch Herbert interessierte dieser Anblick nicht. Er wollte die Fabrik nur möglichst rasch hinter sich lassen, wollte weg aus dieser Gegend, in der Otto und seine Bande sich herumtrieben.

Herbert lief schnell, obwohl sein Herz bereits bis zum Hals klopfte. Er hoffte, dass sie ihm heute nicht auflauerten, um ihn zu quälen. Warum sie das taten, wusste er nicht, doch sie hatten ihn als Opfer ausgesucht und ließen keine Gelegenheit aus, um ihn zu schikanieren. Als Herbert schon fast die Felder erreicht hatte, die hinter dem Werk lagen, trat Otto hinter einem der vielen Mauervorsprünge hervor und stellte sich ihm in den Weg.

“Sieh’ an, der kleine Rosemann.“ Der Junge, der ihn um einen ganzen Kopf überragte, grinste verschlagen.

Vier weitere Halbstarke krochen aus dem Gebüsch neben der Mauer und stellten sich mit gewichtigen Mienen hinter Otto auf, die Hände vor dem Körper verschränkt.

“Was wollt ihr von mir?“ Herbert bemühte sich um eine feste Stimme, doch sie klang gehetzt und atemlos. Otto rückte ganz nah an ihn heran. Die anderen scharten sich um die beiden herum.

“Eine schöne Hose hast du da an“, bemerkte Otto im lockeren Plauderton. In diesem Moment begann es zu regnen. Herbert ahnte, was nun kommen würde und presste sich ängstlich an die Mauer. Otto fasste ihm an die Oberschenkel und befühlte den zerschlissenen Stoff der Hose, der nun von Regentropfen gesprenkelt war.

“Oh, sieh’ nur, jetzt wird sie ganz nass. Du solltest sie ausziehen.“

Herbert schüttelte heftig den Kopf. Tränen traten in seine Augen.

“Wenn du sie nicht selbst ausziehst, helfen wir gern nach“, verkündete ein Junge mit schiefer Nase und einer Narbe über dem rechten Auge. Herbert begann zu weinen.

“Bitte, bitte nicht. Ich habe doch nur diese eine.“

Wenn sie ihm die Hose wegnahmen, was sollte er dann anziehen? Eine neue würde ihm seine Mutter nicht kaufen können, dafür fehlte ihr das Geld.

“Oooch. Was wird Mama wohl sagen, wenn das Kind ohne Hose heimkommt.“

Otto strich ihm mitfühlend über den Kopf. Herbert machte sich bereit, im nächsten Moment einen Schlag ins Gesicht abzubekommen, als die Sirenen zu heulen begannen.

“Wir müssen weg hier!“, schrie der Junge mit der Narbe panisch. Otto wandte sich von Herbert ab. Niemand interessierte sich mehr für ihn, und kurze Zeit später waren seine Peiniger hinter der Wegbiegung verschwunden.

Der Regen hatte wieder aufgehört. Für einen Moment trat die Sonne hervor und tauchte die trostlose Anlage in gespenstisches Licht. Auf der Mauer flitzte eine kleine Eidechse entlang und suchte Zuflucht in einem Spalt. Als kleines Kind hatte er oft versucht, die flinken Tiere einzufangen, doch es war ihm nie gelungen. Herbert sah über die gelben Getreidefelder hinweg, die vor der schwarzen Wolkenwand unnatürlich intensiv leuchteten. Hinter ihnen lag sein Elternhaus. Würde er es noch rechtzeitig schaffen? Das leise Brummen von Motoren dröhnte in der Luft. Herbert rannte los.

Schweißgebadet wachte Herbert Rosemann auf. Er griff automatisch an seine Hose und stellte fest, dass sie sich anders anfühlte als damals. Seine Hände tasteten unter der Bettdecke an den Schenkeln entlang. Endlich begriff der alte Mann. Es waren sechzig Jahren vergangen, und er trug eine Schlafanzughose aus Flanell.

Immer wieder holte ihn die Vergangenheit im Traum ein, und jedes Mal fühlte es sich genauso an wie damals. Er stand auf und ging zu dem Eichenschrank, der neben seinem Bett wuchtig aufragte. Die Tür knarzte, als er sie öffnete. Von draußen fiel der Lichtkegel einer Straßenlampe herein und beleuchtete das Innere des Schranks, der vollgestopft war mit Kleidungsstücken. Herbert Rosemann zog eines davon heraus und faltete es auf. Es beruhigte ihn, dass sie immer noch in seinem Besitz war. Motten hatte markstückgroße Löcher in die Hose hineingefressen, und sie war ihm mittlerweile viel zu klein. Dennoch hatte er nie erwogen, sich von ihr zu trennen. So, wie er sich auch von keiner anderen Hose getrennt hatte, die er danach erworben hatte. Von keiner einzigen. Herbert Rosemann hatte alle aufgehoben. Sie lagerten nicht nur im Schrank, sondern auch im Keller, in der Kommode, im Wohnzimmer und auf der Eckbank in der Küche. Neben den Hosen stapelten sich Hemden, Jacken, Pullover und Schuhe. Fleckig und zerrissen, schäbig und stinkend. Sie waren sein ganzer Stolz. Was hätte der kleine Herbert von damals gesagt, wenn er all die Schätze gesehen hätte! Liebevoll streichelte Herr Rosemann noch einmal über den groben Wollstoff, bevor er wieder ins Bett ging.

