Читать книгу Tödliche Rendite - Irene Dorfner - Страница 8
3.
ОглавлениеWenige Tage später…
Anita Seidl hatte ein herrliches, verlängertes Wochenende mit Kriminalhauptkommissar Hans Hiebler in Mühldorf am Inn verbracht. Der Frühling schien noch lange auf sich zu warten. Es war nicht nur erneut eiskalt geworden, sondern auch heute, am kalendarischen Frühlingsanfang, hatte es wieder heftig geschneit. Deshalb zogen Hans und sie es vor, die Tage bei ihm zuhause zu verbringen. Wenn sie an den prasselnden Kamin dachte, wurde ihr jetzt noch ganz warm. Sie hatte Hans in Mühldorf am Inn kennengelernt, als sie bei einem kniffligen Fall gezwungen war, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Sie war es zwar gewohnt, stets allein zu arbeiten, aber bei diesem Job ging es nicht anders. Hans und sie waren seitdem unzertrennlich, aber noch behielten die beiden das für sich, worauf besonders sie großen Wert legte. Hans war ein phantastischer Mann, der ganz nach ihrem Geschmack war. Trotzdem war sie ein gebranntes Kind, weshalb sie vorsichtig mit Männerbeziehungen umging. Hans und sie sahen sich in den letzten Wochen sehr oft. Nachdem sie es vorzog, lieber zu ihm zu fahren, fand sie es an der Zeit, ihn zu sich einzuladen.
Der sechsundfünfzigjährige Hans Hiebler war sehr glücklich, als Anita ihm anscheinend beiläufig vorschlug, das nächste Wochenende bei ihr in München zu verbringen. Das war ein Vertrauensbeweis, den er sehr schätzte, denn Anita hatte durchblicken lassen, dass ihre Wohnung ihr Heiligtum war. Normalerweise hielt es Hans nie lange bei einer Frau, aber diesmal war es anders. Anita war nicht nur eine sehr hübsche und intelligente Frau, sondern auch humorvoll, belesen und nicht auf den Mund gefallen. Es gab kaum eine Minute, in der es langweilig war. Außerdem stand Anita auf eigenen Beinen, auch wenn er sich wegen ihres Jobs sehr um sie sorgte. Hans wusste sehr gut, wie schlecht Menschen sein konnten. Seine Freundin war denen nicht nur ausgeliefert, sondern stellte sich ihnen entgegen. Aber das würde er ihr niemals sagen, dafür hätte sie kein Verständnis.
Das Wochenende war wieder viel zu schnell vorbei. Hans gewöhnte sich an Anita und genoss jede Sekunde mit ihr, was ihm langsam Angst machte. Ob er nach dem schrecklichen Mord an seiner Doris, der nunmehr drei Jahre zurücklag, endlich wieder jemanden gefunden hätte, mit dem er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte? Noch glaubte er nicht daran, obwohl ihm die Vorstellung durchaus gefiel.
Anita hatte sich nach der Fahrt nach München sofort auf den Weg ins Autohaus Stürz gemacht. Das war seit Jahren „ihr“ Autohaus und dort wartete der neue Wagen auf sie. Sie hatte lange mit sich gehadert, ob sie sich solch eine Luxuskarosse leisten sollte. Aber warum nicht? Glänzend stand der Wagen im Ausstellungsraum und wartete auf sie. Was Hans wohl dazu sagen würde, wenn er ihn am kommenden Wochenende zu sehen bekam?
Am liebsten würde sie eine ausgedehnte Spritztour machen, aber die musste warten, denn es gab sehr viel zu tun. Sie fuhr die wenigen Kilometer zurück ins Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Die Informationen, die sie am Freitag angeleiert hatte, lagen jetzt vor und sie konnte sich endlich daran machen, den Unbekannten zu suchen, den ihr Klient Bernd Nagel in die Finger kriegen wollte. Sie konnte den Mann verstehen, schließlich war dessen Mutter nicht nur einem Hochstapler aufgesessen, sondern sie hatte sich aus Scham darüber das Leben genommen. Wie sie wohl an Stelle des Klienten reagieren würde? Sie würde ebenfalls nach dem Mann suchen und ihn ganz langsam leiden lassen. In ihrer Phantasie stellte sie sich vor, wie sie ihn für jeden einzelnen Cent quälen würde.
