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Kapitel 2 – Flashback

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Eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang landete Verox das Shuttle versteckt zwischen den gigantischen Hochhausruinen einer halb zerfallenen Mega-Metropole und nicht in der Nähe des Binnenmeeres. Sie wollten schließlich unentdeckt bleiben. Durch die schachbrettmusterartig angelegten Häuserblocks war das Meer, das die halbe Stadt eingenommen hatte, sodass viele Ruinen aus dem Wasser ragten, von fast überall aus zu erblicken.

Tyr beugte sich absichtlich über Nukas Schoß, damit er besser aus dem Fenster sehen … und seinem Schwarm näher sein konnte. Die Turbinen wirbelten jede Menge Staub auf; die Wüste hatte sich ihr Territorium fast vollständig zurückerobert.

Tyr stützte eine Hand auf Nukas Oberschenkel ab und sagte, dicht an dessen Wange: »Wie haben in dieser Stadt vor dem Großen Krieg bloß so viele Menschen leben können? Hier gibt es nichts als Sand!« Dabei schaute er jedoch nicht länger nach draußen, sondern nur noch in die grünen Augen des sexy Kriegers neben ihm.

Der starrte beinahe erschrocken zurück, schubste Tyr aber nicht weg. Ihre Lippen befanden sich bloß noch Millimeter voneinander entfernt, und Tyr spürte Nukas hektischen Atem gegen sein Kinn schlagen. Gott, wie sehr er ihn küssen wollte! Irgendwie wusste er, wenn er jetzt den Mund auf diese sündhaften Lippen presste, würde Nuka es zulassen …

Nur in meinen Träumen, dachte er frustriert und wich schnell zurück. Die Tür öffnete sich bereits, Shadow war auch schon aufgesprungen, und er begab sich mit den anderen zum Ausgang.

Kaum verließ er den Transporter, schien er in eine warme Wand zu laufen. Die Luft war hier zwar nicht viel feuchter als in Oasis, aber viel heißer. Wenigstens verschonte sie noch die Hitze des Tages, denn die riesigen Stahlskelette, die in den blauen Himmel ragten, spendeten angenehmen Schatten. Doch spätestens gegen Mittag würden sie in der Sonne braten. Trotzdem war das Licht jetzt schon ungemein grell, sodass sie alle ihre Sonnenbrillen aufsetzten.

Nachdem sie ihre Waffen an sich genommen hatten, öffnete Verox die Luke des gigantischen Laderaumes am Heck des Shuttles, um den eiförmigen, silbrig glänzenden Stealth Explorer auszuladen. Während er die automatische Hebebühne mittels einer Fernsteuerung bediente, fuhr er sich über seine kurzen rotblonden Haare und ging dann in die Hocke, um seinen schwarzen Wolf zu streicheln. »Sieh dich mal ein wenig um, Großer«, sagte ihr Teamleiter leise zu Shadow. Schon sauste der Wolf los und verschwand zwischen den Ruinen.

Stirnrunzelnd starrte Verox die gigantischen Ruinen aus Stahl und Glas an. »Ich hoffe, die halten noch, solange wir hier sind.«

Der glatzköpfige Riese Rock trat neben ihn und nickte langsam. »Das werde ich als Erstes testen. Der Explorer hat spezielle Scanner und ein Programm installiert, mit dem ich die Tragfähigkeit sämtlicher Konstruktionen überprüfen kann.«

»Perfekt.« Verox zog sich das T-Shirt aus und hängte es sich über eine Schulter. Er trug meistens kein Oberteil, und Tyr wünschte, Nuka würde das auch einmal so handhaben. Das Spitzohr sah er immer nur halb nackt, wenn sie sich wuschen – was Nuka leider oft allein machte. Doch in dem eng anliegenden beigen T-Shirt und den schwarzen Hosen gab er auch eine sehr leckere Figur ab.