Herbert hatte einen geregelten Tagesablauf. Er stand immer um dieselbe Zeit auf, bereitete sich einen Kakao zu, indem er das Pulver in ein wenig Wasser einrührte und aß ein Stück trockenes Brot. Im Laufe der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, allein zu leben. Obwohl er sich mehrere Male in seinem Leben verliebt hatte, war die Richtige nie dabei gewesen. Früher hatte er auch einige Freunde gehabt, die er gelegentlich besuchte, aber nach und nach waren diese Freundschaften eingeschlafen. Herbert tat nichts, um sie wiederzubeleben, denn eigentlich gefiel ihm das Alleinsein besser. So konnte er tun und lassen was er wollte.

Am frühen Morgen ging er in die Stadt, wo er den ganzen Vormittag verbrachte. Er schob sein altes Fahrrad, an dessen Lenker viele bunte Plastiktüten hingen, über die Gehsteige. Die Sammelstellen für Abfall kannte er alle. Und beinahe an jeder fanden sich Gegenstände, die er brauchen konnte. Was die Leute alles wegwarfen! Zeitungen, die nur einen Tag alt waren, Schraubgläser, in denen man etwas aufbewahren konnte oder Regenschirme mit verbogenen Speichen. Als könnte ihm jemand die Sachen wegnehmen, inspizierte er die Container, schaute sich kurz um, ob ihn jemand beobachtete und sammelte dann seine Schätze ein. Aus dem Biomüll zog er einen Apfel, der nur auf einer Seite braun und sonst ganz in Ordnung war. Liebevoll betrachtete ihn Herbert einen Moment und steckte ihn anschließend in seine Hosentasche.

Mit prall gefüllten Tüten kehrte er gegen Mittag heim. Wie immer verbrachte er den Nachmittag damit, seine Fundstücke zu ordnen und einen Platz für ein jedes davon zu finden. Als Herbert gerade die neu erworbenen Zeitungen auf die bereits vorhandenen Stapel legte, klingelte es an der Tür. Zunächst verharrte der alte Mann regungslos. Es musste einige Wochen her sein, dass jemand bei ihm geläutet hatte. Der Postbote wusste seit langem, dass er keine Pakete für die Nachbarn annahm. Vielleicht ein Neuer, dem das noch nicht bekannt war, vermutete Herbert. Während er noch überlegte, ob er überhaupt aufmachen sollte, schellte es erneut. Lautlos wie eine Katze schlich er zur Tür und spähte durch den Spion. Draußen stand eine ältere Frau mit blonden kurzen Haaren. Herbert legte die Kette vor und öffnete die Tür einen Spalt.

“Herbert?“, fragte die Frau. Sie lächelte ihn freundlich an, was eine Menge Fältchen um ihre Augen entstehen ließ. Herbert sah sie verständnislos an.

“Weißt du nicht mehr - ich bin Inge, wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

Inge. Ihr Haar war nicht mehr naturblond wie früher, und sie hatte ziemlich zugenommen. Aber ihr Blick war so fröhlich und unbeschwert wie damals, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Die Stadt war nach dem Angriff in Schutt und Asche gelegen. Auch das Haus, in dem Inge wohnte, gab es nicht mehr.

Nächtelang hatte er geweint und sich gewünscht, er wäre damals nicht nach Hause sondern mit ihr gegangen, um jetzt nicht diesen Schmerz ertragen zu müssen, der ihn so sehr quälte.

“Darf ich reinkommen?“, fragte Inge. Herbert nestelte an der Kette herum, bis die Tür ganz aufsprang und trat zur Seite, um sie einzulassen. Während sie eintrat erzählte sie von ihrer älteren Schwester, die in einer anderen Stadt gewohnt hatte und zu der sie mit ihrer Mutter nach dem Angriff gezogen war. Vor einem Jahr hätte sie begonnen, nach alten Schulfreunden zu forschen und jetzt suche sie die ehemaligen Klassenkameraden auf, deren Adresse sie hatte ausfindig machen können. Ein Bekannter hatte ihr einen Tipp gegeben, wo sie ihn vielleicht finden könnte.

