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... sie schrie das „tot“ hysterisch in die Leitung ...

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Der schrille Klingelton des Telefons war unüberhörbar, auch für Andreas Wurz, der verwirrt aus dem Sessel hochfuhr. Er musste kurz eingenickt sein, denn seit seine Schwester mit Florian nach der Trennung von ihrem Mann wieder in das Elternhaus eingezogen war, wo er, Wurz, mit seiner Mutter wohnte, war an Schlafen nicht mehr zu denken. Das seien die Dreimonatskoliken beim Neugeborenen, da müssten sie durch, hatte die nette Oberärztin zu ihnen gesagt, als er mit weit überhöhter Geschwindigkeit ins Kinderspital gerast war, weil sein Neffe wieder einmal aus voller Kehle geschrien hatte und mit nichts auf der Welt zu beruhigen war. So ging das Nacht für Nacht und er hatte in Erwägung gezogen irgendwann einmal im Büro zu kampieren, einmal auszuschlafen.

„Chefinspektor Wurz“, meldete er sich und seine Stimme hatte diesen kratzigen Unterton, als hätte er die Nacht in seinem Stammlokal verbracht. „Ja, hier Frau Wieser, Herr Inspektor, äh ich mein‘ Herr Chefinspektor, Sie müssen kommen, jetzt gleich! Da bei mir im Glashaus sitzt ein Mann auf einem Sessel, ohne Gewand, nur mit einem Plastiksack über dem Kopf. Bitte kommen Sie schnell in die Laurentgasse 14. Haben Sie gehört? Der schaut echt gruselig aus. Der rührt sich nimmer, ich glaube, der ist tot.“ Sie schrie das „tot“ hysterisch in die Leitung und Wurz entfernte instinktiv den Hörer von seiner Ohrmuschel. „Bin schon unterwegs“, sagte Wurz, „und nichts anfassen, haben Sie gehört?“

Er nahm seine Jacke vom Haken, lief durch das Büro und forderte seinen Kollegen Jäger auf zum Einsatzort mitzukommen. Es war sein erster Einsatz seit der Beförderung zum Chefinspektor und dieser Einsatz würde alles andere als angenehm werden, sollte sich herausstellen, dass das Opfer wirklich verblichen war. Vorsichtshalber verständigte er die Spurensicherung, die beinahe gleichzeitig mit Wurz am Tatort eintraf. Die Besitzerin dieses Grundstückes hatte sich am Gartentor platziert und winkte ihnen.

„Gott sei Dank, dass Sie da sind. Da hinten, da in meinem Glashaus, da sitzt der, angebunden auf meinem Gartensessel. Ich habe immer zu meinem Mann gesagt, dass da drüben“, und sie deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Nachbarhaus, „die Sünde regiert. Eine Schande ist es und nicht einmal der Herr Bürgermeister hat diesem Treiben Einhalt geboten. Aber wahrscheinlich zählt er selber zu den Stammkunden. Zutrauen würde ich ihm das, der ist ja mittlerweile schon das dritte Mal geschieden. Das ist nicht normal, oder? Was sagen Sie, Herr Inspektor?“ „Nun mal langsam, Frau Wieser, wir wollen nicht voreilige Schlüsse ziehen. Wenn Sie jetzt so nett wären und uns zu ihrem Glashaus führen würden.“

Es war für Anfang Mai ziemlich warm und diese feuchte Schwüle, die sich im Glashaus bildete, trug das ihre dazu bei, dass Wurz beim Öffnen der Glastür dieser unverwechselbare Geruch, süßlich wie Moschus, vermischt mit alterndem Fleisch, in die Nase stieg. Wer ihn einmal gerochen hatte, der würde ihn nie wieder vergessen, dachte Wurz und seine Bewunderung galt den Gerichtsmedizinern. Hinter einem Elefantenfußbaum, der fast bis zur Decke reichte, entdeckte Wurz den Leichnam. Gefesselt an diesen grünen Gartensessel, nackt, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, mit einem Plastiksack darüber. Wurz streifte sich die weißen Latexhandschuhe über, ging zum Opfer, griff unters Kinn und hob den Kopf einige Zentimeter an. Es war kein schöner Anblick, der sich ihm bot, die Blasenbildung hatte bereits eingesetzt, das Gesicht war aufgedunsen, die Augen quollen aus ihren Höhlen und die Zunge ragte wie eine Knackwurst aus dem Mund. Die von der Spurensicherung machten Fotos und unweigerlich musste Wurz an Hollywood denken, an die Oscarverleihung, an das Blitzlichtgewitter.