Verox’ Gefährtin Skye bekam beim Anblick des muskulösen Oberkörpers ihres Partners immer noch große Augen und lächelte ihn verstohlen an. Die junge Frau hatte wie meistens ihre dunklen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, trug einen breitkrempigen Sonnenhut, ein Top, Shorts und kniehohe Stiefel. Mit den hohen Wangenknochen und leicht schräg gestellten, katzenhaften Augen erinnerte sie Tyr an eine Indianerin. Als Sammlerin hatte Skye lange Jahre ganz allein in der Wüste überlebt, in genau solch einer Umgebung wie dieser hier, bloß auf einem anderen Kontinent. Deshalb bezeichnete Verox sie auch öfter als »Wüstenprinzessin«, und sie nannte ihn als Einzige bei seinem richtigen Namen: Flynn. Genau wie Kia, trug sie ständig eine Armbrust bei sich und konnte damit hervorragend umgehen. Tyr fragte sich langsam, was die Mädels an dieser Waffe so toll fanden.

Kia schnaubte beim Anblick der alten Hochhäuser gelangweilt. »Das sieht hier ja auch nicht anders aus als bei uns zu Hause in Resur. Ich dachte, auf der anderen Seite der Welt wäre es interessanter.«

Crome lachte. »Lass dich nie vom Äußeren täuschen.« Sicher war er froh, dass diese Aufklärungsmission als ungefährlich eingestuft worden war. Garantiert wollte er seine Ziehtochter keinen unnötigen Risiken aussetzen.

Während Chaz und seine Partnerin Anka das Shuttle bewachten, stieg Rock in das silberfarbene »Ei« auf Kufen aka Stealth Explorer und startete die Systeme. Dabei ließ er die Tür offen, damit sie sich unterhalten konnten. »Die Konstruktionen der Häuser im Umkreis des Shuttles sind auf jeden Fall stabil, wir könnten sie sogar betreten«, erklärte er schon nach wenigen Sekunden. »Keine akute Einsturzgefahr. Nur von dem kleineren Gebäude da vorne sollten wir uns fernhalten.« Er deutete auf eine Stahlruine, die bereits halb in sich zusammengefallen war.

»Wie sieht es mit fremden Lebenszeichen aus?«, fragte Verox.

»Keine in der Nähe. Um einen größeren Umkreis scannen zu können, muss ich aufsteigen.«

Ihr Teamführer nickte. »Okay, du hast grünes Licht. Wir werden solange die Umgebung zu Fuß erkunden. Funk mich sofort an, wenn du was Auffälliges siehst!«

»Mach ich.« Als Rock die Tür des Explorers schloss, überzog ein silbriges Schimmern das eiförmige Fluggerät. Fast geräuschlos starteten die Motoren, und es hob ab, ohne viel Staub aufzuwirbeln. Danach schoss es zwischen den Ruinen nach oben in den hellblauen Himmel und verschmolz regelrecht mit ihm. Rock hatte den Tarnmodus aktiviert, kein menschliches Auge würde den Explorer nun wahrnehmen können. Tyr staunte immer wieder über diese technische Meisterleistung.

***

Nachdem sie alle ihre Waffen überprüft hatten, teilten sie sich auf, um die verlassenen Straßen zu erkunden. Nuka wäre am liebsten allein gegangen, aber natürlich heftete sich sofort Tyr an seine Fersen, als Verox befahl, Zweierteams zu bilden. Chaz ging mit Anka, Crome mit Kia und ihr Teamleiter mit Skye. Nur ihr Koch Lasi schloss sich im Shuttle ein, um für sie in der Bordküche ein Frühstück vorzubereiten.

Ausnahmsweise war Nuka froh darüber, dass Tyr bei ihm war und kein anderer. Dessen Nähe konnte er noch am besten ertragen und sein Teampartner würde ihn vielleicht nicht bei Verox anschwärzen, wenn er seinen Zustand bemerkte. Denn Nuka steckte gedanklich immer noch in seinem Albtraum fest. Die hohen Stahlskelette der Hochhäuser, die mit Sand bedeckten Straßen und überhaupt die ganze Atmosphäre hier erinnerten ihn an damals, als er das letzte Mal mit Bow zu den Ruinen in der Nähe seiner alten Heimat aufgebrochen war.

