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Diagnose- und Förderverfahren

Differenzierte und individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler setzt ausreichende diagnostische Kompetenz auf Seiten der Lehrkräfte voraus. Verschiedene Studien haben jedoch gezeigt, dass es um die diagnostische Kompetenz der Lehrer schlecht bestellt ist (Helmke 2003). Das folgende Kapitel skizziert zunächst Aufgaben und Ziele diagnostischer Lehrerurteile und weist auf mögliche Stolpersteine hin. Anschließend werden Kriterien und Kompetenzbereiche sowie Phasen und Instrumente eines erfolgreichen Diagnose- und Förderprozesses vorgestellt.

Aufgaben und Ziele der pädagogischen Diagnose

Nur wenn die Schüler ein realistisches Bild über ihre Stärken und Schwächen erhalten, können sie mithilfe differenzierter Förderung gezielt vielfältige Kompetenzen aufbauen bzw. weiterentwickeln. Die Aufgabe einer frühzeitigen und regelmäßigen Diagnose muss deshalb dem Ziel gelten, individuelle Fähigkeiten der Schüler zu entdecken und zu fördern sowie potenzielle oder bereits vorhandene Lern- und Leistungsprobleme zu erkennen, um durch gezielte Beratung und Unterstützung möglichen Schwierigkeiten rechtzeitig vorzubeugen oder bestehende zu beheben.

Kernaussage

Eine kompetenzorientierte Diagnose darf sich weder auf die Feststellung der Defizite noch des jeweiligen Leistungsstandes der Schüler beschränken. Vielmehr gilt es, auch an den Stärken anzusetzen und bei den Schwächen die möglichen Ursachen und Hintergründe in den Blick zu nehmen. Erst auf dieser Grundlage kann eine optimale individuelle Förderung der Schüler gewährleistet werden.

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Gütekriterien für die pädagogische Diagnosekompetenz

Definition

Diagnosekompetenz bezeichnet die Fähigkeit des Lehrers, das Lern-und Leistungsverhalten der Schüler nach festgelegten Kriterien angemessen zu beurteilen (Meyer 2004, 100).

Im pädagogischen Kontext können die für psychologische Testverfahren geltenden Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität nur bedingt Anwendung finden, wie Helmke (2003) zu Recht betont. Eine pädagogische Diagnose sollte sich vor allem durch folgende Gütekriterien auszeichnen (Weinert und Schrader 1986).

Lehrerdiagnosen sollen ...

• ... eine ungefähre Genauigkeit aufweisen und permanent einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Das besondere Augenmerk der Lehrer gilt dabei nicht nur dem aktuellen Leistungsstand, sondern vor allem der Frage, durch welche Faktoren der Lernprozess der Schüler beeinträchtigt und unterstützt werden kann.

• ... neben der sozial- und kriterienorientierten Bezugsnorm vor allem einen an den individuellen Fähigkeiten und Lernfortschritten orientierten Maßstab anlegen (vgl. Kapitel 5), der für den schulischen Lernerfolg und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler von großer Bedeutung ist.

• ... sich durch pädagogisch günstige Voreingenommenheiten auszeichnen, d.h. Lehrkräfte sollen das Ausmaß der Leistungsunterschiede zwischen den Schülern einer Klasse maßvoll unterschätzen, das Leistungspotenzial einzelner Schüler leicht überschätzen und deren Erfolge auf Begabung sowie Misserfolge auf mangelnde Anstrengung oder ineffektiven Unterricht zurückführen. Diese leicht optimistische Erfolgserwartung stellt sicher, dass der Lehrer in seinen pädagogischen Bemühungen nicht nachlässt.

Stolpersteine und Meilensteine

Verschiedene Untersuchungen und Umfragen belegen, dass Lehrerbeurteilungen gleicher Schülerleistungen sich gravierend unterscheiden können (Deutsches PISA-Konsortium 2003 sowie Sacher 2004) und nicht immer eine Perspektive für den weiteren Lernprozess eröffnen (Scholz / |20◄ ►21| Weber 2010). Dies mag zum großen Teil auch darauf zurückzuführen sein, dass Lehrkräfte zahlreichen Urteilsfehlern ausgesetzt sind.

