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Zeitenwandel

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Der Auftrag war äußerst ungewöhnlich, doch Lisa konnte es sich nicht leisten, einen Job abzulehnen. Nicht in ihrer momentanen finanziellen Lage.

Im Abteil war es still. Ihre Mitreisenden lasen oder blickten stumm auf die vorbeifliegende Landschaft. Regentropfen benetzten das Zugfenster und liefen in langen Spuren über das Glas hinab. Lisa dachte an das Ziel ihrer Reise. Paris. Stadt der Mode. Im Geiste sah sie sich in einem mondänen Abendkleid über den Laufsteg schreiten, hörte bereits den aufbrandenden Applaus. Aber daraus würde nichts werden. Die Agentur, die sie gebucht hatte, wollte etwas ganz anderes.

Paris empfing sie mit tristem, konturenlosem Grau, das anscheinend auch dem missgelaunten Taxifahrer aufs Gemüt drückte. Schnell und fluchend wechselte er die Spuren auf der Champs-Elysèes, über die sich ein unaufhörlicher Strom aus Blech und Lichtern wälzte.

Als sie endlich am Hotel ankamen, dämmerte es bereits. Während Lisa langsam ihre Sachen auspackte, fragte sie sich, mit welchen Menschen sie morgen zusammenarbeiten würde. Ihre bisherigen Auftraggeber waren oft etwas schwierig gewesen, selten konnte Lisa es ihnen Recht machen obwohl sie sich immer bemüht hatte. Lisa war müde und wollte nur noch ein wenig fernsehen und dann früh ins Bett gehen, damit sie morgen ausgeschlafen war. Sie griff nach der Fernbedienung. Im selben Moment klopfte es an der Tür.

Als sie öffnete, stand vor ihr ein freundlich lächelnder junger Mann.

“Hi, ich bin Jim.“

Verwirrt starrte Lisa ihn an.

“Ich bin morgen dein Fotograf“, fügte er hinzu. „Dachte, wir könnten zusammen essen gehen, dann können wir uns schon mal aneinander gewöhnen.“

Der Gedanke, mit einem ihr bis dahin unbekannten Mann in einer fremden Stadt ein Restaurant zu besuchen bereitete ihr zunächst Unbehagen. Aber da sie nichts anderes vorhatte und ein bisschen Ablenkung gut gebrauchen konnte, sagte sie schließlich zu.

Später war sie froh darüber, denn so erfuhr sie ein wenig mehr über das morgige Projekt. Jim erzählte ihr, dass eine Firma, die mittelalterliche Kleidung und Zubehör verkaufte und die dazu passenden Veranstaltungen organisierte, Fotos für den neuen Katalog brauchte.

“Du hast absolut das Gesicht dazu“, schwärmte Jim. Lisa wusste nicht, ob es erstrebenswert war, ein mittelalterlich anmutendes Aussehen zu besitzen, doch ihr war klar, dass der Fotograf nur ein Kompliment machen wollte. Jim bemerkte seinen Fauxpas wohl an ihrer zweifelnden Miene und wirkte auf einmal schuldbewusst.

“So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte nur, du weißt schon...“

“Ist schon gut“, beschwichtigte Lisa, woraufhin Jim nur noch betretener schaute. Doch schließlich mussten sie beide lachen.

Als Jim sie zum Hotel brachte standen sie sich für einen Moment wortlos gegenüber.

“Dann hoffen wir mal, dass morgen das Wetter ein bisschen besser wird“, brach Jim schließlich das Schweigen und hauchte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

Am nächsten Morgen schien die Sonne. Der Stylist kam zu Lisa ins Hotel und verwandelte sie binnen einer Stunde in eine Art Hofdame, mit bunten Bändern im Haar und blassem, beinahe farblosem Make-up.

Sie fuhr mit Jim und seinem Assistenten Victor quer durch Paris. Einen Set gab es nicht, es war einfach geplant, an verschiedenen Stationen zu halten und Lisa dort aufzunehmen.

Ihre erste Station war das Moulin Rouge, wo sich sofort Schaulustige um das Geschehen scharten. Lisa deutete auf die Windmühlenflügel.

“Was hat das hier mit dem Mittelalter zu tun?“, wollte sie wissen.

“Eigentlich nichts“, gab Jim zu. „Aber das ist halt so ein Spleen von diesen Leuten. Die wollen eben die bekannten Sachen im Hintergrund haben.“

Während Victor hektisch ein paar Lampen aufstellte, zog sich Lisa hinten im Lieferwagen um. Es war ein wenig merkwürdig, in diesem Aufzug auf die Straße zu gehen, doch als Model war Lisa daran gewohnt, dass die Menschen sie anstarrten. Jim war sehr freundlich zu ihr, und Victor machte alberne Späße. Zwischen den Aufnahmen lobte Jim sie immer wieder und stand sehr oft vor ihr, um vorsichtig ihr Kinn ein wenig mehr nach oben zu rücken oder ihren Arm in die richtige Position zu schieben.

Später ging es auf den Innenhof des Louvres, wo Lisa vor der Glaspyramide posierte, anschließend zum Eiffelturm. Sie genoss es immer mehr, die Stadt auf diese Weise kennenzulernen. Von den Treppen des Montmartre aus strahlte Lisa in die Kamera, während Jim alles tat, damit sie sich wohl fühlte und optimal präsentierte. Bald fand sie es gar nicht mehr seltsam, die Gewänder mit den vielen Schnürungen und weiten Ärmeln zu tragen, und bewegte sich in den Kostümen, als habe sie nie etwas anderes getragen.

