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... ich zog mich am Stiegengeländer hoch ...

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Doreen ist fast die ganze Nacht schlaflos durch ihre zwei Zimmer gewandert. Sie liebt diese Wohnung mitten im Zentrum von Eisenstadt, liebt diese vier Quadratmeter Balkon mit Blick auf Schloss Esterházy. Irgendwann ist sie erschöpft auf der Couch eingeschlafen. Die Sonne scheint bereits ins Wohnzimmer, als der Wecker auf ihrem Smartphone läutet. Noch benommen drückt sie auf die Aus-Taste, setzt sich auf. Ihr ist kalt. Sie zieht die Knie zum Brustkorb. Die rosa Mappe - sie muss ihr aus der Hand geglitten sein, die Seiten liegen lose verstreut am Teppich. Plötzlich ist sie hellwach. Magdalena! Die Erinnerung kommt zurück. Sie muss ihr helfen, darf keine Zeit mehr verlieren. Sie rafft die Seiten an sich, sortiert Blatt für Blatt, beginnt hastig weiterzulesen.

Protokoll: Magdalena Huber

Aufnahme: Dienstag, 2. Mai

Mit keinem Wort erwähnte Helmut jemals wieder dieses Brandmal, das mir zur Achillesferse wurde. Zu meinem Erstaunen meldete er sich bei einer Lebensberatung an und es ging uns gut. Er war, wie soll ich sagen, ein anderer geworden: aufmerksam, beinahe zärtlich, kaufte mir Schmuck und überraschte mich mit einem Flugticket nach Ägypten. Ich versuchte mir einzureden, dass es im Paradies kaum schöner sein konnte. Der Himmel so blau, beinahe. Doch sie waren da, am Firmament, diese dunklen Gewitterwolken. Angst, war mein ständiger Gefährte. In meinem Innersten traute ich diesem Friedensangebot nicht, meine Sensoren waren ständig ausgefahren, warteten auf den nächsten großen Ausbruch, der mein Pompeji zuschütten würde. Sie werden sich fragen, warum ich geblieben bin. Wo hätte ich hingehen sollen? Zuhause war es nicht besser, nur eben anders. Sie müssen wissen, ich bin sehr religiös aufgewachsen, mein Vater ist ein Mann der Kirche, lebt streng nach deren Geboten, ist ein Tyrann. Aufbegehren wurde mit tagelangem Arrest im modrigen Weinkeller bestraft, ohne Licht, nur bei Brot und Wasser. Manchmal brachte mir Mutter sogar eine Kerze hinunter. Ist er dahintergekommen, dann Gnade ihr Gott. Ich hielt mir die Ohren zu und trotzdem hörte ich, wie er sie anbrüllte, hörte seine Schritte, die sich kurz entfernten, hörte, wie er den Wohnzimmerschrank aufschloss, hörte die Schläge mit dem Ochsenziemer, die auf meine Mutter niederprasselten, hörte sie aufschreien. Sie wollte mir vielleicht helfen, doch sie war zu zerbrechlich, war die Untertänige. Meine Mutter flüchtete in eine andere Welt. Kerzen brannten im Haus, überall, es roch nach Weihrauch und sie sprach mit Gott. Eines Tages wurde sie abgeholt, kam in diese Klinik. Ich erinnere mich genau, es war an meinem fünfzehnten Geburtstag, als mein Vater mich zu diesen Kreuzschwestern brachte. Vom Regen in die Traufe, wie man so schön sagt. Gebote, Verbote, sogar die Berührung unseres Unterleibes beim Waschen war Sünde. Andere Mädchen in meinem Alter machten Party, gingen mit Jungs aus, verloren ihre Jungfräulichkeit auf einer Parkbank. Meine Ehe mit Helmut war vielleicht auch eine Flucht, ich war erst achtzehn und er dreißig. Eigentlich wollte ich Lehrerin werden. Helmut ließ es nicht zu, baute mir einen goldenen Käfig. Sie fragen sich wohl, warum ich mich nicht scheiden ließ. Einige Male habe ich daran gedacht, aber da war dieses sechste Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen!“ Ich habe mich schuldig gefühlt, wenn Helmut wütend wurde. Er war nicht immer wütend, es gab auch friedliche Momente mit ihm. Sie dachte nach, nickte. Bestimmt. Dieser Urlaub zum Beispiel. Eine Woche Ägypten im Fünfsternehotel direkt am Roten Meer mit diesem sensationellen Spa-Bereich. Die Tage, bevor er diese Thai-Massage für mich buchte, waren romantisch: Abendessen bei Kerzenlicht, endlose Spaziergänge am Strand. Schnorcheln mit den Delfinen. Anscheinend beobachtete er uns. Keine Vorstellung, was Helmut so in Rage brachte. Es gab immer irgendeinen Grund und dieses Mal war es der Masseur. Völlig ahnungslos öffnete ich die Tür zu unserem Apartment und da traf mich seine Pranke mit voller Wucht im Gesicht. Ich taumelte ins Zimmer, stolperte und spürte gleich darauf seine Tritte in meinem Unterleib. Unablässig, als stünde er in einem Boxring und die Zuschauer würden ihn anfeuern. Ich spürte eine warme Flüssigkeit zwischen meinen Beinen, die sich am Teppichboden ausbreitete, einen dunklen Fleck hinterließ, ein bisschen nach Salzbrezen roch. Wie ein nasser Lappen, den die Putzfrau vergessen hatte, lag ich in meiner Urinlacke in der Ecke des Zimmers.