Subjektive Fehlerquellen

Bei der Diagnose von Schülerleistungen können verschiedene Fehlerquellen auftreten, von denen die wichtigsten kurz genannt seien:

• Tendenz zur Mitte versus Tendenz zu Extremurteilen: Während manche Lehrkräfte grundsätzlich zu mittleren Urteilen neigen, z.B. niemals die Noten 1 sowie 5 und 6 geben, zeigen andere Lehrer die Tendenz zu Extremurteilen.

• Tendenz zur Milde versus Tendenz zur Strenge: Milde Lehrer beurteilen Schüler günstiger, als es von der Sache her angemessen wäre, und neigen dazu zu gute Noten zu erteilen. Im Unterschied dazu zeigen strenge Lehrer die Tendenz, selbst geringe Fehler stark zu gewichten und eher ungünstige Beurteilungen vorzunehmen.

• Einfluss von Geschlecht und Sympathie: Untersuchungen haben gezeigt, dass Lehrkräfte im Durchschnitt dazu neigen, objektiv gleiche Leistungen von Mädchen günstiger zu bewerten als die von Jungen (Preuss-Lausitz 2008). Andere Studien zeigen, dass zahlreiche Lehrer Schüler, die ihnen sympathisch sind, günstiger beurteilen, als es den tatsächlichen Leistungen entspricht (Paradies / Linser / Greving 2007).

• Einfluss von Voreingenommenheiten oder Zusatzinformationen: Viele Lehrer erwarten von Schülern, die hervorragende Leistungen in Mathematik zeigen, ähnliche Leistungen im Fach Physik. Des Weiteren wird ein Schüler, der von seinem äußeren Erscheinungsbild her unordentlich wirkt und dem ein entsprechender Ruf vorauseilt, oft von vornherein schlechter eingeschätzt, als er es verdient (Halo-Effekt).

Zyklus zur Verbesserung der Diagnosefähigkeit

Die genannten Fehlerquellen können oft nur vermieden oder behoben werden, indem Lehrer ihre diagnostische Kompetenz immer wieder auf den Prüfstand stellen und geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen. Zur Erfassung und Verbesserung der pädagogischen Diagnosefähigkeit empfehlen wir Lehrern folgenden Zyklus (in Anlehnung an Helmke 2003): |21◄ ►22|

1. Auswahl eines Merkmals: Zunächst wählt der Lehrer ein Merkmal eines Schülers oder einer Aufgabenstellung aus, anhand dessen er seine diagnostische Kompetenz erfassen und verbessern will. So kann er das Augenmerk z.B. darauf richten, wie bestimmte Schüler beim Lösen mathematischer Textaufgaben vorgehen oder wie sie mit Prüfungssituationen umgehen.

2. Persönliche Prognose: Anschließend überlegt sich der Lehrer, welches Ergebnis er erwartet, und hält seine Einschätzung schriftlich fest. Dieser Schritt dient der Sensibilisierung und gegebenenfalls der Korrektur der bisweilen fragwürdigen subjektiven Deutungsmuster.

3. Erhebung des tatsächlichen Ergebnisses: Nun kann der Lehrer die zuvor festgelegten Merkmale einzelner Schüler sorgfältig beobachten und beschreiben. Die Erhebung kann durch einen Test, durch einen Frage- oder Diagnosebogen oder durch sorgfältige Beobachtung erfolgen, die an klaren Kriterien orientiert ist.

4. Vergleich zwischen persönlicher Prognose und dem Befund der Erhebung: Der Pädagoge vergleicht seine persönliche Prognose mit dem tatsächlichen Befund, um herauszufinden, ob es eine Differenz gibt und wie hoch diese ist (Helmke 2003, 99).

