Читать книгу Tödliche Rendite - Irene Dorfner - Страница 7

2.

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Bernd Nagel ahnte nicht, was sich gerade in seinem Elternhaus abspielte. Er war wütend aus dem Haus gegangen, er brauchte dringend frische Luft. Seine Freundin Eva rief ihm hinterher, aber er achtete nicht darauf. So wütend wollte er nicht mit ihr sprechen. Was war nur los mit seiner Mutter? Wie oft er sich in den letzten Monaten über sie geärgert hatte, konnte er nicht mehr zählen. Sie hatte sich von dem einen auf den anderen Tag völlig verändert, nachdem sie sich nach dem Tod des Vaters völlig zurückgezogen hatte. Ja, er hätte sich mehr um sie kümmern müssen, aber dafür hatte er keine Zeit gehabt. Die Firma nahm ihn völlig in Beschlag. Er arbeitete fast rund um die Uhr, schließlich war er nicht nur für sich selbst, sondern für viele Mitarbeiter verantwortlich. Außerdem trat kurz nach dem Tod seines Vaters seine jetzige Partnerin Eva in sein Leben – die Liebe seines Lebens und die Mutter seines Kindes. War es nicht verständlich, dass er die wenige freie Zeit mit ihr verbringen wollte? Für eine Hochzeit war bisher noch keine Zeit gewesen, die planten die beiden, zur Überraschung der Gäste, mit der Taufe zusammenzulegen. Wie kleine Kinder hatten sie sich die Gesichter aller vorgestellt, wenn sie begreifen würden, dass es neben der Taufe auch noch eine Trauung gäbe. Vor allem für Bernd wäre es sehr schön gewesen, die Feier im engsten Familien- und Freundeskreis in seinem Elternhaus abhalten zu können, da er sich dort nicht nur sehr wohl fühlte, sondern sich auch seinem verstorbenen Vater nahe gefühlt hätte. Aber dies erlaubte seine Mutter nicht und erfand irgendwelche Ausreden, die jeder Logik entbehrten. Was sollte die Abfuhr, die auch die Teilnahme an der Taufe betraf? Bernd verstand die Welt nicht mehr. Seine Mutter hatte sich sehr verändert. Seit Monaten hatte sie kaum noch Zeit für ihn, ständig war sie unterwegs. Früher hatten sie eine sehr enge Bindung gehabt, was schon lange nicht mehr der Fall war. Sie hatten sich entfremdet, woran auch er eine Mitschuld trug. Jede freie Sekunde hatte er lieber mit seiner Eva, als mit seiner Mutter verbracht. Damals schien ihm das verständlich, jetzt machte er sich Vorwürfe. Aber seine Mutter schien damit kein Problem gehabt zu haben. Die wenigen Male, wo sie sich sahen, machte sie keinen unglücklichen Eindruck, denn sie schien geradezu aufzublühen und glücklich zu sein. Bernd Nagel hatte schon lange das Gefühl, dass ein neuer Partner an der Seite seiner Mutter der Grund dafür sein könnte, was ihm auch von anderen Seiten zugetragen wurde. Aber er wollte das nicht hören. Für ihn war die Vorstellung, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab, einfach nicht möglich.

Bernd warf wütend Steine in den Inn. Dass er dabei beobachtet wurde, war ihm gleichgültig. Es war ihm schon immer egal gewesen, was andere über ihn dachten. Ihm machte das für ihn rätselhafte Verhalten seiner Mutter zu schaffen. Warum hatte sie sich vorhin am Telefon eine solch fadenscheinige Ausrede ausgedacht, um nicht an der Taufe teilnehmen zu können? Lag es an Eva? Mochte seine Mutter sie nicht? Die beiden waren sich nur wenige Male begegnet und da schien alles in Ordnung zu sein. Gut, die letzten beiden Treffen waren sehr kurz gewesen, da seine Mutter keine Zeit hatte. Das eine Mal im Oktober letzten Jahres hatte er seine Mutter zum Essen eingeladen, das andere Mal war sie im November im Krankenhaus erschienen, um ihren Enkel zu sehen. Alles war prima gelaufen. Seine Mutter hatte sich so verhalten, wie er es von ihr gewohnt war. Sie war warmherzig und strahlte, als sie den Enkel im Arm hielt. Was war geschehen, dass sie sich so zurückzog und eine Entschuldigung vorschob, die er geradezu lächerlich fand. Wenn sie wirklich so schlecht zu Fuß war, war das Problem mit einem Rollstuhl doch ganz einfach zu beseitigen. Aber das wollte seine Mutter nicht. Warum? Gab es am Ende doch einen neuen Partner, der sie so sehr beeinflusste, dass sie sich von ihm und seiner kleinen Familie zurückzog? Hatte er nicht vor Wochen einen Film ansehen müssen, in dem genau das geschehen war?