Anita Seidl sortierte die Unterlagen. Dann druckte sie die Informationen und Bilder aus, die ihr per Mail zugesandt wurden. Stolz pinnte sie eine Information nach der anderen an die Wand, die voller und voller wurde. Es war ihr gelungen, mehrere Fotos von dem Mann zu bekommen. Einige Überwachungskameras hatten ihn aufgenommen, die Bilder waren allerdings unscharf und allein mit diesen konnte man den Mann nicht identifizieren.
Zu den vier Restaurants, in denen Frau Nagel mit Kreditkarte bezahlte, brach sie sofort auf. Da sie keine Zeit vergeuden wollte, hatte sie ihren Besuch angekündigt.
Man erinnerte sich an das Paar, da Frau Nagel viel von gutem Wein verstand, was nicht sehr oft der Fall war. Sie verlangte immer den passenden Wein und traf damit genau ins Schwarze. Außerdem war sie sehr freundlich und gab ein großzügiges Trinkgeld – alles Kriterien, an die man sich gerne erinnerte. Vom Personal der hochkarätigen Restaurants in München, Erding und Rosenheim ließ sie sich die Begleitung von Frau Nagel beschreiben.
„Ich habe etwas Besseres“, sagte Jean, der Kellner des Erdinger Restaurants „Petit Rouge“. Er ging nach hinten und kam mit einem USB-Stick wieder zurück. „Frau Nagel und ihre Begleitung waren am neunten November letzten Jahres unsere Gäste. Ich erinnere mich daran, da ich an diesem Tag Geburtstag hatte und Frau Nagel so lieb war, mir einen ganz besonderen Whiskey auszugeben. Erst lehnte ich ab, aber sie hatte darauf bestanden. Ein ganz vorzüglicher Tropfen, den ich mir selbst nicht leisten kann.“
„Und was genau finde ich auf dem Stick?“
„Nach Feierabend habe ich meine Kollegen eingeladen und wir haben gefeiert, selbstverständlich im Einvernehmen mit dem Chef. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Spaß wir alle hatten. Als nachträgliches Geburtstagsgeschenk bekam ich Fotos meines Ehrentages, die Sylvie gemacht hatte. Darauf sind auch Aufnahmen, wie ich diesen besagten Whiskey von Frau Nagel bekommen habe.“
„Sie meinen…?“
„Darauf ist ganz sicher deren Begleitung zu sehen.“
Anita machte sich sofort an die Arbeit. Sie öffnete ihren Laptop und kopierte alle Fotos.
„Ich werde damit sorgsam umgehen, machen Sie sich keine Sorgen. Mir geht es nicht um private Aufnahmen, sondern nur um diesen besagten Mann. Vielen Dank, Jean, Sie haben mir sehr geholfen.“ Anita steckte ihm einen Schein zu, den er gerne annahm.
Sie fuhr umgehend in ihr Büro, um die Fotos zu sichten. Darauf war tatsächlich der Mann, nach dem sie suchte, deutlich zu sehen. Diese Bilder waren sehr viel besser als die aus dem Medaillon und den Überwachungskameras. Jetzt wusste sie, mit wem sie es zu tun hatte. Aber noch hatte sie keine Ahnung, wie der Mann hieß und wo sie ihn finden konnte. Der Name Herbert Braunbach führte sie ins Leere. Wie viele Telefonate sie mit Braunbachs geführt hatte, konnte sie nicht mehr zählen. Sie war sicher, dass der Richtige nicht dabei war. Dass dieser Name überhaupt echt war, bezweifelte sie.
Sie musste einen neuen Weg einschlagen und wandte sich den Schmuckstücken zu, die laut den Expertisen sehr teure Einzelanfertigungen waren. Die verhökerte man nicht einfach mal so auf dem Schwarzmarkt, damit musste man sich an exklusive Juweliere halten, die damit solvente Kunden erfreuen konnten.
Viele Hinweise trafen ein, nachdem die Juweliere verstanden, dass diese Käufe offenbar nicht ganz sauber waren. Niemand wollte mit dubiosen Geschäften zu tun haben. Der wichtigste Hinweis kam von einem Juwelier am Starnberger See, wo dem Inhaber ein sehr auffälliges Schmuckstück angeboten wurde, das längst verkauft war. Anita beruhigte den Juwelier Pauchritsch, der außer sich war.