„Thaischlampe!“, schrie er mich an.

Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft zu weinen, lag einfach da, an meinen Lippen spürte ich den Geschmack des Blutes, nach Kupfer, nach Salz. Damals wollte ich einschlafen, einschlafen und nie wieder aufwachen. Nein, ich bin jung, habe ein Recht zu leben, sagte ich mir. Jung, ein Recht zu leben. Eine Schlafstelle im Frauenhaus würde nur die morschen Äste beseitigen, doch der Baum musste mit der Wurzel ausgegraben werden. Ich war auf der Suche nach etwas Endgültigem. Natürlich denkt man daran abzuhauen. Hab es auch versucht, ein paar Mal. Nie wieder! Die Rückkehr wurde zum Höllentrip, zum Ort der Qual, wie es in der traditionellen Vorstellung des Christentums heißt, bevölkert mit Entwürdigung und Peitschenhieben. In meiner Verzweiflung bin ich sogar zu meinem Vater gefahren, zu ihm und Erika, die meine Mutter mittlerweile ersetzt hatte. Wie dumm von mir in dieses bigotte Zuhause zu flüchten. Ich hätte es besser wissen müssen. Verständnis zu erwarten von meinem Vater, dem Herrn Pastoralassistenten, ein Irrglaube. Es war um die Mittagszeit, als ich auf den Klingelknopf drückte. Erika öffnete. Vater saß im Esszimmer, löffelte seine Suppe und hasste es, dabei gestört zu werden. Er hielt den Kopf über den Tellerrand gebeugt, aß unbeirrt weiter, selbst als ich die Sonnenbrille abnahm, mein verschwollenes Auge zeigte, tupfte er sich mit der Serviette seinen Bart ab, ging in den Flur und rief Helmut an, er solle seine Frau abholen, sie möchte sich entschuldigen für ihr Vergehen und bitten, dass er sie wieder nachhause hole. Natürlich gab Vater mir die Schuld. Erika nickte eifrig, zustimmend. Wie sie immer nickte - verständnisvoll, kriecherisch. Er kam mit Schuld und Missachtung des sechsten Gebotes. Ich solle mich bekehren, Gott und meinen Mann um Verzeihung bitten. Warum? Ich verstand meinen Vater nicht. Was hatte ich Unrechtes getan? Nie wieder habe ich mein Elternhaus betreten. Nie wieder! Helmut holte mich ab, damals nach diesem Anruf, legte mir den Arm um den Nacken, küsste mich auf die Wange wie ein verliebter Schuljunge. Als wir am Hof ankamen, packte er mich wie jedes Mal an den Haaren. Mittlerweile begann ich sie zu hassen, dachte oft daran, wie es wohl wäre, eine Glatze zu haben. Ob er mich dann am Kopf herausgezerrt hätte? Er öffnete die Tür zum Keller, gab mir einen Stoß. Polternd stürzte ich die Treppe hinab und schlug hart mit dem Kopf auf der letzten Stufe auf. Sein abgehacktes Lachen erinnerte an das Bellen eines Rottweilers. Hallte im Gemäuer wider, verfolgte mich, bis die Eisentür hart ins Schloss fiel und er den Riegel vorschob. Ich war gefangen. Konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Die Lippen waren aufgesprungen, bluteten, mein Kopf schien zu zerplatzen und der rechte Knöchel tat höllisch weh. Beim Versuch aufzustehen musste ich ohnmächtig geworden sein, hatte keine Ahnung, wie lange ich so dalag am feuchten Lehmboden. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen, als ich wieder zu mir kam. Ich tastete meine Wangen ab, sie waren heiß, glühten und dennoch hatte ich Gänsehaut. Kam es von der Kälte oder war es die Furcht, dass er mich hier unten einfach verrecken lassen würde. Plötzlich war mir, als spürte ich etwas Weiches, Pelziges vorbeihuschen. Ratten! Mein Körper wurde augenblicklich wieder lebendig, der Schmerz war zur Nebensache geworden. Ich zog mich am Stiegengeländer hoch, trommelte an die Tür. Stille. Stets terrorisierte er mich damit, dass er mich nicht einfach gehen lassen konnte, erinnerte mich an das Versprechen bei der Hochzeit: „Bis dass der Tod uns scheidet!“