Während Nukas Bruder Kian lieber unter der Kuppel von White City als Bodyguard arbeitete, hatte es ihn seit jeher nach draußen getrieben. Nuka war ein Draufgänger gewesen, immer auf der Suche nach Abenteuern, und er teilte diese Leidenschaft mit Bow. Als in der nahe gelegenen Wüstenstadt Resur eine Gruppe von Kriegern gesucht wurde, um Raubtiere aufzuspüren, die für die Resurer eine große Gefahr darstellten, hatte er sich sofort gemeldet. Als Fährtenleser fiel es ihm leicht, die Spuren anderer Menschen oder Tiere zu entdecken und ihnen zu folgen, weshalb er eine große Mitschuld an Bows Tod fühlte. Nuka hatte seinen Liebsten direkt in die Hölle geführt. Deshalb war er froh, an diesem Ort keinerlei Spuren zu entdecken. Allerdings musste das nichts heißen. Ein sanfter Wind blies ständig durch die Häuserschluchten und verteilte den feinen Sand bis in die letzte Ritze. Die Wüste schluckte alles, auch die noch so kleinste Fährte.

Er bemühte sich, wachsam zu bleiben, ließ jedoch Tyr vorangehen, der wesentlich mehr bei der Sache war. Obwohl der Kerl ihn unentwegt anhimmelte, gab er im Einsatz stets alles, auch volle Konzentration.

Die Gegend verschwamm immer mehr vor Nukas Augen, und plötzlich fand er sich an jenem Ort des Grauens wieder, viele tausend Kilometer von hier entfernt. Wachsam schlich Bow hinter ihm her, das Schnellfeuergewehr schussbereit angelegt, während sich die anderen sechs Leute des Teams in weitere Richtungen verteilten. Normalerweise schoss Bow lieber mit einem Sportbogen, daher kam auch sein Spitzname, doch auch mit der M3000 machte ihm niemand so schnell etwas vor. Nuka fühlte sich in seiner Gegenwart immer sicher, obwohl er selbst ausgezeichnet mit einer Schusswaffe umgehen konnte. In der Hand hielt er eine Pistole, bereit, um sich bei einem Angriff sofort verteidigen zu können. Die ausgehungerten Raubkatzen zögerten nicht, wenn sie einen Menschen sahen, und sprangen sofort auf sie zu. Ein Löwenrudel mit über zehn Tieren war erst letzte Woche in Resur eingefallen und hatte reihenweise Leute zerfetzt. Nuka empfand jedoch ein wenig Mitleid mit den völlig abgemagerten Wesen und fragte sich oft, was er tun würde, wenn er kurz davorstünde, zu verhungern.

Der Warrior Nitro hatte vor ein paar Jahren eine Initiative ins Leben gerufen, diese Tiere einzufangen, aufzupäppeln und im Red Rock Canyon wieder auszusetzen, wo sie genug Wasser und Nahrung zum Überleben fanden. Ursprünglich war Nitro mit ehemaligen Kriegern und Männern der Stadtwache durch die Straßen von Resur patrouilliert, um nicht nur nach wilden Geschöpfen Ausschau zu halten, sondern um elternlosen Kindern und anderen Streunern zu erklären, wo sie einen sicheren Unterschlupf und etwas zu essen fanden.