Bernd beruhigte sich langsam wieder. Die frische Luft, die Bewegung und die Ruhe taten ihm gut. Seine Gedanken wurden klarer und er fasste einen Entschluss: Er musste nochmals mit seiner Mutter sprechen, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Es war endlich an der Zeit, dass sie wieder offen und ehrlich miteinander sprachen, so wie sie es früher immer gemacht hatten. Er musste endlich wissen, wie es um seine Mutter tatsächlich stand. Außerdem wollte er sie zur Teilnahme überreden, denn ohne sie wollte er auf keinen Fall seinen Sohn taufen lassen, geschweige denn heiraten.

Bernd stand vor seinem Elternhaus. Wie lange war es her, dass er hier gewesen war? Das war sicher schon fast ein Jahr oder sogar länger. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, denn als einziges Kind wäre es seine Pflicht gewesen, sich mehr um die Mutter zu kümmern. Dafür gab es keine Ausrede, er hätte für sie da sein müssen.

Der Wagen seiner Mutter stand nicht im Hof, was seltsam war. Ob sie mit ihrem schmerzenden Knie Auto fahren konnte? Vielleicht war die alte Karre, an der seine Mutter so hing, einfach nur in der Werkstatt. Er klingelte, aber nichts geschah. Wieder und wieder drückte er auf die Klingel. Seltsam. Diese machte eigentlich einen ohrenbetäubenden Lärm und erinnerte an das Läuten des Big Bens. Er zog seinen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Alles war ruhig. Der Lichtschalter in der Diele funktionierte nicht, was ihn noch nicht weiter beunruhigte. Er rief nach seiner Mutter, bekam aber keine Antwort. An der Anrichte im Wohnzimmer war eine Schublade nicht ganz geschlossen. Instinktiv öffnete er sie und erschrak, als er den Berg Briefumschläge darin fand, von denen die meisten nicht einmal geöffnet waren. Besonders die Briefe eines Gerichtsvollziehers schockierten ihn. Seine Mutter war finanziell versorgt, darüber hatte er sich nie Gedanken machen müssen.

Er rief nochmals laut nach ihr, aber alles blieb ruhig. Es war offensichtlich, dass sie nicht hier war. Auch wenn ihn seine Mutter dafür rügen sollte, zog er den Brief des Gerichtsvollziehers aus dem Umschlag. Mit zitternden Händen las er wieder und wieder die Ankündigung der Pfändung am kommenden Montag. Was sollte das? Seine Mutter stand kurz vor der Pfändung? Nein, das konnte nicht stimmen! Rasch öffnete er jetzt alle Umschläge, die fast nur Rechnungen und Mahnung enthielten. Ein Schreiben der Bank ließ ihn die Knie weich werden: Die Hypothek war nicht bedient worden und man drohte mit der Zwangsversteigerung. Welche Hypothek? Das Haus war seit ewigen Zeiten abbezahlt und unbelastet, darauf hatte sein Vater immer sehr viel Wert gelegt. Was sollte das alles? Er nahm sein Handy und rief sofort den Sachbearbeiter der Bank an, den er persönlich kannte.

