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Freising/Bayern am 9. März

Das Telefongespräch zwischen Mutter und Sohn eskalierte. Dass es so weit kommen würde, lag schon seit Tagen in der Luft.

„Die Oma hat zur Taufe ihres Enkels gefälligst zu erscheinen!“, schrie der zweiundvierzigjährige Bernd Nagel ins Telefon.

Martha Nagel hatte keine Kraft mehr. Sie hatte sich eine Ausrede einfallen lassen, die ihr Sohn aber nicht akzeptieren wollte. Die Knieschmerzen und die damit verbundenen Schmerzen beim Gehen nahm er ihr nicht ab. Trotzdem bot er an, ihr einen Rollstuhl besorgen zu wollen, was sie strikt ablehnte. Martha Nagel konnte an dieser Taufe nicht teilnehmen und das hatte einen ganz anderen Grund. Sie schämte sich in Grund und Boden, denn sie hatte kein Geschenk für ihren ersten Enkel. Schon das Weihnachtsgeschenk für den Kleinen war sehr dürftig ausgefallen, wofür sie immer noch im Boden versinken könnte. Sie hatte dem kleinen Patrick die alte Uhr ihres Mannes geschenkt, womit er nichts anfangen konnte. Was hätte sie ihm sonst schenken sollen? Sie war pleite, die Rechnungen und Mahnungen stapelten sich seit Monaten. Die erste Zwangsvollstreckung war gestern eingetroffen, am Montag würde man ihr alles wegpfänden, was noch irgendeinen Wert darstellte. Die Möbel würden vielleicht einiges bringen, aber das reichte niemals zur Begleichung aller Außenstände. Und zu allem Übel kam jetzt auch noch diese überraschende Einladung zur Taufe, die bereits in drei Wochen stattfinden sollte. Ihr Sohn wollte die Feier unbedingt hier in diesem Haus abhalten. Wie sollte die Feier denn aussehen, wenn der Großteil der Möbel fehlte und auf allen anderen ein Pfandsiegel klebte? Nein, das konnte sie nicht zulassen, in diesem Haus konnte nicht gefeiert werden. Selbst wenn die Taufe anderswo stattfand, konnte sie nicht daran teilnehmen, so sehr sie es auch wollte. Sollte sie als ehemals wohlhabende Frau ohne etwas in der Hand auftauchen? Nein, das traute sie sich nicht. Die vielen vorwurfsvollen Blicke würde sie nicht ertragen. Es ging nicht. Sie schaffte es nicht, zu dieser Familienfeier aufzutauchen, wo sie jeder kannte und wo man ihr viele Fragen stellen würde.

Bernd war außer sich und machte seiner Mutter die heftigsten Vorwürfe. Martha war kurz davor, ihrem Sohn alles zu beichten, aber dazu kam es nicht; er hatte nach seinem Redeschwall einfach aufgelegt.

Noch lange stand sie mit ihrem Handy in der Hand im dunklen Wohnzimmer. Der Strom wurde vor fünf Tagen abgeklemmt, die Heizung lief aber noch. Wie lange die noch funktionieren würde, stand in den Sternen. Der Telefonanbieter hatte die Leitung schon lange gekappt und sie war gezwungen, mit dem Handy zu telefonieren. Wie lange ihr das noch möglich war? Sie wusste es nicht. Irgendwann war sie komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Seufzend trat sie ans Fenster und sah in den riesigen Garten. Wie viele herrliche Stunden sie dort verbracht hatte, konnte sie nicht zählen. Aber diese Tage waren längst vorbei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihr das Haus wegnahm. Das Knurren ihres Magens durchschnitt die Stille. Wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, wusste sie nicht mehr. An das Gefühl des quälenden Hungers hatte sie sich gewöhnt und empfand es nicht mehr als schlimm. Sie hatte stark abgenommen und sie schämte sich ihres Spiegelbildes. Sie hätte längst Unterstützung beantragen sollen, aber auch dafür schämte sie sich. Wie sollte sie Nachbarn, Freunden und Familienangehörigen unter die Augen treten, wenn alle wussten, dass sie pleite war? Man würde sich überall das Maul darüber zerreißen, dass sie das Vermögen verschleudert hatte, was ja auch stimmte. Wie konnte es nur so weit kommen? Zeit ihres Lebens hatte sie immer Geld gehabt, darüber hatte sie sich nie Sorgen machen müssen. Sie stammte aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie und heiratete den Sohn des Konkurrenzunternehmens, was beide Familien noch reicher machte. Sie bekamen ein Kind und lebten in einem großen Haus. Alles lief prima. Bis vor fünf Jahren ihr Mann plötzlich verstarb und sie zum ersten Mal in ihrem Leben alleine war. Bernd war schon lange selbständig und lebte sein eigenes Leben, sie wollte ihn nicht belästigen. Ihr Sohn hatte das Familienunternehmen übernommen und trug damit eine große Verantwortung, die er mit Bravour meisterte. Sie war stolz auf ihn und wollte sich ihm nicht aufdrängen. Sie war allein. Sie wusste nichts mit sich anzufangen und lebte in den Tag hinein. Sie bemerkte nicht, dass sie immer mehr vereinsamte und kaum mehr aus dem Haus ging. Sie war unglücklich und hatte keine Perspektive mehr. Damals hatte sie sich bereits aufgegeben und wartete nur darauf, bis sie endlich auch sterben durfte.

