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Summertime

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Die Nadel kratzte quer über den Plattenteller und erzeugte dabei ein hässliches Geräusch, das die melancholische Melodie jäh unterbrach. Der Arm des Mannes schrammte über das alte Grammophon; er versuchte sich an dem Gerät festzuhalten und riss es schließlich mit sich zu Boden. Regungslos blieb er dort liegen. In dem lichtdurchfluteten Foyer, das vor kurzem noch voller Musik und Leben gewesen war, herrschte nun Stille.

Gershwins Federn plusterten sich unwillkürlich auf. Von seinem Gehege aus hatte er die Geschehnisse beobachtet, und was er nun sah, gefiel ihm nicht. Der Mensch lag zusammengekrümmt wie eine schlafende Katze zu Füßen des Käfigs und bewegte sich nicht.

Für den Fall, dass er tatsächlich nur schlief, stieß Gershwin einen schrillen Pfiff aus, doch es gelang ihm nicht, ihn zu wecken. Unruhig sprang Gershwin auf den Stangen seines Geheges umher und wartete, dass sich der Mann endlich wieder aufrichtete. Schließlich hatte dieser ärgerliche Vorfall die Musikstunde unterbrochen. Von Zeit zu Zeit spielte der Mann ihm Aufnahmen seines Lieblingskomponisten vor. Manchmal folgten darauf leidenschaftlich vorgetragene Gedichte, doch heute hoffte Gershwin vergeblich auf eine derartige Zerstreuung.

Endlos zog sich die Zeit dahin. Die ungewohnte Ruhe im Haus erschien dem Vogel unheimlich. Er wünschte sich, jemand würde ein Fenster öffnen, denn die Luft im Raum wurde zunehmend heißer und stickiger. Wenn Gershwin dicht an die Gitterstangen herantrat und zwischen ihnen hindurchlugte, konnte er dem Menschen ins Gesicht schauen. Er erschrak, als er die offenen Augen und den starren Blick sah. Der Papagei wurde zunehmend nervöser, rückte doch die Essenszeit bald näher. Wer sollte ihm nun frische Leckereien in die leeren Schälchen füllen?

In dem Moment, als der Schrei ertönte, war sein Hunger vergessen. Er kannte die Frau, die sehr leise das Haus betreten hatte. Das tat sie immer, um den Herrn nicht zu stören, falls dieser einmal länger im Bett blieb. Doch nun stand sie vor dem Mann und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Gespannt verfolgte Gershwin, wie sie einen kleinen Kasten aus ihrer Jackentasche herausnahm, mit den Fingern darauf herumdrückte und ihn schließlich an ihr Ohr legte. Ihre Stimme klang aufgeregt. Er wunderte sich darüber, dass sie nicht wie sonst begann, herumliegende Dinge an ihren richtigen Platz zu legen und anschließend den Besen holte, um damit zusammenzufegen. Vielleicht würde sie ihm später wenigstens ein kleines Mahl bereiten. Doch sie redete immer noch in das kleine Gerät, tippte zwischendurch darauf herum und würdigte Gershwin keines Blickes.

Als die Männer kamen und den Mann auf einer Bahre forttrugen, überfiel Gershwin eine Ahnung. Nichts würde mehr sein wie zuvor. Der Mensch kehrte vielleicht nie mehr zurück. Die Frau trat nahe an den Käfig heran und sprach zu Gershwin wie zu einem kleinen Kind. Dann machte sie sich an der Verriegelung der Käfigtür zu schaffen, bis diese schließlich quietschend aufsprang. Er wartete darauf, dass sie die Näpfe herausnahm, um frisches Futter hineinzufüllen, doch stattdessen ließ sie die Tür auf und ging einfach weg. Ein Windstoß fuhr durch das ebenfalls offen stehende Eingangsportal ins Zimmer, der die Stange, auf der Gershwin saß, ein wenig schaukeln ließ. Ungläubig richteten sich Gershwins kreisrunde Äuglein auf die lockende Freiheit. Der Vogel hüpfte ein bisschen näher heran. Nicht, dass es ihm hier schlecht ergangen wäre. Im Lauf der Jahre hatte er sich an das gute Essen, die prunkvolle Umgebung und all die Musik und Lyrik gewöhnt. Es hätte ihm ein schlimmeres Schicksal beschert sein können. Nur ein Wunsch war ihm nie erfüllt worden.

Sich außerhalb des Käfigs fortzubewegen erwies sich als mühsamer, als er gedacht hatte. Auf dem glatten Boden fanden seine Krallen kaum Halt. Als befände sich unter ihm eine Eisbahn, rutschte und stolperte er auf die Terrassentür zu. Einige Male probierte er ein Flattern, doch es kostete ihn zuviel Kraft auch nur einen halben Meter in die Höhe zu gelangen, bloß um kurz danach wieder abzustürzen. Kraft, die er später noch brauchen würde.