„Ich darf Ihnen dazu nichts sagen. Ich bin an das Bankgeheimnis gebunden.“ Kronberger begann zu schwitzen, ihm war das Telefonat sehr unangenehm. Schon seit Monaten rechnete er damit, dass sich Frau Nagels Sohn bei ihm meldete und sich um die Angelegenheit kümmern würde. Allerdings ging er davon aus, dass die beiden gemeinsam hier erschienen und somit das Bankgeheimnis, an das er gebunden war, kein Thema gewesen wäre. Aber jetzt meldete sich der Sohn und sprach ihn auf die Angelegenheit an. Wie sollte er sich ihm gegenüber benehmen? Auf der einen Seite gab es ein Bankgeheimnis, an das er sich zu halten hatte. Auf der anderen Seite war es klar, dass Frau Nagel dringend finanzielle Hilfe brauchte, da sie von alleine niemals aus den Schulden herauskommen würde.

„Stimmt es, dass meine Mutter eine Hypothek aufs Haus aufgenommen hat? Ja oder Nein?“

Kronberger zögerte. Mit dem Hörer in der Hand stand er auf und schloss die Tür seines Büros. Niemand sollte das Gespräch mitbekommen.

„Wenn ja, dann werde ich die Schuld begleichen“, setzte Bernd nach.

„Das höre ich gerne. Ich hätte die vorschriftsmäßige Prozedur in diesem Fall nur sehr ungern in die Wege geleitet.“ Kronberger fiel ein Stein vom Herzen. Endlich kam Leben in die Angelegenheit, die ihm sehr viele Bauschmerzen bereitete. Die Nagels waren seit vielen Jahren treue Kunden der Bank. Was hier ablief, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei.

„Dass mich das enttäuscht, brauche ich Ihnen nicht sagen. Wie lange sind wir bereits Kunden bei Ihrer Bank? Und trotzdem hätten Sie nach so vielen Jahren die Zwangsversteigerung des Hauses veranlasst? Meine Mutter verfügt über eine große Summe auf ihrem Festgeldkonto, das wissen Sie doch am besten. Warum hat sie darauf nicht zurückgegriffen?“

„Das Konto, von dem Sie sprechen, ist leer.“

„Wie bitte? Es ist leer?“

„Ja. Auch der Rahmen des Girokontos ist ausgeschöpft.“

„Es ist nichts mehr da?“

„Nein.“

Bernd wurde schlecht, er begann zu zittern.

„Seit wann ist das Geld weg? Und kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit Ihrem Bankgeheimnis!“

Kronberger entschied, mit Bernd Nagel offen zu sprechen. Schließlich riskierte er, einen solventen, langjährigen Kunden zu verlieren, wenn er sich jetzt sperrte.

„Vor fünf Monaten wurde das letzte Geld vom Festgeldkonto abgehoben. Vor drei Monaten mussten wir das Girokonto mit einem Sperrvermerk versehen.“

„Wann wurde die Hypothek aufs Haus aufgenommen?“

„Vor fünf Monaten.“

Bernd musste sich sammeln. Das waren sehr viele Informationen auf einmal, die er sortieren musste.

„Sie sprachen von einem Sperrvermerk?“

„Gläubiger haben erwirkt, dass eingehende Zahlungen, und dazu gehört die Rente, einbehalten werden und zuerst diese Gläubiger bedient werden.“

„Soll das heißen, dass meine Mutter seit drei Monaten nicht mehr an ihr Konto darf? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?“

„Ja, das ist richtig.“

Bernd war außer sich. Das würde bedeuten, dass seine Mutter seitdem keinen Cent mehr abheben konnte. Wovon lebte sie? Er war enttäuscht und wütend, was er an dem Bankangestellten ausließ.

„Sie sollten sich schämen! Einer treuen Kundin einfach den Hahn zuzudrehen! Haben Sie kein schlechtes Gewissen? Wovon sollte sie leben?“

„Ich kann Sie verstehen, Herr Nagel. Sie müssen mich aber auch verstehen. Ich muss mich an die Vorschriften halten. Sie dürfen mir glauben, dass ich Ihre Mutter mehrmals auf ihre finanzielle Situation angesprochen habe. Ich habe sie auch gewarnt, als sie die Hypothek aufgenommen hat. Inständig bat ich sie, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen und alles mit Ihnen durchzusprechen, da ich befürchtete, dass sie in ihr Unglück rennen würde. Aber Ihre Mutter wollte nicht hören. Sie hat mir sogar verboten, Ihnen auch nur ein Wort zu sagen. Insgeheim haben wir alle gehofft, dass Sie als Sohn trotzdem irgendwie Wind davon bekommen und einspringen.“ Jetzt war es raus, Kronberger war erleichtert. Jetzt würde alles wieder gut werden.