5. Analyse möglicher Diskrepanzen zwischen Prognose und Befund: Sofern Unterschiede zwischen dem erwarteten und tatsächlichen Ergebnis festgestellt werden, sucht der Lehrer gemeinsam mit dem Schüler und gegebenenfalls mit den Eltern nach Gründen und überlegt sich, wie er eine Fehleinschätzung künftig vermeiden kann. Auch ein Austausch mit Kollegen, welche die betreffenden Schüler aus dem Unterricht kennen, kann wichtige Hinweise für eigene Urteilsfehler geben.

6. Festlegung der nächsten Schritte zur Verbesserung der Diagnosekompetenz: Der Lehrer überlegt sich konkrete Schritte zur Weiterentwicklung seiner Diagnosekompetenz. Dafür wählt er ein Merkmal der Schüler, der Unterrichtsgestaltung oder der Aufgabenstellung aus, anhand dessen er seine diagnostischen Fähigkeiten auf den Prüfstand stellen und verbessern kann. Damit schließt sich der Kreis.

Kriterien und Kompetenzbereiche der Diagnose

Kernaussage

Bei der Diagnose sollten nicht nur die aktuellen Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler in Form einer ergebnisorientierten Diagnose, sondern auch das Arbeitsverhalten sowie die Interessen, Lernwege|22◄ ►23| und bevorzugten Sozialformen im Sinne einer prozessorientierten Diagnose einbezogen werden.

Nur so kann es gelingen, neben der vertikalen und interindividuellen Heterogenität auch der horizontalen und intraindividuellen Heterogenität angemessen Rechnung zu tragen und eine Förderdiagnostik zu etablieren. Grundlage einer prozessorientierten Diagnose bilden dem erweiterten Lern- und Leistungsbegriff zufolge folgende Kriterien und Kompetenzbereiche (vgl. auch Kapitel 1):

• Fachliche Kompetenzen: fachspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten

• Methodische Kompetenzen: Lern- und Arbeitstechniken, wie z.B. das Sammeln und Strukturieren von Informationen, selbstständige Erschließung von deutschen und/oder fremdsprachlichen Texten, Umgang mit Hilfsmitteln, Memorierungstechniken etc.

• Personale Kompetenzen: Anstrengungsbereitschaft, Selbstständigkeit, Kritikfähigkeit u.a.

• Soziale Kompetenzen: Fähigkeit zur Kommunikation und Kooperation usw.

Phasen eines Diagnose- und Förderprozesses

Vor allem bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichen Lernschwierigkeiten sowie mit außergewöhnlichen Begabungen ist ein intensiver Diagnose- und Förderprozess angeraten, in den die Schüler und eventuell auch die Eltern einbezogen werden sollten. Der individuelle Diagnose- und Förderprozess verläuft in der Regel in vier Phasen:


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• Wahrnehmen: Lehrer, Schüler und eventuell Eltern nehmen durch Beobachtung und Gespräch die Stärken und Schwächen des Lernenden wahr. Als Grundlage können schriftliche Arbeiten, Hausaufgaben, Selbstbeobachtungen durch den Schüler, Fremdbeobachtungen durch den Lehrer und/oder die Eltern dienen (Paradies / Linser / Greving 2007). Für die Lehrkraft eignen sich vor allem Phasen des offenen Unterrichts, um das Arbeits- und Lernverhalten einzelner Schüler zu beobachten.

• Verstehen: Die am Diagnoseprozess beteiligten Personen tauschen sich über ihre Beobachtungen aus und versuchen sie zu deuten. Voraussetzung ist eine offene und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre sowie die Bereitschaft aller Beteiligten, sich der eigenen subjektiven Sichtweise stets bewusst zu sein und Deutungen gegebenenfalls zu ergänzen, zu relativieren oder zu korrigieren.

• Entscheiden: Die beteiligten Personen tauschen sich über mögliche Maßnahmen aus und setzen gemeinsam Ziele für den weiteren Lernprozess fest, die in einen Förderplan (Höhmann 2004) oder in eine Lernvereinbarung münden können. Dabei ist darauf zu achten, dass der Schüler auch in dieser wichtigen Phase Hauptakteur seines Lernprozesses bleibt. Die anderen Personen haben lediglich eine beratende Funktion.