„Der Kauf war absolut legal, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich bin auf der Suche nach demjenigen, der Ihnen den Schmuck verkauft hatte. Er hat die eigentliche Besitzerin über den Wert getäuscht. Ich nehme an, dass Sie nicht nur eintausendzweihundert Euro für die opulente Kette bezahlt haben?“ Anita pokerte hoch, denn sie hatte keine Ahnung, wie viel das Schmuckstück tatsächlich eingebracht hatte. Aber wie sonst sollte sie den Juwelier aus der Reserve locken, der sonst niemals die echten Beträge offenlegte?
„Nein, wie kommen Sie nur darauf? Schon allein der Goldwert liegt bei dreitausend Euro. Dazu die lupenreinen Steine, die überaus wertvoll sind. Ich habe Herrn Braunbach einen angemessenen Ankaufspreis in Höhe von zwölftausendachthundert Euro ausbezahlt.“ Dass Pauchritsch dieses schöne und einmalige Stück für fast das doppelte verkauft hatte, musste er nicht preisgeben. Der Ankaufswert war in Ordnung und er musste sich deshalb keine Vorwürfe machen.
„Die Identität des Mannes ist falsch“, sagte Anita.
„Das kann nicht sein, ich habe mir den Personalausweis zeigen lassen, von dem ich selbstverständlich eine Fotokopie gemacht habe.“
„Könnte ich die haben?“
„Gerne. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen auch die Bilder der Überwachungskamera zukommen lassen.“
Anita war begeistert und versprach, die ganze Angelegenheit, die Pauchritsch sehr unangenehm war, diskret zu behandeln. Auch bat er darum, wenn möglich seinen Namen aus der ganzen Sache herauszuhalten, was sie ihm gerne versprach.
Nur wenige Minuten später kamen die gewünschten Unterlagen per Mail. Sofort machte sich Anita an die Arbeit. Sie war gespannt, ob sie hiermit auf einer heißen Spur war. Die Bilder waren sehr gut und sie begann, jede einzelne Sequenz zu vergrößern. Auf einem Spiegelbild in einer Vitrine entdeckte sie einen Wagen mit einem Münchner Kennzeichen. Sie rief Pauchritsch erneut an.
„Sie schon wieder!“ Der Juwelier war genervt von der penetranten Person, die es geschafft hatte, ihn zu verunsichern. Erst, nachdem er die Informationen per Mail an die Frau abgesandt hatte, wurde ihm bewusst, was er getan hatte. War die Frau überhaupt berechtigt, diese zu bekommen? Wer war sie überhaupt? Sie hatte ihn überrumpelt und verunsichert, was ihm leider sehr oft passierte. Wenn er doch nur dieses verdammte Schmuckstück nie angenommen hätte!
„Zuerst möchte ich mich nochmals ausdrücklich für die Bilder bedanken, die Sie mir zukommen haben lassen. Ich habe auf einer Aufnahme einen Wagen mit Münchner Kennzeichen entdeckt. Könnte es sein, dass es sich dabei um Ihren Wagen handelt? Oder gehörte der gar dem Mann, nach dem ich suche?“
„Das ist nun wirklich zu viel verlangt, Frau Seidl! Woher soll ich wissen, wem der Wagen gehört? Mir jedenfalls nicht!“
„Wo parken Ihre Kunden normalerweise?“
„Es gibt keinen ausgewiesenen Firmenparkplatz, leider. Meine Kunden parken in der Nähe oder kommen mit dem Taxi.“ Pauchritsch wollte die Frau abwimmeln, auch wenn er wusste, dass das der Wagen des Verkäufers sein musste. Aber wenn nicht, würde er die Frau auf eine falsche Spur führen und einen Unbeteiligten mit reinziehen, das wollte er nicht.
Anita hatte genug gehört. Sie machte sich daran, den Halter des Fahrzeugs ausfindig zu machen. Hierfür hatte sie einen Kontakt mit Namen Katja aufgetan. Von ihr kannte sie nur den Vornamen, mehr nicht. Der Kontakt bestand aus einer Mailadresse, die Bezahlung ging auf ein Schweizer Nummernkonto. Wer sich hinter der Frau verbarg, wenn es denn eine war, dann war die Tarnung perfekt. Katja hatte ihr bisher schon gute Dienste geleistet, die sie sich auch fürstlich bezahlen ließ. Anita zahlte ihr gerne die geforderten Beträge, denn erstens kam sie selbst nur sehr schwer an manche Informationen, und zweitens ersparte sie sich dadurch sehr viel Zeit.
Nach einer kurzen E-Mail-Nachricht bekam sie sofort eine Antwort.