„Schaut mir nach einem Sexualdelikt aus“, sagte Doktor Leiner, der Gerichtsmediziner, und begann mit der Untersuchung der Leiche. „Zwischen den Stricken siehst du eine grünliche Verfärbung am Bauch sowie zwischen Nacken und Schulterblättern, das hat mit der Flüssigkeitsansammlung zu tun. Interessant ist, dass Hoden und Penis mit einem Kabelbinder abgebunden wurden. Soll angeblich für eine besonders starke Erektion sorgen. Und was ich noch sagen wollte: Striemen am ganzen Körper könnten von Schlägen mit einem Gürtel oder ähnlicher Gerätschaft entstanden sein.“ Er durchtrennte die Stricke am Oberkörper, lehnte das Opfer nach vorne und zeigte dem Polizisten die dunklen Streifen. „Gut möglich, dass es ein Unfall gewesen ist, beim Herbeiführen einer erotischen Asphyxie, wobei diese sexuelle Vorliebe öfters außer Kontrolle gerät und das Opfer daran erstickt."

„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, sagte Wurz, „für mich sieht das eher nach einer Inszenierung aus. Die Frage ist nur, warum gerade in diesem Glashaus die Leiche entsorgt wurde? Möglich, dass er dieser Sadomaso-Szene ein Mahnmal setzen wollte. Kannst du mir vielleicht etwas über den Zeitpunkt des Todes sagen?“

„Vor ungefähr sechsunddreißig Stunden, plus minus, nachdem sich die Leichenstarre vollständig aufgelöst hat.“ Leiner hob den Arm des Toten und ließ ihn fallen, um seiner Aussage Glaubwürdigkeit zu verleihen. „Aber morgen Vormittag sind wir schlauer, da kann ich dir sogar sagen, was er zuletzt gegessen und wann er zuletzt sein Rektum entleert hat.“ Wurz nickte, so genau wollte er das überhaupt nicht wissen. Er ging weiter zu den Leuten in den weißen Overalls.

„Schon irgendwas herausgefunden über die sechs Ws?“

„Mit Wer, Warum, Was, Wann und Wie können wir nicht dienen, für den Rest, das Wo, dafür hätten wir einen Vorschlag“, sagte einer der Männer, lachte und deutete mit beiden Zeigefingern auf den Toten im Gartensessel.

„Danke, Kollegen, das war sehr hilfreich.“

Wurz nahm scherzhalber sein blaues Heftchen aus der Jackentasche, tat so, als würde er sich etwas notieren und verließ anschließend das Glashaus durch die Seitentür, um dieser Wieser, die sicher irgendwo vor dem Haupteingang auf ihn lauerte, zu entkommen. Das Grundstück konnte praktisch jeder betreten, da es nicht eingezäunt und im hinteren Teil über einen Forstweg gut und bei Nacht durch das Dickicht ungesehen erreichbar war. Er würde den Leuten von der Spurensicherung sagen, dass sie diesen Teil des Gartens besonders genau auf Fuß- und Reifenspuren untersuchen sollten. Gut vorstellbar, dass der Mörder mit seinem Opfer von dort gekommen war. Jetzt hingegen wollte er diesem Nachbarhaus, diesem sündigen, einen Besuch abstatten. Neben der Eingangstür, beim Klingelknopf, befand sich ein Türschild, dessen Buchstaben von zu langer Sonneneinstrahlung beinahe verblasst und somit kaum leserlich waren. Wurz tastete sein Jackett ab, war auf der Suche nach seiner Lesebrille, die seit seinem fünfundvierzigsten Geburtstag ein Must-have geworden war. Er wurde fündig, setzte sie auf und nun war es ein Leichtes, die Schrift auszumachen: „Swinger-Club: Donnerstag bis Sonntag von 14 Uhr bis 4 Uhr“. Er schaute auf seine Jacques-Lemans, ein Erbstück seines Vaters, und stellte fest, dass zwar Donnerstag war, aber erst kurz vor Mittag. Trotzdem drückte er den Klingelknopf. Kein Laut drang nach außen. Wurz versuchte es nochmals, ließ seinen Zeigefinger am Knopf, läutete Sturm.