• Überprüfen: Beteiligte Lehrer, Schüler und eventuell Eltern geben sich in regelmäßigen Abständen gegenseitig eine Rückmeldung, inwieweit und weshalb die gesetzten Ziele erreicht bzw. nicht erreicht wurden, und treffen weitere Absprachen und Vereinbarungen. Um die Ernsthaftigkeit des Diagnose- und Förderprozesses zu unterstreichen, sollten alle Phasen schriftlich dokumentiert werden.

Instrumente des Diagnose- und Förderprozesses

Im schulischen Kontext können bereits etablierte Verfahren sowie neue Instrumente zum Einsatz kommen:

• Beurteilung schriftlicher und mündlicher Schülerleistungen: Sowohl die schriftlichen und mündlichen Lernerfolgskontrollen als auch die Beiträge der Schüler im bzw. für den Unterricht stellen eine wichtige Grundlage für die Diagnose dar (vgl. dazu Kapitel 5).

• Diagnosebögen für die individuelle Förderplanung: Besonders hilfreich sind nach unserer Erfahrung prozessorientierte Diagnosebögen, bei denen der Schüler nicht nur seine Ergebnisse in den Blick nimmt, |24◄ ►25| sondern auch sein Arbeitsverhalten, seine Lernwege, seine bevorzugten Sozialformen etc. reflektiert (vgl. Kapitel 4, SOS-Fragebogen für Schüler mit Problemen in Mathe). Denn oft ist die Kenntnis, wie ein Schüler erfolgreich lernt bzw. nicht erfolgreich lernt, für die anschließende Förderung wichtiger als die Frage, was er gelernt bzw. nicht gelernt hat. Praxisorientierte Anregungen samt Kopiervorlagen findet der interessierte Leser in der am Ende des Kapitels aufgeführten Literatur.

• Individuelle Lernvereinbarungen: Bei einer individuellen Lernvereinbarung sollten verschiedene Aspekte beachtet werden (vgl. das Beispiel auf der folgenden Seite): Zum einen sollten nur wenige, möglichst kleine (bewältigbare!) und konkrete Schritte vereinbart werden. Sodann ist es wichtig, dem betreffenden Schüler – sofern nötig – Unterstützung und Begleitung anzubieten bzw. zu vermitteln, z.B. durch seinen Lehrer, seine Mitschüler, seine Eltern etc. Schließlich sollten alle Beteiligten festlegen, woran man erkennen und wie man überprüfen kann, ob die gesetzten Ziele erreicht wurden. Darüber hinaus überlegen sich alle „Vertragspartner“ der Lernvereinbarung, bis wann die vereinbarten Ziele erreicht sein sollen. Motivationsfördernd für den weiteren Lernweg kann eine Belohnung sein, sofern das gesetzte Ziel erreicht wird.

Abschließend sei ausdrücklich betont, dass lang anhaltende, sehr schwierige und komplexe Frage- und Problemstellungen in jedem Falle von einem Beratungslehrer, Arzt oder Psychologen abgeklärt werden sollten (Lauth / Grünke / Brunstein 2004).

Für die Begleitung von Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten empfiehlt es sich, ein Tutorensystem mit Lernpatenschaften zu etablieren, bei dem Lehrkräfte oder geeignete Schüler Beratung und Unterstützung anbieten können (Klippert 2010 und Wellenreuther 2009).

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Beispiel: Individuelle Lernvereinbarung in Klasse 6


Literatur

Kliemann 2008: Breit gefächerter Überblick mit praxisorientierten Diagnose- und Fördermöglichkeiten für die Sekundarstufe I.

Paradies / Linser / Greving 2007: Praktische Verfahren und Instrumente zur individuellen Diagnose und Förderung mit zahlreichen Kopiervorlagen

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Pädagogische Differenzierung

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