Als Inge schließlich in seinem Wohnzimmer stand, hielt sie die Luft an. Der Unrat in der Wohnung stank fürchterlich. Auch von Herbert ging ein strenger Geruch aus, als hätte er sich lange nicht gewaschen.

“Vielleicht solltest du mal lüften“, schlug sie vorsichtig vor. Herbert nickte benommen. Noch immer hatte er kein Wort gesagt. Seine letzte Unterhaltung lag schon so lange zurück, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Er beobachtete, wie Inge in seiner Wohnung herumging und alles betrachtete. Es war ihm unangenehm, dass sie so deutlich schockiert wirkte. Sie bahnte sich einen Weg durch die Müllberge bis in die Küche, wo überall Dosen herumstanden, deren Haltbarkeitsdatum um viele Jahre überschritten war und Küchenabfälle in großen blauen Tüten vor sich hinrotteten.

“Herbert, du brauchst Hilfe.“

Voller Mitgefühl betrachtete sie seine ausgemergelte Gestalt, an der die viel zu weite, schmutzige Kleidung traurig herabhing.

“Ich komme morgen wieder, ja?“

Herbert starrte ins Leere. Sie sollte jetzt gehen. Er wollte keinen Besuch. Schließlich kam er gut allein zurecht. Insgeheim fürchtete er, dass sie jemanden holen würde, der ihn nicht mehr hier leben ließ. Der alles wegräumte und seine ganze Arbeit, die er während der letzten Jahre in diese Wohnung gesteckt hatte, mit einem Schlag zunichte machte. Er ließ sich auf die Couch sinken, dort, wo er neben Kleiderstapeln ein Stück frei gelassen hatte, damit man sich setzen konnte.

Als sie die Wohnung verlassen hatte, atmete Inge tief ein. In all den Jahren hatte sie sich oft gefragt, was aus ihrem alten Freund Herbert geworden war. Aus dem liebenswerten Jungen, der stets den Eindruck vermittelte, als müsse sie ihn beschützen. Früher hatte sie gerne mit ihm gespielt, meist allein, denn viele Kinder mieden den immer ein bisschen traurig wirkenden Herbert. Sie dagegen genoss die stillen Stunden, in denen sie vollkommen vertieft Löcher in das Erdreich gegraben hatten, um diese später mit Wasser zu fluten. Anstatt sich zu einem kleinen See aufzustauen, versickerte es natürlich sofort, doch das war ihnen egal gewesen. Alles um sich herum für eine Weile zu vergessen, versunken in ihre Aufgabe, das zählte mehr als das Ergebnis.

Der Aufbruch damals kam überstürzt; es blieb keine Zeit zum Abschiednehmen. Zum Zeitpunkt des Angriffes waren Inge und ihre Mutter bei einer Bekannten zu Besuch. Das hatte ihnen das Leben gerettet. Der Weg aus der Stadt, hindurch zwischen Trümmern verlief still.

Tage später kamen sie fast ohne Gepäck bei Inges Schwester an, die sie bei sich aufnahm.

Nach der Schule hatte Inge eine Friseurlehre begonnen. Sie mochte den Geruch nach Shampoo und Haarspray und die Damen, die nach dem Föhnen so schön aussahen. All das gefiel Inge so sehr, dass sie später die Meisterschule besucht und einen eigenen Laden eröffnet hatte.

Eines Tages hatte ein Mann vor Inge gestanden und um einen Haarschnitt gebeten.

“Wir sind aber ein Damensalon“, hatte ihm Inge erklärt, doch er verhielt sich so freundlich, dass sie eine Ausnahme machte. Es war nicht das letzte Mal, dass Peter zu ihr zum Schneiden kam. Ein Jahr später heirateten sie.

In ihrem wohlverdienten Ruhestand wollte Inge sich nun Dingen widmen, die ihr am Herzen lagen und für die sie früher nie Zeit gefunden hatte. Sie dachte an all ihre alten Schulfreunde, die sie später nie wieder gesehen hatte, und begann damit, die wenigen, von denen sie eine Adresse herausfand, zu besuchen. Zuerst rief sie dort natürlich an, aber als sie es bei Herbert versuchte, der sogar im Telefonbuch stand, war die Leitung tot. Inge erinnerte sich, im Wohnzimmer einen verstaubten grauen Apparat mit Wählscheibe gesehen zu haben, von dem ein Stück Kabel lose herunterhing.

Inge hatte sich eine Freundschaft erhofft, insgeheim vielleicht auch ein bisschen mehr. Zu lange lebte sie nun schon allein.

Es war nun schon viele Jahre her, dass sie ihren Mann mit einer Frau an seiner Seite gesehen hatte. Sie war gertenschlank und mindestens zehn Jahre jünger als Inge. Als Peter ohne Reue seine Affäre gestand, reichte sie die Scheidung ein. Sie hatte noch mehrere Männer kennen gelernt, doch eine Beziehung war nie mehr zustande gekommen.