Dann trat plötzlich dieser Mann wie aus dem Nichts in ihr Leben, der sie aus ihrem Schneckenhaus herausholte: Herbert Braunbach. Er war charmant, höflich und schmeichelte ihr. Sie hatte wieder das Gefühl zu leben und genoss jede Sekunde an seiner Seite. Es tat ihr gut, sich geborgen und begehrenswert zu fühlen. Sie war wieder jung, beinahe wie ein verliebter Teenager. Bertl riss sie aus ihrer Trauer und zeigte ihr die Welt, in der er sich gut auszukennen schien. Sie bereisten die schönsten Orte, speisten in den teuersten Lokalen und leisteten sich sogar eine Kreuzfahrt in einer Luxuskabine, von der sie immer geträumt hatte. Sie erlebte Dinge, die sie bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. Sie merkte zu spät, dass dieser Mann sie nur ausnutzte und ihr jeden Cent aus der Tasche zog, denn letzten Endes war sie diejenige, die jede einzelne Rechnung bezahlte. Als das Bargeld zur Neige ging, verkaufte sie die Goldmünzen, die ihr Mann für schlechte Zeiten zurückgelegt hatte. Nachdem auch dieses Geld weg war, bot sich Bertl an, ihre Schmuckstücke zu verkaufen, was aber nie lange reichte. Bertl war sehr geschickt darin, ihr alles plausibel zu erklären. Warum hätte sie die Schmuckstücke auch nicht verkaufen sollen? Sie trug sie sowieso nicht, wodurch sie nur im Safe lagen. Dass die Stücke bei weitem nicht das einbrachten, was sie eigentlich wert waren, schockierte sie zwar, aber Bertl beseitigte ihre Bedenken rasch und brachte sie auf andere Gedanken. Die Zeit mit ihm verging wie im Flug, alles war wie im Traum. Dass sie ihm finanziell mit einer Zahlung von dreihunderttausend Euro unter die Arme gegriffen hatte, war für sie keine große Sache. Bertl hatte ihr eine rührselige Geschichte einer erkrankten Nichte erzählt, die nur mit einer Spezialbehandlung in den USA wieder gesund werden konnte. Es stand für sie außer Frage, ihm zu helfen und sie hatte ihm das Geld einfach so überreicht, schließlich waren die beiden ein Paar und sprachen sogar von Hochzeit. Hätte sie als potentielles Familienmitglied etwa nicht helfen sollen? Sie sah es als ihre Pflicht an und Bertl war ihr so unendlich dankbar gewesen. Immer wieder beteuerte er, ihr alles zurückzuzahlen, wenn erst die Gelder frei werden würden, die er angelegt hatte. Wie töricht, naiv und dumm sie doch mit ihren vierundsechzig Jahren gewesen war! Als das Geld, die Münzen und die Schmuckstücke weg waren, verschwand auch Bertl. Tagelang hatte sie versucht, ihn zu erreichen, denn die Rechnungen stapelten sich und die Gläubiger rannten ihr die Türe ein. Anfangs war sie noch guter Dinge und vertraute darauf, dass Bertl ihr irgendwie helfen würde. Irgendwann wachte sie auf. Die Telefonnummern, die sie von ihm hatte, existierten plötzlich nicht mehr. In dem Haus, das angeblich ihm gehörte und welches er in Wahrheit nur gemietet hatte, hatte sie ihn nicht mehr angetroffen. Niemand wusste, wo er war, er war wie vom Erdboden verschluckt. Bertls Vermieter war stinksauer, denn auch ihn ließ Bertl auf einem riesigen Schuldenberg einfach sitzen.