Doch die schnell wachsende Siedlung hatte noch mehr Raubtiere angezogen, und es fanden sich in Resur kaum noch Freiwillige für das wagemutige Unterfangen, weshalb ein paar Warrior zur Unterstützung gesucht wurden. Tag und Nacht beschützten sie die neue Wohnsiedlung sowie die Wüstenstadt, und jedes gefährliche Tier, das sich ihnen auf vier Meilen näherte, durfte erschossen werden, falls es zu einer grauenvollen Bestie mutiert war. Die durch Strahlung verursachten Mutationen brachten wahrliche Ungeheuer hervor mit riesigen Fängen, Schaum vor dem Mund, eiternden Schwären und blutroten Augen. Nuka hatte selbst schon einige dieser extrem aggressiven Tiere erledigen müssen. Zum Glück mussten sie die gesunden Raubkatzen nicht töten, sondern betäuben, außer es stand ein Leben auf dem Spiel. Meistens konnten sie die Tiere jedoch retten und ihnen ein neues Zuhause fernab jeglicher Zivilisation geben. Es galt, alte Spezies zu erhalten, denn viele Wesen hatten den großen Atomkrieg vor über hundert Jahren nicht überlebt.

»Wo ist das verdammte Rudel hin?«, fragte Bow hinter ihm leise, als sie eine ehemalige Straßenkreuzung betraten. Mehrere vom Wüstensand abgeschmirgelte Autoskelette standen herum.

Wachsam blickte sich Nuka um. Hier verlor sich die Fährte des Löwenrudels, denn ein leichter Wind blies zwischen den Häusern hindurch und verwischte sowohl die Spuren auf dem sandigen Boden als auch die Duftspur in der Luft.

Plötzlich legte sich die Brise, und eine unnatürliche Stille senkte sich über die Häuserschlucht. Nukas Nackenhaare stellten sich auf. Er fühlte sich beobachtet. Allerdings verrieten keine Spur, kein Laut, dass sich jemand in der Nähe befand.

»Hier stimmt was nicht«, flüsterte er und drehte sich zu Bow um, ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen. »Es fühlt sich an, als wären wir nicht länger allein. Lass uns die anderen kontaktieren.« Zu keinem ihrer Brüder aus dem Team hatten sie Sichtkontakt, allerdings mussten sie sich in Rufweite befinden. Nuka sah ihre Positionen als grüne Punkte auf seinem kleinen Computer, den er wie alle in ihrer Gruppe am Handgelenk trug.

Bow runzelte die Stirn, wobei er ihn ernst anblickte. Leise erklärte er: »Ich weiß, dass ich mich auf deine Vorahnungen verlassen kann, aber mein Handycom zeigt nichts an.«

Das von Nuka auch nicht, allerdings könnten sich die Löwen in den Ruinen verstecken. So viel Stahl und Beton störte die Signale …

Nuka tauchte langsam wieder in die Gegenwart auf und versuchte, die weiteren Bilder zu verdrängen, was ihm schwerfiel, schließlich hatten sie sich wie Säure in sein Gehirn geätzt. Blut, überall war so viel Blut … Er musste durchatmen, langsam und tief, ein und aus. Mit eisernem Willen konzentrierte er sich ganz auf seine Atmung, um sein panisch rasendes Herz zu beruhigen. Er durfte sich nicht in die Angst hineinsteigern, aber gegen sie ankämpfen auch nicht, das machte sie nur schlimmer. Schnell griff er zum Trinkschlauch, der an seinem Gürtel baumelte, um ein paar Schlucke kühlen Wassers zu nehmen. Dann lehnte er sich gegen eine dicke Betonsäule, die aus dem Sand ragte – hier war früher wohl ein Haus gebaut worden –, und hoffte, Tyr würde sich nicht gerade jetzt zu ihm umdrehen. Nuka brauchte noch zwei, drei Minuten, bis es ihm wieder besser ging.

Damals, in Resur, war für ihn eine Welt zusammengebrochen und er hatte nicht länger bei der Raubtierwache arbeiten können. Deshalb war er froh gewesen, als er von der freien Stelle in Verox’ Mannschaft gehört hatte. Dieser Warrior suchte mit seiner Gruppe weltweit nach Überlebenden, Siedlungen und anderen Kuppelstädten. Nuka war immer noch unglaublich dankbar, dass er den Job als Fährtensucher bekommen hatte. Das lenkte ihn von seiner Vergangenheit ab. Dennoch fürchtete er täglich, seinen Job zu verlieren, wenn jemand von seinen Panikattacken erfuhr. Lange war er von der letzten verschont gewesen, aber der Traum im Shuttle und vor allem die ähnliche Umgebung wühlten wieder alles auf. Er spürte jeden einzelnen seiner Herzschläge, die sich wie Messerstiche in den Brustkorb bohrten, während ihm eisiger Schweiß über den Rücken lief.

