Читать книгу Gnade war gestern - Ingrid Sonnleitner - Страница 6

... für einen winzigen Augenblick ...

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Wurz kaufte sich beim Würstelstand in der Nähe des gerichtsmedizinischen Institutes eine Burenwurst mit süßem Senf und Kren, dazu eine Dose Ottakringer. Er schaute auf seine Uhr. Zeit genug für diesen deliziösen Imbiss. Er wusste genau: Nach dieser Leichenbeschau war sein Magen wie zugeschnürt, meist für Stunden. Es waren nicht so sehr die Toten im Institut, es war dieser Geruch, den sie hinterlassen hatten in all den Jahren. Immer wenn er Leiner einen Besuch abstatten musste, sehnte er sich zurück zu der Zeit, als er noch auf der Straße seinen Dienst verrichtet, den Verkehr geregelt oder Zettelchen hinter die Scheibenwischer von Parksündern gesteckt hatte. Heute hatte er sich mit Frau Albert verabredet, musste doch dieser Mann identifiziert werden, ihr Mann. Es war bloß reine Formalität, das Vermisstenfoto und der Mann im Glashaus waren dieselbe Person, da war er sich zu hundert Prozent sicher. Als er in das alte Gebäude eintrat, musste er kurz stehen bleiben, den Atem anhalten, an sein Innerstes appellieren. Er hatte sich im Lauf der Jahre, seit er bei der Kripo arbeitete und hin und wieder ein Besuch in der Gerichtsmedizin unvermeidbar war, eine Yoga-Atemübung angeeignet, die auf natürliche Weise die Entspannung förderte. Und so ging er im Foyer diese Übung durch und spürte, wie er allmählich lockerer wurde durch dieses In-den Bauch-Atmen. Gerade als er wieder einen tiefen Atemzug machte und sich sein Bauch wie ein Luftballon anfühlte, hörte er hinter sich das Quietschen der Türangel. Frau Albert war eingetreten. Schnell griff er in seine Jackentasche, holte einen grünen Salbentiegel mit der Aufschrift „Japanischen Minze- mentholhaltige Creme“, heraus, öffnet ihn, tauchte mit seinem Zeigefinger ein und strich sich die Salbe zwischen Oberlippe und Nasenlöcher. Mit einer einladenden Geste hielt er Albert die Dose hin.

„Herr Kommissar, könnten wir vielleicht! Ich bin hier, um meinen Mann zu identifizieren. Also lassen Sie das bitte!“

„Natürlich, ich wollte nur ...“

Sie blickte ihn an, vorwurfsvoll. Er erstickte das Ende des Satzes und gemeinsam gingen sie in dieses fensterlose, in einheitlichem Petrol ausgemalte Kellergeschoß geradewegs in den Sezierraum, wo Leiner, über eine Leiche gebeugt, den typischen Y-Schnitt am Brustkorb durchführte.

„Grüss dich, Franz, wir wollen dich nicht lange stören. Das ist Frau Albert, wir sind gekommen, um den Toten zu identifizieren.“

„Sekunde“, sagte Leiner, „hab gleich Zeit für euch.“

Er legte das Skalpell zur Seite, nahm eine Säge und durchtrennte Rippen und Schlüsselbein. Jetzt konnte Wurz das Herz und die Blutgefäße sehen. Er wäre gerne länger hier geblieben, hätte Leiner bei der Obduktion zugesehen, jetzt wo der Geruch erträglich geworden war. Auch er wollte mal Mediziner werden. Kein Pathologe, sondern Internist - der menschliche Körper hatte ihn seit der ersten Biologiestunde im Gymnasium beeindruckt, aber noch mehr die Seele. Er hatte sich für Psychologie entschieden und es war gut so. So ein Täterprofil zu erstellen, sich in die Psyche eines Mörders hineinzuversetzen, war faszinierend. Und Wurz war in Gedanken bei diesem Albert. Seine Frau wusste nicht, wo sie ihn gefunden hatten, über das Wie ganz zu schweigen. Er würde behutsam vorgehen müssen, war sie doch so ein zierliches Persönchen, so verletzlich.

„Kommst du, Andreas, wir wollen Frau Albert nicht länger als notwendig in diesen Gemäuern festhalten.“

„Natürlich, ich war in Gedanken. Entschuldigung, Frau Albert, wenn Sie bitte mit uns mitkommen möchten.“

Als Leiner die Kühlbox öffnete, den Leichnam herauszog und das weiße Leintuch zurückschlug, presste Frau Albert ihre Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Gegenwärtig sah er gar nicht mehr wie der Albert auf dem Foto aus, mit der gesunden Bräune und den vollen Lippen. Und es spielte auch keine Rolle mehr, wie er aussah, als er gelebt hatte. Er war tot. Sein Gesicht bleich, wächsern, graugrün und die Augenlider mit dünnen Streifen zugeklebt, am Körper dunkelviolette Totenflecken. Sie nickte und rannte aus dem Kühlhaus die Treppe hinauf vor das Gebäude. Wurz lief ihr nach und rief Leiner im Vorbeilaufen ein „Ich melde mich bei dir“ zu. Auf einer Bank vor dem Institut fand er sie, schluchzend, der Oberkörper eingeknickt, das Gesicht mit den Handflächen bedeckt, so, als würde sie für ein Versteckspiel bis zehn zählen. Er tippte ihr auf die Schulter. Erschrocken blickte sie hoch.