„Swinger-Club“, murmelte er vor sich her.

Einmal hatte er so einen Club besucht und es ekelte ihn nachher irgendwie, das mit dem „Jeder mit Jedem“. Zugegeben, es hatte ihn erregt und das Motto „Spaß steht immer an vorderster Stelle“ hatte ihn angesprochen. Obendrein diese Fleischberge, die sich am Boden suhlten, ihn an Schweine im Schlamm erinnerten und ein Zuordnen der Geschlechtsteile zu seinem Besitzer unmöglich machten, hatten überhaupt nichts mehr mit den sexy und äußerst hübschen Frauen auf der Willkommensseite der Website zu tun. Wurz fand es einfach nur widerlich, war enttäuscht, hatte das Thema „Swinger-Club“ aus seinem Gedächtnis verscheucht. Sein Zeigefinger drückte noch immer den Klingelknopf, als sich endlich das kleine Fensterchen in der Tür öffnete. Er musste sich auf die Zehen stellen, um ihr mit seinen Einsachtundsechzig in die Augen sehen zu können.

„Was wollen Sie hier? Sind Sie verrückt geworden? Haben Sie nicht unsere Öffnungszeiten gelesen?“, plärrte ihm eine Frauenstimme entgegen. „Wir haben geschlossen!“

Gerade in dem Moment, als sie das Fenster wieder schließen wollte, hielt er ihr die Polizeimarke vor das Gesicht.

„Wurz, Kriminalpolizei, ich hätte da ein paar Fragen an Sie. Können wir das drinnen besprechen?“

„Wurz“, erwiderte sie, als sie die Tür öffnete, musterte ihn von den Haaren bis zu seinen Schuhspitzen und ihre Silikonbrüste wippten gefährlich nahe vor seinem Gesicht auf und ab. Der Flur war mit einer schwachen Glühbirne beleuchtet und er hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Es erforderte sein gesamtes akrobatisches Geschick, um nicht die Stufen hinunterzustolpern. Sie erreichten die Bar, die ebenso spärlich beleuchtet war wie der Eingang, und er nahm Platz auf einem dieser Hocker. Stand bei dem Gedanken, dass hier erst vor kurzem ein nackter Hinterteil gesessen hatte, möglicherweise noch Spermaspuren auf dem Kunstleder waren, wieder auf und wischte sich ein paar Mal mit der Handfläche über die Hose. „Was will denn die Polizei bei uns?“, fragte sie misstrauisch. „Bei uns hat alles seine Ordnung, wir bezahlen rechtzeitig die Steuern und unsere Kunden sind total zufrieden. Und sauber ist es auch“, sagte sie mit Bestimmtheit. „Darauf schau ich schon, dass immer die Bettlaken frisch sind und die Handtücher.“

Wurz fokussierte sie. Mitte fünfzig, dachte er, vielleicht älter. Schwer zu schätzen bei dieser schummrigen Beleuchtung. Er sah in ihr Gesicht, in ihre Augen, die unruhig flackerten. Sah ihre schmierigen Haare, wasserstoffblond, die ihr in Strähnen ins Gesicht fielen, das fleckige Kleid, die Brüste, zu aufdringlich, zu synthetisch und seine Nackenhärchen stellten sich bei der Vorstellung, sich hier vergnügen zu müssen, auf. Er zückte sein blaues Heftchen, stellte die üblichen Fragen und notierte sich hin und wieder etwas darin. Natürlich hatte sie nichts gehört und gesehen schon gar nichts. Sie sei hinter der Bar gestanden, habe sich um die Gäste gekümmert. Natürlich. Wurz wollte gerade dieses Etablissement verlassen, da polterte jemand die Treppe herunter.