„Ich kümmere mich darum, Katja“
Jetzt hieß es warten. Anita drückte auf die Taste ihres neuen Kaffee-Vollautomaten, der für sie allein völlig überzogen war. Dampfender Espresso lief in eine pinkfarbene Tasse, auf der ein lustiges Kamel abgebildet war. Das war nicht ihr Geschmack, aber die Tassen waren eine kostenlose Beigabe zur Maschine und sie gedachte, diese auch zu benutzen.
Während sie trank, sah sie sich die Bilder wieder und wieder an. Sie notierte jede Einzelheit, die sie an dem Gesuchten bemerkte. Hierzu war auch das Foto von Jean hilfreich. Der Unbekannte war etwa fünfundsechzig. Sie schätzte ihn auf einen Meter achtzig. Die Figur war sportlich und die Erscheinung elegant lässig. Die Kleidung war sicher nicht billig, auch wenn das täuschen konnte. Auf Bildern war nicht zu erkennen, ob es sich um echte Markenkleidung oder um Fake-Ware handelte, was auch auf die Uhr zutraf, die protzig wirkte. Ihr fiel auf, dass die Haarfarbe auf den Fotos variierte. Das könnte daran liegen, dass zwischen beiden Aufnahmen mehrere Monate lagen. Allerdings könnte es auch sein, dass der Mann in der Farbe nachgeholfen hatte. Männer waren seit Jahren davon überzeugt, dass es sexy aussah, wenn die Schläfen grau waren – und halfen dementsprechend nach. Anita empfand das als absolut dämlich, aber das war ihre persönliche Meinung.
Sie ließ einen weiteren Espresso laufen und besah sich die Fotos erneut. Sie vergrößerte das Gesicht des Mannes. Die Augenfarbe konnte man nicht erkennen, auch wenn sie sich noch so sehr bemühte. War das ein Muttermal auf seiner Hand oder war das nur ein Fleck? Anita verglich die Fotos miteinander und konzentrierte sich nur auf die linke Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger müsste das Muttermal sein. Dann sah sie es. Hier auf diesem Bild war das Mal zu sehen; zwar unscharf, aber das reichte ihr. Sofort notierte sie diese Kleinigkeit.
Dann meldete sich Katja.
„Der Wagen gehört einer Autovermietung Harbeck in München.“
„Kenne ich. Danke, Katja.“
„Immer wieder gerne. Noch etwas?“
„Im Moment nicht.“
Anita fand die Rechnung im Anhang und überwies die dreihundert Euro sofort. Katja arbeitete prompt und verlangte das auch von der Bezahlung.
Die Autovermietung Harbeck war zwanzig Minuten von Anitas Büro entfernt. Hier musste sie versuchen, an Informationen bezüglich des Mieters zu kommen, was nicht leicht werden würde. Sie musste geschickt vorgehen und hatte auch schon eine Idee, wie das funktionieren könnte. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund und nahm ihn nach zehn Minuten wieder raus. Noch im Wagen drückte sie ihn auf das Armaturenbrett ihres neuen Wagens, was ihr eigentlich zuwider war. Kaum zehn Kilometer auf dem Tacho und schon wurde das Armaturenbrett missbraucht. Aber wo sollte sie den Kaugummi sonst hintun? Sie steckte den nur angetrockneten Kaugummi vorsichtig in ihre Jackentasche, als sie das gesuchte Fahrzeug auf dem Hof der Firma stehen sah. Sie hatte Glück, der Wagen war tatsächlich da!
Bevor sie ausstieg, wischte sie mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Stelle am Armaturenbrett, wo gerade noch der Kaugummi war. Perfekt, man sah nichts mehr.
Das Büro der Autovermietung Harbeck war muffig und unordentlich. Es roch nach Zigarettenqualm, was Anita nicht mochte. Der behäbige Mann hinter dem zugemüllten Tisch strahlte sie an, als sie eintrat. Der Mann dürfte kein größeres Problem darstellen. Anita war sich sicher, dass sie ihre Informationen bekam. Sie setzte sich, schlug die langen Beine übereinander und verlangte, den gesuchten Wagen zu mieten.