Dass Herbert nun in solch erbärmlichen Verhältnissen leben musste, bestürzte sie zutiefst. Anscheinend hatte er weder Freunde noch Angehörige, die sich um ihn kümmerten. Er hatte er das nicht verdient. Doch wie konnte sie ihm helfen?

Inge hatte von solchen Leuten wie Herbert gehört. Ohne fremde Hilfe würde er es nicht schaffen. Wenn sie sich später keine Vorwürfe machen wollte, musste sie jetzt handeln. Sie durfte ihn nicht allein seinem Schicksal überlassen.

Am nächsten Tag hatte Inge frisches Brot, Käse und Obst gekauft sowie einige Reinigungsmittel. Als sie begann, ein wenig aufzuräumen, trat ein ängstlicher Ausdruck auf Herberts Gesicht, und er stellte sich breitbeinig vor seine Habseligkeiten, als wollte er diese beschützen.

“Kein Sorge, Herbert“, versicherte Inge, die ihren Fehler sofort bemerkt hatte. „Ich will dir nichts wegnehmen.“

Er nickte benommen und ließ sie gewähren. Scheinbar hilflos beobachtete er, wie seine alte Schulfreundin die Spüle in seiner Küche frei räumte, um sie zu putzen, während sie beruhigend auf Herbert einredete.

Nach einiger Zeit zog er sich ins Wohnzimmer zurück. Diese Gelegenheit nutzte Inge, um rasch vergammeltes Obst, rostige Konservendosen und anderen Unrat einzusammeln und alles in einer Tüte zu verstauen, die sie fest zuknotete. Sie wusste, wie schwer es Herbert fiel, sich von diesen Dingen zu trennen. Deshalb öffnete sie kurzerhand das Fenster, vergewisserte sich, dass sich niemand auf der Straße befand und warf den Müll hinunter. In fünf Minuten würde sie unten sein und den Abfall von dort entfernen. Das schien ihr die einzige Möglichkeit zu sein, irgendetwas aus dieser Wohnung hinauszuschaffen.

Mit ihm zu reden war schwierig. Sie versuchte es wieder und wieder, doch stets erschien ihr Herbert unzugänglich und ängstlich. Ihren Trick mit dem Fenster hatte er bald herausbekommen. Als Folge davon ließ er sie nicht mehr allein, sondern begutachtete skeptisch ihr Treiben, als könnte sie jeden Moment etwas kaputt machen, wenn er nicht auf sie aufpasste. Gerne hätte sie ihn von seinen stinkenden Kleidern befreit und ihn gewaschen, doch er schlug wild um sich, als sie versuchte, ihm die Jacke auszuziehen.

Der Gang zum Sozialamt fiel ihr schwer. Doch sie selbst hatte nichts bewirken können, und die Zeit drängte, denn ihr Aufenthalt in dieser Stadt war bald beendet. Auf sie würde er niemals hören. Er wollte nichts ändern an seinem Leben. Doch was wäre, wenn er krank würde? Vielleicht war Herbert es bereits, denn er sah erbärmlich aus und brauchte professionelle Hilfe. Auch wenn es ihm nicht gefallen würde, musste sich jemand um ihn kümmern.

Es war der letzte Tag vor ihrer Abreise. Sie klingelte am späten Vormittag mehrmals bei ihm, doch Herbert öffnete nicht.

“Herbert?“ Niemand antwortete. Besorgt ging sie schließlich wieder fort. Als am Nachmittag immer noch keiner aufmachte, wandte sie sich an den Hausmeister, der schließlich mit dem Generalschlüssel aufsperrte.

“Ach du Schande!“, rief er, als ihnen bereits im Flur der Gestank entgegenschlug. Ungläubig besah er sich das Chaos, das hier herrschte.

“Herbert?“ Inge trat ins Wohnzimmer und blieb nach wenigen Schritten abrupt stehen. „Oh Herbert. Bitte nicht.“

Herbert Rosemann saß reglos auf seiner Couch und starrte mit stumpfen Blick ins Leere. Als Inge ihn berührte, sackte sein Kopf nach vorne. Sie tastete nach seinem Puls und fand ihn nicht.

“Schnell, einen Notarzt!“, schrie der Hausmeister, als er den leblosen Mann sah.

“Den werden wir nicht mehr brauchen“, entgegnete Inge und schloss sanft Herberts Lider.

Auf seinem Schoß lag ein verschlissenes Kleidungsstück, das er mit beiden Händen fest umklammert hielt. Es war eine Knabenhose, die ihm vor sehr langer Zeit einmal gepasst haben musste.

Zeitenwandel

Подняться наверх