Auf der Veranda empfing ihn frische, laue Abendluft, die er gierig einsaugte. Erleichtert stellte er fest, dass die Sonne bereits dem Horizont entgegen sank und nicht mehr auf sein Köpfchen brannte, wo sie seine spärlich gewordenen Federn hätte versengen können. Dennoch würde es für sein Vorhaben noch lange genug hell sein. Er blickte zum Waldrand hinüber, vor dem sich ein weites Feld erstreckte, das es zu überwinden galt.

Im hohen Gras versank seine kleine Gestalt fast gänzlich, sodass er beschloss, sich nun doch flatternd seinen Weg zu bahnen. Seine Füße schmerzten ohnehin schon sehr und würden es ihm danken. Als Gershwin etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, kamen die Raben.

Durchdringende Schreie verschreckten den Papagei, der sich duckte und ängstlich gen Himmel blickte, als zöge dort ein schreckliches Unwetter auf. Doch statt Gewitterwolken tauchten dort schwarze Schatten auf, zunächst nur wenige, die sich jedoch schnell mehrten, bis dutzende, ja schließlich hunderte finstere Wesen das Firmament verdunkelten. Als sich einige davon auf einer nahen Fichte niederließen, konnte er sie näher begutachten. Was für sonderbare Vögel, dachte Gershwin. Im Gegensatz zu seinem in edlem Grau gehaltenen Federkleid wies das ihre ein strenges Schwarz auf, das sich sogar in den Schnäbeln und Krallen fortsetzte. Ihre Gestalt wirkte eher grob, wie von niederer Herkunft, vermutete er. Doch als er wieder nach oben sah, fiel ihm sofort die behände Beweglichkeit der Tiere auf. Geschickt glitten sie auf den Windströmen dahin, ließen sich ohne auch nur einen Flügelschlag treiben als koste sie das nicht die geringste Mühe. Eine ganze Weile sah er ihnen zu, wie sie in Scharen über das Feld zogen und lauschte ihren mystisch anmutenden Rufen.

Schließlich setzte er schwerfällig seinen Weg fort. Nach scheinbar endloser Zeit erreichte Gershwin den Waldrand und blieb schwer atmend vor einer Tanne stehen. Für einen Moment freute er sich, da die größten Strapazen nun wohl überstanden waren, doch als er seinen Kopf in den Nacken legte und am Stamm entlang nach oben blickte, verließ ihn beinahe der Mut. Trotz seiner Erschöpfung wagte er den Sprung auf einen der unteren Zweige. Dem Ziel so nahe zu sein, verlieh ihm außergewöhnliche Kräfte. Ast für Ast kämpfte er sich nun auf diese Weise vorwärts und kletterte immer weiter den Baum hinauf.

Ein Stück unterhalb des Wipfels beschloss Gershwin, dass diese Höhe nun genügte. Der Blick nach unten ließ ihn schwindeln, doch als er in die Ferne blickte, nahm ihm die grandiose Aussicht seine Angst. Davon hatte er immer geträumt. Die Erfüllung seines langgehegten Wunsches lag nur noch einen Schritt weit entfernt. Vom Nachbarbaum löste sich eine dunkle Silhouette. Der Rabe flog auf ihn zu und umkreiste die Tanne, als wollte er ihn damit ermuntern, es ihm gleichzutun. Gershwin nahm all seinen Mut zusammen und stieß sich ab. Mit weit ausgebreiteten Schwingen stürzte er sich in die Tiefe. Er würde fallen. Es war Unsinn gewesen, zu glauben, die Fähigkeit zu Fliegen wäre ihm angeboren. Nie hätte er hierher kommen dürfen. Der Boden kam näher. Verzweifelt schlugen Gershwins Flügel auf und nieder, bis er sich schließlich seinem Schicksal überließ. Der Wind fuhr jäh unter seine Federn und trug ihn nach oben. Er schwebte hoch über der Erde, segelte über die Wiesen und sah aus den Augenwinkeln einen schwarzen Vogel, mit dem er sich eigenartig verbunden fühlte. Gershwin flog! Immer neue Kreise zog er über den Wald und schwelgte in grenzenloser Freiheit, bis die Dämmerung einsetzte.

Zurück am Boden schloss Gershwin die Augen, um im Gedanken noch ein wenig seinem wahr gewordenen Traum nachzuspüren. Noch einmal sah er die Wipfel unter sich hinweg gleiten und empfand dabei erneut ein ungeheures Glücksgefühl. Er war zufrieden wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch so sehr er den Flug genossen hatte, wurde ihm auch bewusst, wie ermattet ihn die Ereignisse des letzten Tages hatten. Der Schwindel erfasste ihn plötzlich. Er taumelte und versuchte vergebens, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Die schemenhaften Umrisse der Bäume verschwammen zu einer grauen Masse, die ihm die Orientierung nahm. Gershwin stieß gegen eine hervorstehende Wurzel, fühlte, wie seine Beine nachgaben und sank ins weiche Moos.

Die Nacht bedeckte seinen erschöpften Leib mit Dunkelheit.

Zeitenwandel

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