Oft noch wünschte ich mir, er hätte mich im Keller vergessen, verrecken lassen, mit Gevatter Tod als Erlöser. Vielleicht wäre alles besser geworden, wenn er nicht ständig betrunken gewesen wäre. Zunächst habe ich mir ja nichts gedacht dabei. Mein Gott, er hat irgendwie so männlich gewirkt mit dem Bierhumpen in der Hand, das schwarze Haar hing ihm verwegen ins Gesicht und er war mitunter auch geistreich und witzig in seinen Erzählungen, wenn er so leicht angesäuselt war. Aus der Bierseligkeit meistens am Wochenende - so zur Entspannung, wie er immer sagte, ein, zwei Krügerl, werden einem doch noch vergönnt sein nach einer harten, arbeitsreichen Woche - ist daraus „Helmut, der Säufer“ geworden. Diese Eifersucht und der Alkohol, das war eine fatale Mischung, jederzeit bereit für eine Explosion. Anfangs habe ich mich noch gekümmert um ihn, hab mir die Schuld gegeben, dass er zum Alkoholiker wurde. Ich habe alles getan, um seine Sucht zu vertuschen. Hab Termine abgesagt, ihn krankgemeldet, hab ihn ins Haus geschafft, wenn er wieder mal mittags halb bewusstlos zwischen seinen Kühen im Mist lag, damit seine Arbeiter vor ihrem Chef nicht die Achtung verlieren würden. Seinen Dank dafür, wenn er wieder zu sich kam, kann man sich zusammenreimen. Oft sperrte ich mich im Schlafzimmer ein, hoffte er würde abhauen, zu seinen Saufkumpanen ins Wirtshaus fahren. Weit gefehlt, er wurde richtig wütend, wurde zum Monster, und einmal holte er sich sogar eine Axt und schlug damit die Tür ein. Ging auf mich los und rammte sie direkt neben mir in den Kasten. Ich schloss die Augen, er packte mich an der Kapuze meines Pullovers, würgte mich. Ich bekam keine Luft und sackte zu Boden, als er mich losließ. Gleich darauf diese Schläge wie von einem Hammer ließen mir das Blut in den Kopf schießen. Alles drehte sich. Ich musste furchtbar ausgesehen haben, denn er warf mir das Nachthemd zu, das immer auf meinem Polster lag; sagte nur: „Mach dich sauber, was werden die Leute sagen?“, und torkelte zur Tür hinaus. Mein Herz raste, meine Beine waren zu schwach zum Aufstehen, zitterten. Wie lange ich so an der Kastentür lehnte, die Axt über meinem Kopf, keine Ahnung. Wenn ich jetzt den Tod beschreiben sollte, dann wäre er genau so. Diesmal war er zu weit gegangen. Ich brauchte Hilfe. Mein Vater - der Gedanke daran entlockte mir nur ein Lächeln. Die Polizei, mein Handy. Ich zog es aus meiner Hosentasche, wählte den Notruf, drückte den roten Hörer, als sich die Stimme meldete. Ich würde doch ins Frauenhaus ziehen, nur vorübergehend, bis ich mein Leben in Ordnung gebracht hätte, und mein Herz stolperte kurz bei dem Gedanken, machte einen Extraschlag. Ein vertrautes Gefühl aus meiner Kindheit kam in mir hoch. Mutter hüllte mich immer in eine Daunendecke, drückte mich an sich, wenn ich schlecht geträumt hatte und summte ein Schlaflied. Das war schön und ich fühlte mich so geborgen. Genau dieses Gefühl hatte ich jetzt. Mit meinem Koffer in der Hand, stand ich vor Tür Nummer 34. Frauenberatungsstelle - Sekretariat, brauchte nur mehr die Klinke zu drücken.

Doreen schaut auf ihre Armbanduhr, eine rote Swatch, ein Geschenk mit ihren Initialen zur Firmung. Eilig schließt sie die Mappe, bindet dennoch korrekt das schwarze Seidenband herum und verwahrt sie in der Schreibtischlade. Knappe zwanzig Minuten bleiben ihr bis zum Dienstantritt. Zu Fuß, mit dem Fahrrad - zu spät. Sie wählt die Nummer der Taxizentrale, wartet vorm Hauseingang. Als das Taxi anhält, fischt sie fünfzig Euro aus ihrer Geldbörse, hält den Schein dem Fahrer unter die Nase.

„Der gehört Ihnen, wenn Sie es schaffen, mich in fünfzehn Minuten im Industriezentrum abzusetzen.“

Gnade war gestern

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