Tyr schlich mit gezogener Pistole ein paar Meter vor Nuka her durch die völlig verstaubten Straßen. Der hellbraune Sand bedeckte wirklich alles, hatte sich in den Abgängen zu einer Straßenunterführung gesammelt und steckte auch sonst in jeder Ritze. Die feinen Steinchen schienen sogar in seine Stiefel zu kriechen, weshalb er sie am liebsten ausziehen wollte. Doch er wusste nicht, was sich unter dem Sandteppich befand. Vielleicht gab es hier Skorpione oder Schlangen. Auf ein giftiges Tier wollte er ganz bestimmt nicht treten. Als Kind war er einmal von einer Schlange gebissen worden und fast an einer Infektion gestorben. Dieses Erlebnis musste er nicht wiederholen.

Er vertraute darauf, dass Nuka ihn warnen würde, wenn er sich einer Gefahr näherte, und schlich weiter. Schon viele Monate war er mit dem Krieger in Verox’ Team und sie bildeten stets eine Einheit, konnten sich auf den anderen verlassen. Unglaublich, wie lange Tyr hier schon mitmischte. Er wollte auch keine Sekunde davon missen.

Hoffentlich entdeckte Rock auf seinem Rundflug mit dem Explorer irgendwas Interessantes. Ob sie hier wirklich »Paradisia« finden würden, genau wie die abtrünnigen Senatoren, die auf dieser ominösen, paradiesischen Insel untergetaucht sein sollten? Beim Anflug hatten sie keine Kuppelstadt gesehen und die meisten Inseln hatte das Meer geschluckt. Selbst die Großstädte mit ihren riesigen Wolkenkratzern lagen halb im Wasser. Früher hatten sie noch in der Wüste gestanden oder an kilometerlangen Sandstränden. Die Menschen sollten damals sogar künstliche Inseln im Persischen Golf in Form einer Weltkarte oder riesiger Palmen erschaffen haben. Verrückt! Zugegeben, das Binnenmeer eignete sich, um Land aufzuschütten, denn es sollte nicht besonders tief sein. Aber es gab doch genug Lebensraum? Das Meer war für die Menschen damals wohl attraktiver gewesen, jedoch nicht, um darin zu fischen, nein, um dort »Urlaub« zu machen. Tyr hatte in alten Büchern und Magazinen darüber gelesen und Bilder gesehen. Die Leute hatten sich Freizeit genommen, um in ein anderes Land zu reisen, im Meer zu baden, fremde Speisen zu kosten. Tyr besaß diesen Luxus gewissermaßen während seiner Arbeitszeit, denn auf den Expeditionen stießen sie immer wieder auf neue Landschaften und Menschen. Das befriedigte seinen Entdeckerinstinkt. Im Grunde seines Herzen war er ein Draufgänger, zumindest hatte ihn Verox früher so bezeichnet, als der noch der heimliche Anführer der »Slasher« gewesen war und Tyr auch damals schon, genau wie ihr Koch Lasi, für ihn gearbeitet hatte. Er war Verox’ bester Sachensucher und Jäger gewesen … und hatte sich dennoch oft einsam gefühlt. In dieser Welt gab es nicht mehr so viele Menschen, und jemanden zu finden, der dieselben Neigungen besaß wie er, gestaltete sich oft schwierig.