Bernd atmete tief durch. Ja, er war seiner Aufgabe, seiner Mutter zu helfen, nicht nachgekommen.

„Von welcher Summe sprechen wir?“

„Das darf ich…“

„Wollen Sie, dass ich die Schulden übernehme oder nicht?“

„Es sind inklusive der Zinsen 362.148 €. Wenn dieser Betrag binnen der nächsten vier Tage auf dem Konto eingeht, ist alles wieder bereinigt und Ihre Mutter kann ihr Konto wieder uneingeschränkt nutzen.“

Bernd verschlug es fast die Sprache. Das war eine Menge Geld. Ob er das auf die Schnelle zusammenbrachte? Irgendwie würde er das schon schaffen, auch wenn sich das nicht einfach gestalten würde.

„Halten Sie den Vorgang zurück. Ich komme morgen bei Ihnen vorbei und dann besprechen wir die Details.“

Kronberger lehnte sich erleichtert zurück. Das unangenehme Gespräch, mit dem er seit Monaten rechnete, war besser verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Dann machte er sich sofort an die Arbeit und bereitete alles für morgen vor. Dass er alle weiteren Schritte bezüglich der Schuldnerin stoppte, war selbstverständlich. Wenn der Sohn alle Schulden tilgte, war diese unleidige Sache endlich vom Tisch.

Bernd war fassungslos. Es stimmte also, es gab diese Schulden. Und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Er sortierte die Rechnungen und Mahnungen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Summe der aufgelaufenen Schulden betrug grob geschätzt nochmals rund zwanzigtausend Euro. Die Schulden seiner Mutter zu begleichen war die eine Sache, das würde sich irgendwie regeln. Er war nicht ganz mittellos und konnte sein Haus und die Firma beleihen. Was ihm viel mehr Sorgen machte, war etwas anderes. Wovon lebte seine Mutter eigentlich? Das Konto war gesperrt und es gab offensichtlich keine Rücklagen mehr. Bernd Nagel war vollkommen fertig und auch enttäuscht. Warum war seine Mutter nicht zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten? Und wofür hatte sie so viel Geld gebraucht?

Er sah sich um. Hier stimmte doch etwas nicht. Er brauchte lange, bis er begriff, dass es im ganzen Haus keinen Strom gab. Die Hauptsicherung? Könnte sein, trotzdem trieb es ihn in die Küche. Der Kühlschrank war bis auf ein Marmeladenglas leer, in der Speisekammer sah es ähnlich aus. Wenn es seiner Mutter offensichtlich finanziell so schlecht ging, warum hatte sie dann nicht einfach die Goldmünzen oder ihren Schmuck verkauft? Bernd stockte. Konnte es sein…? Nein, das war nicht möglich! Er rannte ins Schlafzimmer seiner Mutter und öffnete den Wandsafe, dessen Zahlenkombination ihm bekannt war. Hierin bewahrte seine Mutter ihren Schmuck, Goldmünzen und private Papiere auf. Bis auf den Reisepass und zwei Versicherungspolicen, die das Haus betrafen, war der Safe leer.

Bernd musste sich setzen. Es war, wie er vermutet hatte: Es war nichts mehr da - seine Mutter war pleite.

Erst jetzt bemerkte er ihre Handtasche, die auf dem Stuhl lag. Handy, Schlüssel und Geldbörse, in der nur wenige Cent waren – alles war hier. Seine Mutter musste im Haus sein! Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Sie wird doch nicht…?

Panisch suchte er jeden Winkel des riesigen Hauses ab, bis der Dachboden dran war. Die Tür war nie abgesperrt. Stufe für Stufe ging er nach oben, wobei ihn eine quälende Vorahnung beschlich. Kalte Luft schlug ihm entgegen.

Dann sah er sie. Sie hing an einem Seil. Sofort rannte er zu ihr und hob sie an.

„Atme!“, rief er ihr zu. „Du sollst atmen!“

Aber sie rührte sich nicht. Mit aller Kraft hielt er sie hoch. Er schaffte es, sein Handy aus der Tasche zu ziehen und Hilfe zu rufen.