„Kundschaft um die Zeit?“ Der Mann lachte laut auf, ging hinter die Theke, goss sich ein Glas Whisky ein und leerte es in einem Zug.

„Darf man fragen, wer der junge Mann ist?“

„Das ist mein Sohn, der Fredi, der hilft mir ein bisschen im Club, macht den Türlsteher. Ja, in der heutigen Zeit kann man nicht gleich jeden hereinlassen. Bei uns hat alles seine Ordnung und unsere Gäste sind alte Bekannte. „Wir“, und sie zeigte mit dem Zeigefinger auf sich und ihren Sohn, „waren den ganzen Abend da im Club, also, Herr Inspektor, da müssen Sie schon woanders nach dem Mörder suchen. Sie werden es nicht glauben, aber es gibt genug Perverse, die frei herumlaufen. Aber jetzt auf Wiedersehen, Herr Inspektor, ich muss noch die Laken tauschen, bevor die ersten Gäste kommen.“

Und zu Fredi gewandt: „Geh sei so lieb und begleite den Herrn Inspektor zur Tür.“

„Und Sie haben wirklich nichts gehört und nichts gesehen, wo sie doch der Türsteher sind? Zu diesem Glashaus ist es ja quasi ein Katzensprung.“

„Wie meine Mutter gesagt hat, Ihren Mörder müssen Sie sich schon woanders suchen. Also dann, Herr Oberinspektor, auf Nimmerwiedersehen.“

Er alleine lachte über seinen Witz, öffnete die Eingangstür, mimte einen Kratzfuß und Wurz war froh wieder die Sonne zu sehen, frische Luft einatmen zu können. Er fuhr ins Kommissariat, wollte die Vermisstenmeldungen durchschauen, nach Hinweisen stöbern. Keine zehn Minuten waren vergangen, seit er sich vor den Bildschirm gesetzt und die Anzeigen verschwundener Personen der letzten Monate durchgeschaut hatte, als er auf das Foto von einem gewissen Hans Albert stieß. Er klickte auf den Namen, die Datei öffnete sich.

ALBERT Hans

ALBERT Hans ist seit 5. Mai von seiner Wohnadresse in Schwinbach/Listgasse 7 abgängig. Er hat am Morgen pünktlich um 7:30 das Haus verlassen und ist in die Arbeit gefahren. Seine Spur verliert sich, nachdem er um 12:00 das Schulgebäude verlassen hat. Er ist nicht mehr an seine Wohnadresse zurückgekehrt.

Familienname

ALBERT

Vorname

Hans

Geburtsdatum

04.05.1965

Staatsangehörigkeit

Österreich

Abgängig seit

05.05.2017

Sonstiges

Personenbeschreibung:

167 cm groß, mittelgewichtig, kurzes dunkelbraunes Haar, Teilglatze, braune Augen, volle Lippen

Wurz scrollte weiter, betrachtete das Foto, rief sich die männliche Leiche im Glashaus wieder ins Gedächtnis. Er druckte sich die Personenbeschreibung aus und fuhr damit in die Gerichtsmedizin. Leiner hatte gerade die Leiche vom Glashaus vor sich am Seziertisch liegen, als er eintrat. Nie würde er sich daran gewöhnen, an diesen süßlichen Geruch, vermischt mit Desinfektionsmittel.

„Grüß dich Andreas, du bist zu früh. Ich muss dich enttäuschen, ich habe den Kerl gerade erst aus der Kühlbox geholt. Aber eines kann ich dir mit Sicherheit sagen, der ist erstickt in diesem Plastikbeutel. Weil siehst, die Totenflecken sind tiefviolett und das sagt uns, dass er zu wenig Sauerstoff im Blut und Gewebe hatte. Wir werden das aber noch im Labor nachprüfen lassen. Ob es jetzt ein Unfall oder ein geplanter Mord war, das musst du herausfinden und ich wünsche dir viel Spaß in der Sadomaso-Szene. Soll ja ziemlich heiß her gehen dort.“ Wurz ignorierte die sarkastische Bemerkung des Mediziners, zerrte den Zettel aus seiner Jackentasche, strich ihn glatt und überreichte ihn Leiner.