Zurück zur Gegenwart. Er musste sich unbedingt konzentrieren, und seit er Nuka begegnet war, schwelgte er ohnehin nicht mehr in alten Erinnerungen oder musste an irgendeinen der Männer denken, denen er früher einmal sein Herz geschenkt hatte. Beim Einschlafen sah er jetzt immer nur den weißhaarigen, elfenhaften Krieger vor seinem inneren Auge. Tyr spürte deutlich, dass der Kerl auf Männer stand, außerdem rief er nachts im Schlaf oft nach »Bow«. Das klang nach einem Männernamen. Irgendetwas Schreckliches musste mit Bow passiert sein, denn Nuka hing immer noch in der Vergangenheit fest. Ob er sich je davon lösen und sich auf ihn einlassen könnte?

Falls nicht … vielleicht würde Tyr eines Tages auf seinen Reisen sein perfektes Gegenstück treffen, Zeit wurde es langsam, er ging schließlich schon auf die Dreißig zu. Womöglich fand er sogar an diesem unwirtlichen Ort einen Partner? Er war zu gespannt, ob Rock Lebenszeichen entdeckte, andere Menschen – in dieser öden Gegend.

Sollte hier wirklich Paradisia liegen? Weit und breit gab es nichts als Wüste und halb zerfallene Mega-Citys. Wahrscheinlich würden sie nicht lange auf diesem heißen Flecken Erde bleiben. Dabei sehnte sich Tyr nicht nur nach einem richtigen Partner, sondern auch mal wieder nach einem aufregenden Abenteuer. Zwar sollte niemand zu Schaden kommen, aber wenn er schon um die halbe Welt reiste, wollte er auch was erleben.

Um Nuka zu fragen, was er von ein bisschen Action hielt, drehte sich Tyr um und blieb sofort stehen, weil er ihn nicht direkt hinter sich entdeckte. Stattdessen lehnte er fast fünfzig Meter entfernt schwer atmend an einer dicken Betonsäule.

Verdammt!

Tyr wollte ihm zurufen, was passiert war, ließ es aber lieber bleiben. Er wusste nicht, ob sich Feinde in der Nähe versteckten oder gefährliche Tiere, die er anlocken könnte. Deshalb lief er, so schnell er es auf dem weichen Boden vermochte, zu ihm. Wenigstens schluckte der Sand die Geräusche seiner Schritte.

»Nuka?«, flüsterte Tyr, als er dicht vor ihm stand. »Was hast du?«

Als der nicht auf ihn reagierte, schob ihm Tyr die Sonnenbrille ins Haar. Nuka presste die Augen fest zusammen und atmete weiterhin schwer, während er den Rücken an die Säule presste. Schweiß lief ihm über das Gesicht, und das beige T-Shirt färbte sich vor Feuchtigkeit an der Brust dunkel.

»Bist du krank? Fühlst du dich nicht gut?« Fuck, hatte ihn ein giftiges Tier gebissen?

Schnell ließ er den Blick über Nukas Beine wandern. Er trug Einsatzstiefel, da drang so schnell kein Biss oder Stachel durch. Nukas leicht behaarte Arme sahen auch unversehrt aus. Es musste sich um eine Panikattacke handeln!

Tyr steckte die Pistole ins Holster an seinem Gürtel und legte seinem Teamkollegen vorsichtig eine Hand an die Wange, die andere drückte er an dessen harte, muskulöse Brust. Nukas Herz raste.

»Es ist alles gut, du bist in Sicherheit«, sagte Tyr leise, wobei er leicht zu seinem süßen Spitzohr aufsehen musste. Zwar war Nuka nicht besonders groß für einen Warrior, aber Tyr war selbst für einen normalmenschlichen Mann eher klein.

Sofort schmiegte Nuka das Gesicht in seine Handfläche und wisperte: »Bow.«

Tyrs Magen verkrampfte sich. »Ich bin es, Tyron.«

»Tyr …« Nuka atmete aus, als würde eine gewisse Anspannung von ihm weichen, und schlug schließlich die Augen auf.