Die Rettungskräfte mussten die Tür aufbrechen und rannten zum Dachboden. Bernd hielt seine Mutter so lange, bis die anderen es schafften, sie vom Seil zu lösen. Sanft legte Bernd seine Mutter auf den Boden. Hilflos und völlig geschockt musste er mit ansehen, wie einer der Sanitäter ihren Puls fühlte, sich zu ihm umdrehte und nur den Kopf schüttelte. Endlich begriff Bernd, dass er zu spät gekommen war. Seine Mutter war tot.

Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Flug. Die Schulden der Mutter waren restlos getilgt worden, was für ihn Ehrensache war. Kronberger kam ihm entgegen und alles war reibungslos über die Bühne gegangen. Dass sich Martha Nagel umgebracht hatte, ging in Freising wie ein Lauffeuer herum. Alle waren bestürzt und konnten sich den Freitod nicht erklären. Bernd und Eva hatten es geschafft, dass niemand den wahren Grund erfuhr.

Die Beerdigung der geliebten Mutter brachte Bernd irgendwie hinter sich. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie sie eigentlich abgelaufen war, denn zu sehr schmerzte ihn der Verlust. Auch die Taufe des Sohnes überstand er irgendwie. Seine Eva hatte nicht nur alles Organisatorische übernommen, sondern hatte sich stundenlang mit ihm unterhalten und versucht, ihn zu trösten. Wenn er sie nicht gehabt hätte! Er war sich mit seiner Eva darüber einig, dass die Hochzeit verschoben wurde, dafür war er nicht in Stimmung.

Tagelang hatte er in seinem Elternhaus nach einer Erklärung dafür gesucht, wie seine Mutter in diese Lage hatte kommen können. Nach und nach begriff er, dass es tatsächlich einen Mann gegeben hatte, den sie finanziell unterstützte. Wut stieg in ihm auf. Ein habgieriger Mann hatte sich an seine gutmütige Mutter rangemacht und alles an sich gerissen, was nicht niet- und nagelfest war. Ja, das war bitter und er war wütend auf sich, dass er das nicht mitbekommen hatte. Aber noch mehr schmerzte ihn, dass sich seine Mutter nicht an ihn gewandt und ihn um Hilfe gebeten hatte. Natürlich hätte er ihr Vorwürfe gemacht, aber trotzdem hätte er ihr geholfen. War es so, dass sie kein Vertrauen zu ihm gehabt hatte? Oder hatte sie sich so sehr geschämt, dass sie sich nicht getraute, zu ihm zu kommen? Aber warum? Sie hatten doch immer ein gutes Verhältnis gehabt und sie hätte immer zu ihm kommen können. Erst langsam begriff Bernd, dass es auch seine Schuld gewesen war. Er hätte sich mehr um seine einsame Mutter kümmern müssen, was er jetzt aber nicht mehr rückgängig machen konnte. Sie war tot und er musste irgendwie damit zurechtkommen.

Dann bekam er die Habseligkeiten seiner Mutter von der Polizei zugeschickt, da die Ermittlungen abgeschlossen wurden. Ein lapidarer Brief war beigefügt, in dem erklärt wurde, dass Fremdeinwirkung ausgeschlossen war und es keine weiteren Ermittlungen geben würde. Musste er es hinnehmen, dass dieser unbekannte Mann, der seine Mutter so schamlos ausgenutzt und in den Tod getrieben hatte, ungeschoren davonkam? Die Polizei machte ihm klar, dass es in diese Richtung keine Ermittlungen geben würde, da es keinen Beweis für seine Annahme gab. Bernd Nagel musste das akzeptieren und irgendwie verstand er die Polizei sogar. Es gab keinen einzigen Hinweis auf die Identität des Mannes. Lediglich dessen Namen hatte er: Herbert Braunbach, der als Teilnehmer in den Reiseunterlagen stand, die Bernd gefunden hatte. Es gab nur diesen Namen; keinen Wohnsitz, kein Foto, einfach nichts. Ob der Name überhaupt stimmte?

Bernd besah sich das wenige in dem Beutel, das seiner Mutter gehört hatte. Ein besticktes Taschentuch, ein Kassenzettel über einen Liter Milch und Bananen, alles im Wert von knapp zwei Euro, und eine silberfarbene Kette mit einem Amulett. Bernd kannte dieses Schmuckstück nicht. Ob dieser Typ es ihr geschenkt hatte? Er legte alles beiseite und weinte. Nicht nur aus Trauer, sondern auch aus Enttäuschung darüber, dass seine Mutter ihm nicht eine einzige Zeile, nicht ein einziges Wort hinterlassen hatte.

„Was ist das?“, fragte Eva, die den Sohn gerade zu Bett gebracht hatte.

„Die Polizei hat mir mitgeteilt, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Das hier gehörte meiner Mutter.“

„Ein Amulett“, sagte Eva und nahm es in die Hand. „Dann ist ja doch noch ein Stück des Familienschmuckes übriggeblieben. Wie alt mag das sein?“ Sie drehte die Kette im Licht. „Die sieht ziemlich neu aus. Das ist ein Teil des Familienschmucks?“

„Nein, das kenne ich nicht. Dieser Schmarotzer muss es meiner Mutter geschenkt haben.“

Eva holte ihre Brille und besah sich die Kette nun genauer.

„Die Kette ist echtes Silber, das Amulett ist Edelstahl. Online kriegst du beides für zwanzig oder dreißig Euro. Wenn das ein Geschenk war, dann war es sehr billig.“

Bernd sah sprachlos zu, wie seine Eva das Amulett öffnete. Er hatte keine Ahnung, dass das möglich war. Eva sah sich das Foto an, das darin zum Vorschein kam.

„Das muss er sein, Bernd. Das ist der Mann, den du suchen musst.“

„Du meinst…?“ Bernd starrte auf das Bild eines Mannes, dessen fröhliches Gesicht ihn anstrahlte.

„Du hast nach einem Hinweis auf diesen Mann gesucht, der offensichtlich darum bemüht war, alle Spuren zu beseitigen, die auf ihn hinweisen. Jetzt hast du ein Bild von ihm, sogar ein sehr gutes. Such ihn, sonst findest du keine Ruhe.“

„Soll ich das wirklich tun?

„Auf jeden Fall! Such diesen Mann und bring ihn vor Gericht. Das bist du nicht nur dir, sondern vor allem deiner Mutter schuldig.“

Bernd küsste seine Eva. Er wusste, warum er sie liebte. Sie war nicht nur warmherzig und klug, sondern auch sehr verständnisvoll. Ja, er musste diesen Mann zur Strecke bringen. Nicht nur um seinetwillen, sondern auch um seine Mutter zu rächen. Aber wie sollte er diesen Mann suchen? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er selbst hatte keine Chance, er brauchte professionelle Hilfe. Ein Geschäftspartner gab ihn den entscheidenden Tipp, wer ihm helfen könnte: Die Münchner Detektivin Anita Seidl.

Die achtundvierzigjährige Anita Seidl nahm den Job gerne an. Als sie hörte, um was es dabei ging, wurde sie wütend. Sie hasste solche Männer wie Braunbach und würde es sehr gerne sehen, wenn sie ihren Teil dazu beitragen konnte, ihm das Handwerk zu legen. Sie bat ihren neuen Klienten um umfangreiche Informationen, die Bernd Nagel gerne zusammenstellte. Als der Mandant ihr zwei randvoll gepackte Kartons überbringen ließ, hatte sie sich sofort daran gemacht und alles sortiert. Rasch hatte sie ein System entwickelt, das ihr einige Anhaltspunkte gab. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt, der etwa dreizehn Monate zurücklag, war bei Martha Nagel aus finanzieller Hinsicht alles in bester Ordnung. Dann wurden mehrfach hintereinander größere Summen vom Konto abgehoben. Auch Reisen und Restaurantrechnungen wurden über das Konto bezahlt. Das waren Spuren, die nicht uninteressant waren. Aber wichtiger schienen für sie die wertvollen Schmuckstücke, die zum Glück alle für die Versicherung fotografiert wurden.

Sie hatte verschiedene Stellen kontaktiert – und jetzt hieß es abwarten.

Tödliche Rendite

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