„Sie wollen den Benz? Der passt doch nicht zu einer solch hübschen Dame. Nehmen Sie den gelben Sportwagen, der danebensteht. DAS ist das richtige Fahrzeug für Sie, glauben Sie mir.“
„Danke, aber ich möchte den Benz. Vorausgesetzt, es wurde darin nicht geraucht.“
„Selbstverständlich nicht! In unseren Fahrzeugen herrscht absolutes Rauchverbot. Und nach der Rückgabe erfolgt eine gründliche Reinigung.“
„Wenn ich mir den Wagen ansehen dürfte?“
„Gerne.“ Der Mann, der sich ihr als Karlstedt vorstellte, nahm den Schlüssel aus der Schublade, stand auf und zog die Hose nach oben, da sie ihm fast über den Hintern gerutscht war. Auf dem Schoß leuchtete ein fetter Kaffeefleck. Er grinste verlegen und ging voraus. Karlstedt gab sich galant und öffnete ihr die Wagentür. Anita setzte sich hinters Steuer, wobei sie den Kaugummi aus der Tasche zog und auf dem Fahrersitz platzierte. Sie bewegte sich vor und zurück, auch nach links und rechts. Das dürfte reichen, der Kaugummi würde seine Dienste leisten.
„Der Wagen ist perfekt, den brauche ich für zwei Wochen, eventuell auch länger. Ist das ein Problem?“
„Natürlich nicht.“
Anita stieg aus und schrie auf, als sie theatralisch bemerkte, dass ein Kaugummi an ihrem teuren Rock klebte. Es war offensichtlich, dass der auf dem Fahrersitz gelegen haben musste, denn dort waren deutliche Spuren zu sehen. Karlstedt war sprachlos. Ihm war die Situation dermaßen unangenehm, dass er zunächst keinen Ton herausbrachte.
„In der Haut desjenigen, der den Wagen gereinigt hat, möchte ich nicht stecken“, sagte Anita und sah dabei Karlstedt vorwurfsvoll an. „Sehen Sie sich meinen Rock an!“
„Das verstehe ich nicht. Um die Fahrzeugreinigung kümmert sich meine Frau, auf die kann ich mich immer zu einhundert Prozent verlassen. Außerdem kaut bei uns niemand Kaugummi, ich schwöre. Meine Frau mag das nicht und verbietet es jedem, der es wagt, einen Kaugummi zu kauen. Wie kommt dieses eklige Ding auf den Fahrersitz?“ Karlstedt verstand die Welt nicht mehr. „Ich kapier das nicht, ich kann mir das einfach nicht erklären.“
„Welches Ferkel hat den Wagen zuletzt gefahren?“, maulte Anita Seidl, die sich ein Lachen kaum verkneifen konnte. Der Schaden hielt sich in Grenzen, denn sie wusste, wie sie den Kaugummi wieder beseitigen konnte.
„Es kann eigentlich nicht sein, dass der Wagen ohne mein Wissen ausgeliehen wurde. Und wenn, dann muss das in den Unterlagen stehen.“ Karlstedt ging voraus und Anita folgte ihm. Jetzt würde sie Einblick in die Unterlagen bekommen und damit vermutlich auch irgendeinen Hinweis auf den Unbekannten.
Karlstedt blätterte in der Mappe und tippte dann auf der Tastatur seines Computers.
„Das verstehe ich nicht. Braunbach hat den Wagen am sechsundzwanzigsten Februar zurückgegeben. Seitdem wurde der Wagen nicht mehr bewegt. Wenn Braunbach tatsächlich derjenige gewesen war, der dafür verantwortlich ist, müsste der Kaugummi doch längst steinhart sein. Aber wer käme dafür sonst in Frage?“ Karlstedt rief seine Frau an, die die eigentliche Inhaberin der Autovermietung war, nachdem sie diese von ihrem Vater übernommen hatte. Sie bestätigte, dass sie selbst die Wagenreinigung abgenommen hatte und sich nicht erklären konnte, wie der Kaugummi auf den Fahrersitz gelangen konnte. Während des Telefonats hatte Anita keine Chance, einen Blick auf den Bildschirm oder in die Unterlagen zu werfen. Verdammt!
„Vielleicht doch der letzte Mieter?“, drängelte Anita, wobei sie ein angewidertes Gesicht zog und umständlich auf ihrem Stuhl saß.
Karlstedt wusste sich nicht anders zu helfen und kam der Bitte der hübschen Frau nach. Er rief die Daten des Mieters auf und wählte die Handynummer. Darauf hatte Anita gewartet. Sie stand auf und tat so, als würde sie an ihrem Rock herumzuppeln – aber in Wahrheit prägte sie sich die Handynummer ein, die sie deutlich auf dem großen Bildschirm lesen konnte. Karlstedt unterhielt sich mit Braunbach, also stimmte die Nummer. