Читать книгу Zeugen unerwünscht - Irene Dorfner - Страница 8
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ОглавлениеDrei Wochen später.
„Der sieht nicht gut aus“, sagte der neunundfünfzigjährige Hauptkommissar Hans Hiebler mit Blick auf den Toten, wobei er sich wegen des Gestanks zusätzlich zu seiner Maske die Nase zuhielt. Der Schädel des Opfers war zertrümmert, das Blut hatte sich über den Körper und einen großen Teil der alten Couch ergossen. Die Natur hatte längst damit angefangen, das Opfer langsam aufzulösen. Maden krochen über den Körper, was Hans an einen billigen Horrorfilm erinnerte.
Leo Schwartz kämpfte mit dem Inhalt seines Magens, denn in der Wohnung stank es fürchterlich. Eine Kollegin hatte Mitleid mit dem Fünfundfünfzigjährigen und reichte ihm eine Dose mit einer Paste, die er sich gerne unter die Nase rieb. Sofort ging es ihm besser. An die außergewöhnliche Kleidung des gebürtigen Schwaben hatten sich die Kollegen längst gewöhnt, weshalb niemand etwas zu dem neongrünen T-Shirt mit dem Kopf einer Frau, die niemand kannte, sagte. Allerdings tuschelten einige über den eigentümlichen Mundschutz, denn der glich der Schnauze eines Affen. Leo hatte diesen letzte Woche in München gekauft und fand den Mundschutz sehr lustig, andere rümpften die Nase, denn so etwas gehörte für viele in die Freizeit und nicht zum Job.
„Wie heißt das Opfer?“, wandte sich Leo an Friedrich Fuchs, den Leiter der Spurensicherung.
„Manuel Sosnowski. Zweiunddreißig Jahre alt, ledig, keine Kinder“, brummte Fuchs.
„Wie lange liegt die Leiche schon hier? Wie lange ist die Tat her?“ Leo atmete trotz der Salbe schwer.
„Sicher schon einige Wochen. Wie lange genau erfahren wir nach der Obduktion.“ Fuchs sah nicht auf, sondern machte weiter seine Arbeit. Warum konnten ihn die Kollegen nicht in Ruhe arbeiten lassen und warten, bis der Bericht fertig war? Die Kollegin Struck war als Erste am Tatort und hatte ihn bereits mit Fragen gelöchert, auf die er keine Antwort hatte. Wie auch, wenn er sich die Leiche noch nicht einmal richtig angesehen hatte?
„Lass Fuchs seine Arbeit machen, der ist heute wieder besonders gut gelaunt“, sagte Tatjana Struck, die nach einer Corona-Odyssee in Italien und einer anschließenden Quarantäne endlich wieder zurück war. Leo genoss es, dass alles wieder so war wie vorher und die Aushilfe endlich weg war, denn er mochte keine Veränderungen. „Das ist die Tatwaffe“, zeigte Tatjana auf die kaputte Sektflasche.
„Fingerabdrücke?“
„Das musst du Fuchs fragen.“
„Wer hat die Leiche gefunden?“
„Die Nachbarin von gegenüber hat den Hausmeister informiert. Sie hatte sich über den Gestank beschwert.“
„Dann hat der Hausmeister die Leiche entdeckt und die Polizei informiert?“
„So ist es. Ich habe ihn bereits befragt. Der arme Mann ist völlig fertig, ich habe ihn nach Hause geschickt. Zur Tat selbst kann er nichts sagen, er hat nichts gehört oder gesehen. Er sagte, dass Sosnowski ein ruhiger und angenehmer Mieter war, der nie negativ auffiel. Er hatte die Wohnung seiner Eltern übernommen, nachdem der Vater verstarb und die Mutter kurz darauf ins Pflegeheim kam. Die Rechnungen wurden immer pünktlich gezahlt, es gab nie Beschwerden.“
„Das heißt, dass es noch eine Mutter gibt, der wir die Todesnachricht überbringen müssen?“
„Die Mutter ist laut Aussage des Hausmeisters dement, allerdings gibt es noch eine Schwester. Ihr Name ist Andrea Sosnowski, sie lebt in Burghausen.“
Leo stöhnte. Eine Todesnachricht überbringen zu müssen war der Teil der Arbeit, den er hasste. Aber auch das musste gemacht werden, auch wenn die Wahrheit diesmal besonders grausam war. Eine der beiden, Schwester oder Mutter, mussten den Bruder beziehungsweise den Sohn identifizieren, was noch dazu kam.
Leo und Hans sahen sich in der Wohnung um. Auch sie waren überrascht, dass ein so junger Mann in dieser altbackenen Wohnung lebte. Allerdings gab es nach all den Berufsjahren nicht viel, was sie wirklich schockierte.
„Hier wurde alles durchwühlt“, bemerkte Hans.
„Ja, das sehe ich auch so, auch wenn man sich Mühe gab, es nicht danach aussehen zu lassen. Wurden Fingerabdrücke sichergestellt?“, fragte Leo einen von Fuchs‘ Kollegen.
„Die haben wir. Ob sie vom Opfer oder vom Täter stammen, kann ich noch nicht sagen, dafür müssen Sie die Auswertungen abwarten.“
Leo nickte, damit hatte er gerechnet.
„Laptop? Handy?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Dann spricht alles für einen Raubmord“, sagte Leo.
„Dazu kann ich nichts sagen“, schnauzte der Mann, der sich angesprochen fühlte.
„Ein richtiges Herzchen“, lachte Hans, „der kommt ganz nach Fuchs. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich darauf wetten, dass die beiden verwandt sind.“
„Wer ist der Typ?“
„Christoph Laubinger. Er ist seit einem knappen halben Jahr bei uns. Bis jetzt ist er nicht aufgefallen, aber ich fürchte, dass sich das noch ändert.“
„Hauptsache, er macht gute Arbeit, alles andere ist mir egal. Sprechen wir mit den Nachbarn, vielleicht haben die etwas gesehen oder gehört.“
Die Befragungen ergaben nichts. Die Nachbarn wollten keinen Ärger und interessierten sich offenbar nicht füreinander, was die Kriminalbeamten nicht überraschte. In diesem Haus war es wie überall - man kannte sich vom Wegsehen. Wenn es Ärger gab, hielt man sich lieber zurück und beschwerte sich anonym, da man es sich nicht mit den anderen verscherzen wollte. Für Leo und Hans unverständlich, wenn nicht sogar feige. Aber was konnte man dagegen machen?
Nach den ergebnislosen und ernüchternden Befragungen fuhren Hans und Leo nach Burghausen. Das Ziel war klar – die Schwester des Opfers, die in dem Burghausener Malerbetrieb Specht arbeitete. Hans kannte das Traditionsunternehmen, das auch in Mühldorf eine Filiale hatte.
„Was macht die Schwester?“, fragte Hans, der den Wagen fuhr. Das machte er oft, denn Leo war kein sicherer Fahrer. Außerdem war er nicht von hier, Hans kannte sich sehr viel besser aus. Leo übergab sehr gerne das Steuer, damit hatte er kein Problem, schließlich musste man nicht alles können.
„Sie arbeitet im Büro“, las Leo von seinem Tablet ab, das er, sowie die Kollegen auch, vor drei Wochen vom Chef überreicht bekam. Anfangs tat er sich sehr schwer damit und lehnte dieses technische Gerät ab, aber der Chef bestand darauf, dass er mit dem Tablet arbeitete. Nachdem er von der jungen Kollegin Diana Nußbaumer eine Einweisung bekam, die beide sehr viel Nerven gekostet hatte, kam er inzwischen erstaunlich gut damit zurecht. Je länger er damit arbeitete, desto mehr mochte er die Vorteile, die sich daraus ergaben – allem voran die viel größeren Buchstaben, mit denen er auf dem Handy mehr und mehr seine Probleme hatte. Viele Menschen in seinem Umfeld bemerkten die zunehmende Sehschwäche, die Leo aber vehement abstritt, er war ja schließlich nicht alt!
„Hast du einen anderen Mundschutz dabei? Mit dem Affenmaul eine Todesnachricht zu überbringen wäre lächerlich.“
„Selbstverständlich! Schließlich weiß ich, was sich gehört.“ Leo zog einen neutralen Mundschutz aus dem Handschuhfach.
„Das glaube ich kaum“, lachte Hans. Er fand den neuen Mundschutz lächerlich und war gespannt darauf, wie der Chef darauf reagierte, wenn er Wind davon bekam.
Die achtunddreißigjährige Andrea Sosnowski saß an ihrem Schreibtisch und war in Unterlagen vertieft. Frau Sosnowski blickte noch nicht einmal auf, als Leo anklopfte, die Tür öffnete und die beiden Kriminalkommissare eintraten. Die Einrichtung war zweckmäßig und sehr kühl. Hier gab es nicht eine Pflanze oder irgendeinen persönlichen Gegenstand, was beiden Polizisten sofort auffiel.
„Frau Sosnowski? Hallo?“, sagte Leo sehr laut, da sie nicht hörte.
„Ja?“
„Wir sind von der Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Schwartz, das ist mein Kollege Hiebler.“ Beide zeigten ihre Ausweise vor.
„Polizei?“ Die Frau blickte auf und sah die beiden herablassend an. „Ich habe wenig Zeit. Was kann ich für Sie tun?“
„Manuel Sosnowski ist Ihr Bruder?“
Sie nickte nur und sah dabei auf ihre Armbanduhr. Dass die Polizei hier war, erschreckte sie nicht, auch das fiel den Kriminalbeamten sofort auf.
„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Bruder tot aufgefunden haben.“
„Das ist tragisch, aber wohl nicht mehr zu ändern. Was wollen Sie von mir?“ Wieder der Blick auf die Uhr, was Leo sehr sauer aufstieß.
„Haben Sie mich eigentlich verstanden?“ Hans hatte die Todesnachricht sehr vorsichtig und mit ruhigem Ton vorgebracht. Warum reagierte sie so? Stand sie womöglich unter Schock?
„Selbstverständlich habe ich jedes Wort verstanden. Mein Bruder ist tot. Ich verstehe nicht, was Sie von mir erwarten. Muss ich jetzt in Tränen ausbrechen oder hysterisch werden?“ Sie lehnte sich zurück und sah Hans in die Augen. Er erschrak, denn von Trauer oder einem Schock war nicht die geringste Spur zu erkennen.
„Ihre Reaktion ist nicht normal“, sagte Leo und verschränkte die Arme, da er von der Frau angewidert war. Menschliche Kälte war ihm nicht fremd, aber diese Frau war noch eine Spur härter drauf. „Macht Ihnen der Tod Ihres Bruders überhaupt nichts aus?“
„Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass wir uns nicht nahe standen, dann ist das stark untertrieben. Manuel und ich haben uns gehasst. Er war der Sohn, den sich meine Eltern gewünscht haben, während ich nur das Mädchen war. Ich war innerhalb der Familie nur geduldet. Manuel hat mich geärgert, wo es nur ging und hat seine Machtstellung voll ausgenutzt. Während er eine Dummheit nach der anderen anstellte, musste ich sie ausbaden, da er mir allein die Schuld zuschob. Meine Eltern hatten ihm alles geglaubt, weshalb er zum Lügner und Betrüger geworden war. Ich konnte mich noch so sehr anstrengen, meine Leistungen wurden nie gewürdigt. Irgendwann hatte ich genug und bin gegangen. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Wie ist er ums Leben gekommen?“
„Er wurde ermordet.“
„Vielleicht hat er es diesmal übertrieben und ist an den Falschen geraten. Sind wir fertig? Kann ich endlich weiterarbeiten? Wie Sie sehen, ersticke ich in Arbeit und habe nur wenig Zeit. Wegen Corona haben die Leute viel Zeit für Renovierungen, wir kommen kaum hinterher. Dazu haben zwei Kolleginnen Urlaub und eine ist krank. Alles bleibt wieder nur an mir hängen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber mein Bruder geht mich nichts an. Wir hatten vor sieben Jahren den letzten Kontakt. Manuel hatte mich telefonisch informiert, als unser Vater starb, aber auch das hatte mich nicht interessiert. Auf die Teilnahme an der Beerdigung habe ich gerne verzichtet. Sie können mich deswegen verurteilen, das ist mir egal. Manuel war mein Bruder, aber nur auf dem Papier. Wir kannten uns nicht, wir waren uns fremd. Sie sehen also, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Soweit ich informiert bin, lebt meine Mutter noch. Gehen Sie zu ihr, sie kannte ihn sehr viel besser.“
„Das werden wir tun. Allerdings haben wir die Information, dass Ihre Mutter dement ist. Wenn dem so ist, wird sie uns keine große Hilfe sein.“
„Dann hat die alte Krähe auf ihre alten Tage echt Glück gehabt. Sie braucht sich nicht mit einem schlechten Gewissen herumplagen, während ich die Geister der Vergangenheit einfach nicht los werde.“ Den letzten Satz sprach sie mit zitternder Stimme.
Leo und Hans sahen die Traurigkeit in ihren Augen.
„Sie sind die nächste Verwandte. Wir müssen Sie bitten, Ihren Bruder zu identifizieren.“
Die Frau wurde sichtlich sauer.
„Warum ich? Gehen Sie zu meiner Mutter! Ich glaube nicht, dass sie wirklich so krank ist, wie sie vorgibt. Sie war schon immer krank, an einen anderen Zustand kann ich mich nicht erinnern. Und ich spreche von eingebildeten Krankheiten, mit denen sie sich vor jeglicher Arbeit drücken konnte und die ich dann übernehmen musste. Von ihrem Willen, den sie damit durchgesetzt hatte, will ich gar nicht sprechen.“ Wieder diese Bitterkeit. „Haben Sie keinen Ausweis oder Fotos von Manuel gefunden, mit denen sie seine Identität klären könnten? Ich will ihn nicht noch einmal sehen!“
„Ihr Bruder lag einige Wochen tot in der Wohnung.“
Andrea Sosnowski stöhnte.
„Ich verstehe, von ihm ist also nicht mehr viel übrig. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, um Ihnen meinen guten Willen zu zeigen: Sollte meine Mutter tatsächlich nicht mehr in der Lage sein, ihren Prinzen zu identifizieren, geben Sie mir Bescheid, dann werde ich das übernehmen. Aber Sie versprechen mir, dass Sie sich nicht von ihr verarschen lassen!“ Andrea Sosnowski sah Leo direkt in die Augen.
„Machen wir.“
„Die ist ja echt schräg drauf“, sagte Leo, als sie zu ihrem Wagen gingen. „Was muss passieren, dass man so verbittert reagiert?“
„Ich möchte es mir nicht einmal vorstellen“, sagte Hans, dem die Frau echt leidtat.
„Ich bin gespannt, wie die Mutter drauf ist.“
Andrea Sosnowski stand am Fenster und sah den Kriminalbeamten zu, wie sie vom Hof fuhren. Sie lächelte bitter, als sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte.
„Was war denn los?“, wollte ihr Chef Markus Specht wissen. Er hatte nur einige Fetzen des Gesprächs mitbekommen und war neugierig geworden. Für einen kurzen Moment wollte er einfach eintreten und sich an dem Gespräch beteiligen, entschied sich dann aber dagegen. Wenn ihn Andrea gebraucht hätte, hätte sie ihn gerufen. Das tat sie aber nicht.
„Nur eine Zeugenbefragung, mach dir keine Sorgen“, lächelte sie. Warum sollte sie Markus vom Tod ihres Bruders unterrichten? Die beiden kannten sich nicht, außerdem gingen ihn ihre Familienverhältnisse nichts an. Ein einziges Mal hatte er sie nach der Familie gefragt und sie sagte ihm, dass alle tot seien. Dabei sollte es bleiben, denn mit ihrer Familie war sie bis auf die Knochen blamiert. Sie stand auf und wollte ihn umarmen, aber Specht wies sie zurück.
„Wir müssen vorsichtig sein, meine Frau kommt heute vorbei.“
„Immer wieder deine Frau! Wann sprichst du endlich mit ihr?“
„Bald, mein Engel, sehr bald. Das habe ich dir versprochen und du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Schmolle nicht.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und kniff ihr sanft in den Po. Beide lachten und Specht war erleichtert, dass er das leidige Thema endlich wieder vom Tisch hatte. Seit Wochen lag ihm Andrea in den Ohren und er versprach ihr alles, was sie hören wollte. Er dachte nicht daran, sich von seiner Frau zu trennen, doch nicht wegen Andrea! Sobald er einen adäquaten Ersatz für sie gefunden hatte, bekam sie die Kündigung und damit war er das Problem endlich los. Aber noch brauchte er sie und musste alles dafür tun, sie hinzuhalten. Die Auftragsbücher quollen über und es gab Krankmeldungen, die Andrea gut ausbalancierte. Er hatte kein Mitleid mit ihr, auch wenn er sehr wohl bemerkte, dass sie an der Arbeit fast erstickte. In seinen Augen wurde sie gut dafür bezahlt. Wenn sie freiwillig Überstunden machte, konnte ihm das nur recht sein. So musste er sich nicht um Hilfe bemühen, die ihn nur unnötig Geld kostete.
Der Wagen seiner Frau fuhr vor. Er ließ Andrea los und verließ das Büro.
Andrea Sosnowski stand erneut am Fenster und musste mit ansehen, wie sich die beiden grüßten und vertraut miteinander umgingen. Markus‘ Frau war eine Schönheit und kam aus gutem Hause, aber sie war über zwanzig Jahre älter als sie und hatte kein Interesse an der Firma. Die Frau kannte sich nicht aus und unterstützte ihren Mann nicht so, wie sie es tat. Markus musste sich endlich entscheiden, wie es mit ihnen weiterging. Andrea gab ihm noch zwei Wochen. Sollte er sich bis dahin nicht öffentlich zu ihr bekennen, würde er das bitter bereuen.
An ihren toten Bruder, den sie abgrundtief gehasst hatte, verschwendete sie keinen Gedanken. Er war tot und das war gut so.
Das Pflegeheim in Emmerting war von außen nicht spektakulär, dafür aber von innen. Man spürte den Hauch von Luxus, der durch die Gänge wehte. Die Pflegerinnen waren freundlich und die Patienten wirkten ausgeglichen und aufgeräumt. Leo hatte trotzdem ein beklemmendes Gefühl, denn in all den Jahren hatte er eine Abneigung gegen Alten- und Pflegeheime entwickelt. Wenn er es irgendwie verhindern könnte, wollte er um nichts in der Welt in einem solchen Heim landen. Hans dachte anders. Wenn er gesundheitlich nicht mehr Lage wäre, sich selbst zu versorgen, waren Heime eine tolle Einrichtung. Aber noch war es nicht so weit, auch wenn er im nächsten Jahr sechzig Jahre alt wurde. Eine Zahl, die er weit von sich schob, auch wenn sie täglich immer näher kam.
„Wie kann ich helfen?“, fragte die junge Frau, auf deren Namensschild der Name Betti zu lesen war.
„Wir möchten mit Frau Sosnowski sprechen. Ist das möglich?“
„Sie können es gerne versuchen, aber ich bezweifle, dass sie Sie verstehen wird.“
„Es ist uns bekannt, dass sie dement ist. Stimmt das?“
„Ja, das ist richtig. Gibt es schlechte Nachrichten?“
„Es geht um ihren Sohn, er ist tot.“
Betti war erschrocken. Sie kannte Manuel Sosnowski und war begeistert, wie rührend sich der Sohn um die Mutter kümmerte, während sich viele andere Familienangehörige über Jahre nicht blicken ließen.
„Manuel Sosnowski hat seine Mutter nicht nur regelmäßig besucht, er hat ihr auch den Aufenthalt in diesem Pflegeheim ermöglicht.“
„Er hat sie finanziell unterstützt?“
„Ja. Es wird Frau Sosnowski das Herz brechen, wenn sie von Tod ihres Sohnes erfährt. Wenn Sie erlauben, würden wir uns um die Todesnachricht kümmern. Wir haben eine Psychologin, die wir in solchen Fällen hinzuziehen.“
„Sehr gerne!“ Leo war begeistert. Die erneute Todesnachricht konnten sie sich sparen.
„Kommen Sie mit, Frau Sosnowski sitzt auf der Terrasse.“ Leo und Hans folgten der Frau. Nachdem außer Betti niemand einen Mundschutz trug, waren sie die einzigen, die einen auf hatten. Hans warf nochmals einen prüfenden Blick zu Leo und war erleichtert. Zum Glück hatte Leo auch diesmal an ein neutrales Modell gedacht, denn das mit dem Affenmaul hätte die Bewohner hier nur unnötig erschreckt. Das Tragen eines Mundschutzes war für die beiden Kriminalbeamten selbstverständlich, denn sie wollten nicht nur sich, sondern vor allem die Bewohner schützen, die außer dem Personal ausschließlich aus alten, kranken Menschen bestanden.
„Frau Sosnowski? Besuch für Sie!“ Betti war sehr freundlich, aber die alte Frau sah sie nur abschätzend an und verzog dann das Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie die junge Frau nicht mochte.
Leo stellte sich und seinen Kollegen vor. Er war gespannt auf ihre Reaktion.
„Polizei?“ Sie starrte Leo an.
„Wir sind hier wegen Ihres Sohnes.“
„Der Manuel ist ein guter Bub. Wenn ich ihn nicht hätte. Wann kommt er? Wo habe ich denn meine… Betti! Wo ist diese nichtsnutzige Person?“ Frau Sosnowski schimpfte und schien irgendetwas zu suchen.
Hans und Leo hatten keine Ahnung, was die Frau suchte. Ob sie Betti rufen sollten?
Frau Sosnowski lächelte, als sie eine alte Uhr unter ihrer Decke hervorzog. Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte. Die Kriminalbeamten zögerten. Sollten sie gehen? Hans wollte es zumindest nochmal versuchen.
„Wie geht es Ihnen, Frau Sosnowski?“, sagte er und setzte sich ihr gegenüber. Er zog seinen Mundschutz ab, lächelte und sah ihr in die kleinen, braunen Augen.
Jetzt lächelte auch sie.
„Da bist du ja, Manuel. Ich habe auf dich gewartet.“ Sie reichte Hans die Hand und er nahm sie. Er spürte den Druck und erwiderte ihn vorsichtig.
„Hallo Mama“, versuchte er sein Glück. „Wie geht es dir?“
„Hier arbeiten nur Ausländer-Weiber, die mein Geld klauen wollen“, sagte sie leise, nachdem sie sich kurz umgesehen hatte.
„Das glaube ich nicht. Betti ist doch eine sehr nette Person.“
„Nein, das ist sie nicht! Die Betti kommt aus dem Osten, das höre ich aus ihrem Dialekt. Sie will nur mein Geld und meinen Schmuck klauen. Die Uhr habe ich vor ihr versteckt, die hat sie nicht gefunden. Nein, mein Junge, Ausländer-Weiber sind alle gleich. Die sind zu allen lieb und nett, und dann stehlen sie alles, was sie zwischen ihre gierigen Finger bekommen, sobald man ihnen den Rücken kehrt. Du bist ein guter Bub, du darfst dich von denen nicht verarschen lassen. Frauen sind alle schlecht, vor allem die aus dem Osten. Du musst immer die Augen offen halten.“
„Das werde ich.“
Dann erzählte Frau Sosnowski von der Flucht 1945 aus Schlesien, die ihre Mutter mit der Großmutter durchstehen musste. Sie berichtete über jedes Detail, das sie nicht selbst erlebte, was sich aber so anhörte. Es schien, als hätte sie die Erzählungen der damaligen Flucht verinnerlicht und hatte die Stelle ihrer Mutter übernommen. Der Ton war jämmerlich und sie fror, als sie von der Kälte und den Entbehrungen erzählte. Die Russen kamen in ihrer Geschichte nicht gut weg. Sie erzählte Gräueltaten, die Leo und Hans aus den Geschichtsbüchern kannten. Sie beide wussten, das die nicht nur die Russen, sondern alle Soldaten jeder Nationalität betrafen. Die Zeiten waren zum Glück schon lange vorbei, aber nicht für Frau Sosnowski, auch wenn sie sie nicht selbst erlebt hatte. Dann begann sie, auf alle Osteuropäer zu schimpfen. Es fielen die übelsten Bezeichnungen, von denen die Kriminalbeamten einige noch nie gehört hatten.
Leo verzog das Gesicht. Die Alte war ja echt die Härte. Je mehr Zeit verging, desto unwohler fühlte er sich in ihrer Gegenwart. Er signalisierte Hans, dass er gehen wollte.
„Ich soll dich von Andrea grüßen“, sagte Hans lächelnd. Er war gespannt, wie sie auf den Namen ihrer Tochter reagieren würde.
„Die Andrea ist auch schlecht, halt dich von ihr fern! Ihr Vater war ein Lügner und Betrüger. Erst als ich merkte, dass ich in Umständen war, hat er mir gesagt, dass er in Rumänien geboren wurde. Einer aus dem Ostblock! Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte ich mich nie mit Josef eingelassen. Hinterhältig und falsch, so sind die Menschen aus dem Osten. Zum Glück habe ich sofort reagiert und habe dann deinen Vater kennengelernt. So ein netter, fürsorglicher Mann! Er hatte darauf bestanden, dass wir Andrea zu uns nehmen, obwohl sie bei meiner Mutter sehr gut aufgehoben war. Dein Vater war ein braver Mann, so wie du.“ Sie machte eine kurze Pause. „Nein, vom Osten kommt nichts Gescheites, das musst du dir merken, mein Junge! Wenn du je mit einer Frau aus dem Osten auftauchst, bist du nicht mehr mein Sohn!“
„Du bist sehr hart, Mama. Andrea ist deine Tochter, so wie ich dein Sohn bin.“
„Die Andrea ist von vorn bis hinten verlogen und verschlagen, der kann man nicht trauen. Das sind die Gene ihres Vaters! Niemand kann seine Herkunft verleugnen. Irgendwann schlägt die durch und der wahre Charakter kommt zum Vorschein. Außerdem hasst mich die Andrea. Sie hat mich noch nie besucht. Ich weiß, dass sie nur auf meinen Tod wartet und dann reißt sie sich alles unter den Nagel, was nicht niet- und nagelfest ist. Du musst aufpassen, Manuel! Ich möchte, dass du alles bekommst. Dein Vater und ich waren beim Notar, das haben wir geregelt. Aber das andere bekommt sie auch nicht, das habe ich in Sicherheit gebracht. Du weißt, wo unser Versteck ist?“
„Ja sicher. Weißt du das auch noch?“
„Natürlich! Unsere Laube habe ich dir längst überschrieben, dort findest du alles. Kein Wort zu niemandem! Das ist unser kleines Geheimnis“, flüsterte sie ihm zu und sah dabei Leo argwöhnisch an, dem sie auch nicht traute. Sie hatte ihn reden hören und wusste daher, dass er nicht von hier war, also war er auch ein Feind. Hans hatte die Blicke bemerkt.
„Der Leo ist ein guter Freund“, sagte Hans und lächelte.
„Du bist viel zu gutgläubig. Du musst aufmerksamer werden, sonst wird man dir alles wegnehmen.“
Frau Sosnowski zog ihre Hand zurück und sagte kein Wort mehr. So sehr sich Hans auch bemühte, war aus ihr nicht ein einziges Wort mehr herauszubekommen. Jetzt war es höchste Zeit, endlich zu gehen.
„Das brauche ich nicht nochmal!“ Leo war erleichtert, als sie die Tür hinter sich schließen konnten.
„Stell dich nicht so an, Leo! Die Frau ist dement und plappert einfach darauf los. Das kann man nicht ernst nehmen.“
„Ausländerinnen allgemein und vor allem die aus dem Osten mag sie nicht, und ihre eigene Tochter auch nicht. Habe ich das richtig verstanden, dass Tochter und Sohn unterschiedliche Väter haben?“
„Das habe ich auch so verstanden.“
„Ob das für unseren Fall wichtig ist?“
„Keine Ahnung. Lass uns nach diesem Mann suchen. Außerdem müssen wir überprüfen, ob es diese Laube, von der sie sprach, wirklich gibt.“