„Na, was sagst du dazu. Ich glaub, das ist der Tote. Wird seit dem fünften Mai vermisst.“ Beide betrachteten das Foto, hielten es neben das Gesicht der Leiche.

„Eindeutig“, sagte Wurz, „ich werde gleich mal zu dieser Adresse fahren. Seine Frau hat ihn nämlich als vermisst gemeldet.“ Mit den Gedanken bereits in dieser kleinen Vorstadtsiedlung, murmelte er ein „Ciao, Franz, wir telefonieren!“, und verließ das Gebäude

Wurz hatte die Adresse in sein Navi eingegeben und vor dem Einfamilienhaus Listgasse 7 meldete die monotone Stimme aus dem Gerät: „Sie haben Ihr Ziel erreicht!“ Er atmete noch einmal tief durch, ehe er anläutete, räusperte sich und strich seine Haare glatt. Das tat er immer. Es war zu so einer Art Ritual geworden beim Überbringen schlechter Nachrichten. Bevor sich die Tür öffnete, hatte er noch genügend Zeit, sich ein bisschen im Garten umzuschauen. Perfekt, dachte er bei sich und beobachtete den Solarrasenmäher, wie er seine Bahnen zog. Öfters hatte er überlegt sich so einen Roboter anzuschaffen. Der Gedanke, beim Mähen in der Hängematte zu liegen und in seinen Autozeitschriften zu schmökern, war äußerst verlockend gewesen, der Preis weniger - und deshalb startete er wöchentlich sein in die Jahre gekommenes Modell. Außerdem „Bewegung hat noch keinem geschadet, mein Junge“, der Spruch seiner Mutter, der ihn, seit er denken konnte, verfolgte. Jetzt hörte er das Klackern von Stöckelschuhen und gleich darauf stand er einer sehr zierlichen Frau, etwa in seinem Alter, siebenundvierzig, vielleicht auch ein, zwei Jahre jünger, und nicht größer als ein zwölfjähriges Schulkind, gegenüber. „Die Frauen von Stepford“ fielen ihm ein. Sie war genauso perfekt gestylt wie der Garten. Beinahe, nur eine kleine Locke hatte sich aus ihren streng zu einem Dutt frisierten Haaren gelöst und wippte frech bei jeder ihrer Bewegungen auf und ab.

„Chefinspektor Wurz, vom Landeskriminalamt Eisenstadt. Ich würde gerne Frau Albert sprechen.“Wurz merkte, wie sich ihr Körper anspannte und ihr Gesichtsausdruck zu einer Maske wurde.

„Ich bin Frau Albert, geht es um meinen Mann? Haben Sie vielleicht Nachrichten von ihm? Geht es ihm gut?“

Und nach einer kurzen Pause kam die alles entscheidende Frage:

„Es geht ihm doch gut? Herr Inspektor, so sagen Sie doch was!“

„Leider, Frau Albert, habe ich keine guten Nachrichten, aber könnten wir vielleicht ins Haus gehen?“

Mit einer einladenden Handbewegung fordertet sie Wurz auf einzutreten.

Diese Perfektion zog sich wie ein roter Faden durch die Wohnung, gleich einem Möbelhaus, steril, unbewohnt, nichts Persönliches, kein aufgeschlagenes Buch, keine Tasse Kaffee, keine herumliegenden Kleidungsstücke. So anders als bei ihm zuhause und manchmal wurde ihm das Durcheinander, das seine Mutter verursachte, zu viel und er drohte ihr damit, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Das funktionierte. Wurz nahm ihr gegenüber auf der weißen Ledercouch Platz, hoffte, dass seine Jeans keine blauen Verfärbungen hinterlassen würde.

„Frau Albert, es tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten überbringen kann, aber wir haben eine männliche Leiche gefunden, auf die Ihre Beschreibung sowie das Foto passen. Wir können ein Gewaltverbrechen nicht ausschließen.“

Frau Albert hielt sich die Hand vor den Mund, unterdrückte so einen Aufschrei, ihre Augen wurden weit, Fassungslosigkeit spiegelte sich wider.