Als sie endlich begriff, dass Bertl sie gelinkt hatte, war alles zu spät. Sie hätte ihn anzeigen können, aber was hätte das gebracht? Er hätte alles abgestritten, schließlich hatte sie nichts Schriftliches in Händen. Und ob Herbert Braunbach überhaupt sein richtiger Name war, wusste sie auch nicht. Das war jetzt alles egal. Sie hatte realisiert, dass der Mann sie ausgenommen hatte. Jetzt war sie pleite und obendrauf auch noch sehr hoch verschuldet. Ein Umstand, den sie noch niemals vorher erlebt hatte und der unerträglich für sie war. Sie verkaufte die letzten verbliebenen Schmuckstücke, die nicht viel wert waren. Dann waren ihre Handtaschen, Kleidungsstücke und Schuhe dran, durch deren Verkäufe sie einige Monate irgendwie überleben konnte. Aber diese Quelle war seit Wochen versiegt. Sie verkaufte ihren alten Wagen, an dem sie sehr hing. Sie bekam ihn seinerzeit von ihrem Mann geschenkt, was damals eine Sensation gewesen war. Stolz hatten sie ihn überall gezeigt und dafür anerkennende und neidische Blicke geerntet. Jetzt war auch dieses Überbleibsel aus guten Tagen weg. Der Wagen brachte nicht viel. Trotzdem war sie froh um die paar hundert Euro, die ihr kurzfristig über die Runden halfen. Dann hatte sie nichts mehr, das sie verkaufen konnte. Sie besaß nur noch die Kette, die Bertl ihr geschenkt hatte, und die war nichts wert. Die Frau hinterm Tresen beim Gold- und Silberankauf, die sie inzwischen gut kannte, gab ihr die Kette mit einem mitleidigen Blick wieder zurück. Gerade mal sieben Euro wollte sie ihr dafür geben, da lediglich die dünne Kette aus echtem Silber war, das Amulett war aus Edelstahl. Sogar hiermit hatte Bertl sie geblendet. In ihrer Verzweiflung hatte sie erneut versucht, eine weitere Hypothek aufs Haus aufzunehmen, aber das wurde ihr verwehrt. Der Bankangestellte Kronberger, der sie seit Jahren betreute, hatte sie einfach abgewimmelt. Dieses Gefühl war schrecklich gewesen. Jetzt war sie arm. Und zwar so sehr, dass sie es sich nicht mehr leisten konnte, ihrem Enkel ein Geschenk zu machen, von der Feier in ihrem Haus ganz zu schweigen. Ihr Sohn war wütend und enttäuscht, was sie verstehen konnte. Ob er ihr jemals verzeihen konnte, wenn er die ganze Wahrheit erfuhr? Würde sie das überhaupt ertragen können?

Sie weinte bittere Tränen, denn jetzt wusste sie, dass sie am Ende angekommen war. Es war Zeit zu handeln. Schon seit Wochen machte sie sich Gedanken darüber, wie sie ihrem armseligen Leben ein Ende setzen konnte, denn so wollte und konnte sie nicht weiterleben. Eine Überdosis Schlaftabletten wäre die einfachste Lösung, aber dafür fehlte ihr schlichtweg das Geld. In ihrem Geldbeutel waren nur noch wenige Cent. Sie fand eine andere Lösung. Eine, die kein Geld kostete.

Wie in Trance ging sie auf den Dachboden, knüpfte sich einen Strick und stellte sich den alten, klapprigen Stuhl so vors Dachfenster, dass sie den Himmel sehen konnte, der heute nach den vielen tristen Wochen an diesem sonnigen Tag besonders blau war. Mit diesem letzten Blick in die Unendlichkeit des Himmels wollte sie sterben. Sie weinte nicht mehr. Ihr Entschluss stand fest und sie freute sich sogar darauf, dass das Elend und die Scham endlich ein Ende hatten. Sie stieg auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und lächelte.

Nur ein Schritt und dann war alles vorbei. Sie zitterte, aber sie war entschlossen, ihr Vorhaben umzusetzen. Nur ein einziger, kleiner Schritt. Mit all ihrem Mut und mit dem Blick auf diesen wunderschönen Himmel trat sie nach vorn. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Sohn Bernd.

Tödliche Rendite

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