Am Seineufer blieben sie ein wenig länger. Sonnenstrahlen ließen die Wasseroberfläche des Flusses glitzern, doch bald schon fiel ein Schatten auf Lisa. Am Himmel zogen dicke Wolken auf.

Jim stand vor ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter.

“Du machst das wirklich sehr gut“, flüsterte er und beugte sich dicht zu ihr hinab. Sein Gesicht verschwamm. Für einen Moment glaubte Lisa, ohnmächtig zu werden. Die Seine, die Häuser und die Menschen schienen ihr plötzlich unwirklich, als befände sich all dies hinter einem Schleier. Lisa schloss die Augen. Dann hörte sie etwas. Kindergeschrei, gedämpftes Gemurmel im Hintergrund, eine keifende Frau ganz in ihrer Nähe. Als sie die Augen wieder öffnete, stand direkt vor ihr ein Mann in einer merkwürdigen Aufmachung. Auf seinem Kopf saß ein sonderbarer Hut, eine Art Barett, und seine Beine steckten in enganliegenden Hosen. Er nahm Lisas Hand und küsste sie, bevor er weiterging und noch einmal zurück winkte.

Ihr Blick fiel auf den Brunnen, der sich nur wenige Meter entfernt befand, und um den mehrere kleine Mädchen und Jungen tobten. Lisa hätte schwören können, dass er vor kurzem noch nicht an dieser Stelle gestanden hatte. Um ihn herum waren Marktstände aufgebaut. Mehrere Frauen schlenderten zwischen den Buden herum, blieben kurz stehen, um die Waren zu begutachten und nach dem Preis zu fragen. Ihre Gewänder waren lang und etwas einfacher geschnitten als die Kleider, die Lisa momentan trug. Weine, Stoffe und Lebensmittel wurden zum Verkauf angeboten. Ein Mixtur aus verschiedensten Gerüchen benebelte ihre Sinne. Es roch nach ranzigem Fett, nach saurem Wein und exotischen Gewürzen. Lauthals pries ein Händler ganz in ihrer Nähe frischen Fisch an. Ein Mann im ledernen Wams rollte ein leeres Weinfass vor sich her. Scheppernd kullerte es über die Gasse.

Eine alte dicke Frau näherte sich ihr. Ihre Kleidung bestand aus schmutzigen Fetzen, die Haare waren verfilzt. Dicht vor Lisa blieb sie einen Moment stehen, bevor sie langsam die Hand ausstreckte. Beinahe ehrfürchtig betastete sie das blondierte gepflegte Haar des Models. Lisa war zu keiner Bewegung fähig, obwohl sie gerne weggelaufen wäre, denn die Alte stank fürchterlich. Über ihre Wange zog sich eine wulstige Narbe wie eine aufgeplatzte Wurst.

Die Mundwinkel der Frau deuteten ein Lächeln an. Mit einem Mal packte ihre Hand zu, zog grob an Lisas Locken, während sie in der anderen plötzlich ein Messer hielt. Lisa schrie auf, doch die Alte schnitt lediglich flugs eine ihrer Haarsträhnen ab. Grinsend entblößte sie die wenigen Zahnstummel, die sich noch in ihrem Mund befanden und hielt ihre Errungenschaft hoch wie eine Trophäe. Während sie sich entfernte, Lisas Haar noch immer in der erhobenen Hand, stimmte sie mit dunkler Stimme ein Lied an.

“Hör auf zu singen, Vic, ich muss mich konzentrieren.“

Beleidigt verstummte Victor und widmete sich wieder ganz der Beleuchtung. „Was ist los, Lisa? Geht’s dir gut?“, fragte Jim.

Der Schwindel in Lisas Kopf ließ langsam nach.

“Ist alles okay“, rief sie und sah sich verstohlen um. Modern gekleidete Menschen, Ausflugsschiffe auf der Seine, Autolärm. Von dem Markt war nichts mehr zu sehen. Auch die alte Frau konnte sie nirgends entdecken. Jim wirkte besorgt. „Bist du dir sicher?“

“Ja, ich bin in Ordnung“, entgegnete Lisa. „Lass’ uns weitermachen.“

Nach drei Tagen war Lisas Aufenthalt in Paris beendet.

“Die Fotos sind super geworden, besonders die am Seineufer“, hatte ihr Jim begeistert versichert. „Nur bei manchen sind Passanten ins Bild reingerutscht, die können wir natürlich nicht nehmen.“

Er hatte sie ihr alle auf CD gebrannt, auch solche, die nicht für den Katalog verwendet werden würden.

Auf der Heimfahrt klappte Lisa ihren Laptop auf. Sie klickte sich durch die Fotos und fand sie fantastisch. Als sie die Aufnahmen zum zweiten Mal durchsah, entdeckte Lisa auf einem davon am Bildrand eine alte Frau, die in Lumpen gekleidet war. Ihr Gesicht war von einer Narbe entstellt.

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Lisas Gedanken schweiften ab. Paris. Sie beschloss, bald wiederzukommen.

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