„Wie, wie ist es passiert?“, stotterte sie. „Mein Mann soll ermordet worden sein? Unmöglich! Wer tut so was? Er war doch so ein guter Mensch, hilfsbereit, die Schüler haben ihn gemocht. Er war so beliebt bei seinen Kollegen und auch hier in der Nachbarschaft. Sie können gerne alle fragen. Sind Sie sicher, dass das mein Hans ist? Das ist bestimmt ein Irrtum. Da liegt eine Verwechslung vor. Herr Inspektor, sagen Sie, dass es nicht mein Hans ist!“

Jetzt verlor sie die Fassung: Sie begann zu schluchzen, stand auf, lief ins Bad und verbarrikadierte sich dort. Wurz ging ihr nach, sprach durch die verschlossene Tür beruhigend auf sie ein. Erzählte, wo sie ihren Mann gefunden hätten, schwieg über das Wie, das hatte Zeit. Das Schluchzen wurde leiser, hörte allmählich auf und nach einer Weile drehte sich der Schlüssel und Frau Albert stand wieder völlig gefasst vor ihm. Sogar die Locke war in ihrem Dutt verschwunden, eben wieder alles perfekt.

Sie murmelte ein „Entschuldigung“ und versprach am nächsten Tag in der Gerichtsmedizin zur Identifizierung zu erscheinen.

Da es noch vor Mittag war, fuhr Wurz in das Gymnasium, wo Albert als Mathematik- und Geographieprofessor unterrichtet hatte.

„Die Beliebtheit unter der Kollegschaft hielt sich in Grenzen. Er war ein kleiner Wichtigtuer und Denunziant“, sagte der Direktor.

„Wer irgendwie konnte, wich ihm aus, versuchte den Kontakt zu vermeiden. Der Albert ist mindestens einmal täglich mit einem Schüler vor meinem Schreibtisch gestanden. Er konnte sich nicht durchsetzen. Die haben mit ihm gemacht, was sie wollten, ja und er hat sich dann gerächt, indem er beinahe unlösbare Aufgaben zur Schularbeit gegeben hat.“

„Und warum ist er dann nicht versetzt oder entlassen worden?“

„Er hat gegen kein Gesetz verstoßen, so gesehen. Und nur ‚unguter Zeitgenosse‘ ist kein Kündigungsgrund. Aber wie man sieht, lösen sich manche Probleme von selbst. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Inspektor, nicht dass ich ihm den Tod gewünscht hätte, bei Gott nicht, aber es wird jetzt Nuancen entspannter an unserer Schule sein.“

„Wenn Sie gestatten, möchte ich mich noch mit den Kollegen und den Schülern ein bisschen unterhalten. Wie ihr persönliches Verhältnis so war zu Albert.“

Wurz verabschiedete sich vom Direktor, sprach mit Lehrern, aber auch mit Schülern. Doch die Antwort war immer die gleiche und Wurz kam zu dem Schluss, dass dieser Albert wirklich unausstehlich gewesen sein musste und dass seine Frau ein komplett verkehrtes Bild von ihrem geliebten Gemahl hatte. Unweigerlich dachte er an Rumpelstilzchen. Er hatte mal gelesen, dass oft eher kleinwüchsige Menschen - und das war Albert gewesen - ihren Mangel an körperlicher Größe durch ihre aufbrausende Art zu kompensieren versuchen würden. Nur Frau Professor Nagele war da anderer Meinung, sah in ihm einen Gott, ein Genie und sie bekam sogar so ein eigenartiges Leuchten in ihren Augen, das nur Verliebten zu eigen war, als sie von Albert sprach. Mal sehen, ob die Nachbarn auch dieser Meinung waren und Wurz nahm sich vor bei Gelegenheit die Bewohner dieser Vorstadtsiedlung zu befragen. Vielleicht hatte sich diese Albert ihre eigene heile Welt zusammengezimmert.

Gnade war gestern

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