„Ach Sie sind es, Herr Inspektor, aber bitte setzen Sie sich doch!“

Mit einer Handbewegung deutete sie auf den freien Platz daneben. Holte aus ihrer Tasche eine Packung Papiertaschentücher, putzte sich die Nase, strich sich ihr Haar glatt und dann war es wie beim ersten Mal, als er sie getroffen hatte. Vor ihm saß eine Frau, gefasst, die Situation völlig unter Kontrolle. Es war wieder alles perfekt - beinahe: Nur dieses widerspenstige Löckchen ringelte sich keck um ihr Ohr.

„Frau Albert, ich möchte Sie gerne auf eine Tasse Kaffee einladen. Es sind noch Fragen aufgetaucht, vielleicht können Sie mir bei der Aufklärung helfen. Wenn es Ihnen heute nicht so gut geht, kann ich Sie gerne mit meinem Wagen nachhause bringen und wir sprechen ein anders Mal darüber.“

Sie nickte mit dem Kopf.

„Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Es war nur da drinnen, die Luft, die ganze Atmosphäre, der Tod, der überall zu spüren war. Bitte fragen Sie ruhig.“

Wurz hakte sich bei ihr unter und geleitete sie sacht in das Pub auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Paar, das doch keines war, betrat die Gaststätte, die um diese Zeit beinahe leer war, nur ein Mann saß an der Bar, nippte an seinem Kaffee und blätterte in einer Tageszeitung.

Er bestellte für Frau Albert einen Cappuccino und für sich einen kleinen Schwarzen. Komisch dachte er, Frauen trinken meistens Milchkaffee mit und ohne Schlagrahm, Männer lieben eher das unverblümte, das volle Aroma. Woran das wohl liegen mochte? Über die Antwort nachzudenken, dazu kam er nicht mehr. Frau Albert räusperte sich, was wohl so viel heißen mochte wie: Können wir jetzt endlich anfangen?

„Wir haben gestern, als ich Ihnen die Nachricht vom Tod Ihres Mannes übermittelt habe, nicht darüber gesprochen, wo wir ihn gefunden haben. Es war ein etwas ausgefallener Tatort im benachbarten Trausdorf. Eine gewisse Frau Wieser hat uns angerufen, dass ein Mann in ihrem Glashaus ist, gefesselt auf einem Gartensessel, der höchstwahrscheinlich tot sei. Ich bin dahin gefahren, ja, und es hat sich bestätigt. Was noch dazukommt: Ihr Mann war nackt und hatte einen Plastiksack über den Kopf gestülpt.“

Frau Albert blickte selbstvergessen durch das Fenster.

„Sie sagen in einem Glashaus und warum nackt und was, was ist mit diesem Plastiksack auf seinem Kopf? Wie kommt mein Mann nach Trausdorf, das liegt ja gar nicht auf seinem täglichen Weg zur Arbeit. Er hat mich doch angerufen, mir gesagt, dass er sich jetzt auf den Heimweg mache, ich könne schon mal den Tisch decken.“

Schluchzend erzählte sie, was an jenem Dienstag passierte, und Wurz ließ sie gewähren, war stiller Zuhörer, machte sich nur hie und da eine Notiz in sein blaues Heftchen, stellte ab und zu eine Frage.

„Sie müssen nämlich wissen, am Dienstag essen wir immer gemeinsam zu Mittag. Hans kommt um zwölf Uhr von der Schule heim und ich habe meine erste Unterrichtsstunde um sechzehn Uhr, ich bin Musikpädagogin an der Musikschule hier in Eisenstadt und mache musikalische Früherziehung. Ich liebe diese Arbeit mit Kindern und ihrer unverblümten Welt. Leider hatten wir keine eigenen, ich konnte keine bekommen, ein Unfall, Sie verstehen.“