Abrupt nahm Tyr die Hände weg, weil er wusste, dass Nuka diese viel zu intimen Berührungen nicht gefallen würden. »Fühlst du dich nicht gut? Soll ich Chaz rufen?« Ihr Team hatte zwar keinen richtigen Arzt dabei, aber Chaz besaß eine medizinische Zusatzausbildung und war für die Erstversorgung zuständig. Außerdem kannte sich auch Kia in solchen Belangen sehr gut aus, hatte er gehört.

Als Tyr plötzlich einen Schatten im linken Augenwinkel wahrnahm und Nuka seine Waffe zückte, wirbelte er herum. Aber es war nur Verox’ Wolf, der hechelnd an ihnen vorbeilief, ohne sie groß zu beachten.

Nuka zielte auf das Tier, woraufhin Tyr sofort dessen Waffenarm herunterdrückte und zischte: »Bist du verrückt? Das ist Shadow!«

»Fuck«, murmelte Nuka. Mit zitternder Hand schob er die Pistole zurück ins Holster. »Ich dachte erst …« Alarmiert starrte er Tyr an. »Was, wenn Shadow mich … in diesem Zustand … gesehen hat und es Verox erzählt?«

Tyr schüttelte den Kopf. »Du glaubst ernsthaft, der Wolf berichtet ihm, wie es dir geht?«

»Die beiden haben irgendeine Verbindung; Shadow kundschaftet für ihn doch immer die Umgebung aus. Hast du das noch nie bemerkt?«

Tyr drückte ihm eine Hand auf die Stirn. »Du hast vielleicht Fieber und solltest dringend zum Doc gehen, sobald wir zurück in Oasis sind.«

Nuka schlug seinen Arm weg, dessen Blick verfinsterte sich. »Die werden mich beurlauben oder schlimmstenfalls gleich aus dem Team werfen! Niemand darf mir das hier auch noch nehmen. Ich brauche diese Gruppe, Tyr!«

Schnaubend trat er einen Schritt zurück. »Schön, dass dir die Gruppe so wichtig ist. Mich scheinst du ja nicht zu brauchen.«

Nuka keuchte auf. »Was redest du denn? Wir sind ein Team. Partner!«

Tyr wünschte, sie wären mehr als das. »Du hättest mir gerade den Rücken decken sollen, Partner.«

Nukas dunkelgrüne Augen weiteten sich und er setzte sich schnell die Sonnenbrille auf. »Das … Es tut mir leid. Wird nie mehr passieren.«

Hinter Tyrs Brustbein zog es heftig. Er hatte Nuka noch nie so schwach, so verunsichert gesehen. Tyr wollte ihn am liebsten zusammenfalten, weil er seine Aufgaben vernachlässigt hatte, andererseits konnte er dem süßen Spitzohr einfach nicht böse sein. Albträume plagten Nuka fast jede Nacht; er litt wie ein verwundetes Tier. »Sag das nächste Mal wenigstens Bescheid, wenn du mit den Gedanken wieder woanders steckst«, murmelte Tyr. »Dann passe ich auf dich auf.«

Nuka nickte und flüsterte: »Danke.«

Anschließend gingen sie weiter, liefen nebeneinander her. Dabei hielten sie die Umgebung im Auge und warfen auch ständig Blicke über ihre Schultern.

Tyr wollte seinen Partner so vieles fragen und vor allen Dingen erfahren, wer oder was ihn jede Nacht heimsuchte. Ob Nuka es ihm je verraten würde? »Wie wäre es, wenn du einfach mal mit mir über alles redest?«, schlug er nach endlosen Minuten quälender Stille vorsichtig vor. »Was auch immer dir zu schaffen macht – du musst es verarbeiten, um endlich damit abschließen zu können.«

»Damit werde ich nie abschließen können«, knurrte Nuka und marschierte an ihm vorbei.

Was für ein sturer Kerl! Tyr wollte ihn am liebsten kräftig durchrütteln, aber das würde ja auch nicht helfen, Nukas Geister zu vertreiben.

Tyr & Nuka

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