Als Unfall konnte man das kaum bezeichnen, dachte sie, als er sie im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft bei einem seiner Wutausbrüche die Treppe hinuntergestoßen hatte. Die Folgen waren unauslöschlich. Was sie noch peinlichst verschwieg, war die Tatsache, dass er meist grässliche Laune hatte, wenn er von der Schule nachhause kam, sie prügelte. Ja, es gab immer etwas das ihn störte: ein harter Tag, das Essen, zu heiß oder zu kalt, ein unüberlegtes Wort oder auch nur die Farbe ihres Kleides. Wie an jenem Dienstag vor einer Woche: Sie hatte beim Decken des Tisches die Reihenfolge von Messer und Löffel vertauscht. Gerade als sie den Suppenteller vor ihm auf den Tisch stellen wollte, traf sie seine Faust auf der rechten Wangenseite. Die Wucht, mit der er zuschlug, ließ sie zurücktaumeln und für einen winzigen Augenblick wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte und der Suppenteller zerschellte am Boden in unzählige Scherben. Er kam näher, trat auf sie ein, in den Magen, sie krümmte sich vor Schmerzen. Dann packte er sie beim Handgelenk und schliff sie ins Wohnzimmer, griff unter ihr Kleid und riss ihr den Slip vom Leib. Das Züchtigen erregte ihn. Er lag keuchend auf ihr, fingerte sein steifes Glied aus der Hose, zwang sie die Beine breitzumachen und drang in sie ein. Sie ließ es geschehen, wollte nur, dass es aufhörte. Ihr Gesicht, ihr Bauch, ihr Unterleib waren erfüllt von einem dumpfen Schmerz. Sie schloss die Augen, versuchte - wie jedes Mal, wenn er sich an ihr verging - aus ihrem Körper zu schlüpfen. Dachte sich weit weg, an einen Ort, den sie „Little Paradise“ getauft hatte. Dort hatte sie sich Geschichten zurechtgezimmert. Diesmal lag sie unter einem blühenden Apfelbaum auf der Wiese, die Sonnen streichelte mit ihren Strahlen sanft über ihr Gesicht, über ihren Körper, wärmte sie. Ringsherum Vögel, die zwitscherten, und Mimi schnurrte neben ihrem Ohr. Der letzte Stoß, bevor er sich in sie ergoss, war so heftig gewesen, dass sich ihr Körper aufbäumte und sie zurückholte von „Little Paradise“. Er machte seine Hose zu, sagte nur: „Mein Gott, wie du wieder aussiehst, mach dich hübsch, wir wollen essen oder ist das zu viel verlangt?“

„Frau Albert, alles in Ordnung?“, fragte Wurz und sie drehte langsam den Kopf in seine Richtung.

„Ja, warum? Ich habe nur nachgedacht. In einem Glashaus und nackt, das passt so überhaupt nicht zu meinem Hans. Er war, wie gesagt, ein so aufmerksamer Ehemann, zuvorkommend, und er hat mir immer Geschenke gemacht“, sie zeigte Wurz den Brillanten an ihrem linken Ringfinger, „zum Hochzeitstag, zum zwanzigsten, wir haben uns geliebt, Herr Kommissar und das beinahe ein Vierteljahrhundert.“

„Ich habe bei der Kollegschaft nachgefragt und die war alles andere als angetan von Ihrem Mann, er war ein unangenehmer Zeitgenosse, weder bei den Schülern noch bei den Kollegen beliebt. Es tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten überbringen kann. Nur diese Frau Professor Nagele, die war sehr angetan von Ihrem Mann. Ich würde jetzt mal so weit gehen und sogar sagen, dass sie geschwärmt hat von ihm, wie ein Teenager. Kennen Sie vielleicht diese Frau?“

„Ja, ja flüchtig. Hans hat sie mir mal vorgestellt, als wir sie zufällig in der Oper, ich glaub es war bei ,Aida‘, getroffen haben. Das ist doch so eine graue Maus, soweit ich mich erinnere. Nein, also dass mein Mann mit dieser Nagele ... kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie ist so absolut nicht sein Typ.“

„Und wer ist dann sein Typ gewesen? Wir können nämlich ein Gewaltverbrechen nicht ausschließen und wir recherchieren auch im Rotlichtmilieu.“

Frau Albert war so plötzlich aufgestanden, dass der Sessel nach hinten kippte und polternd am Holzboden aufschlug.

„Herr Inspektor, das muss ich mir wirklich nicht anhören, dass Hans sich mit Prostituierten herumgetrieben haben soll!“ Das Wort „Prostituierten“ kam schrill aus ihrem Mund, ihre Stimme überschlug sich dabei.

Sie nahm ihre Tasche, raffte ihren Mantel zusammen und verließ grußlos das Pub. Der Kellner kam jetzt zu Wurz an den Tisch. Wurz zeigte seine Marke, sagte ein „Alles okay“, bezahlte die beiden Kaffees, hastete aus dem Lokal und sah gerade noch, wie Albert in ein Taxi stieg und davonfuhr. Er macht sich große Vorwürfe, vielleicht hätte er doch behutsamer vorgehen sollen. Morgen Abend wollte er diesem Swinger-Club nochmals einen Besuch abstatten, wollte die Gäste ein bisschen ausfragen. Vielleicht war Albert doch in dieser Sadomaso-Szene unterwegs und spielte nur zuhause die Rolle des liebevollen Ehemannes.

Gnade war gestern

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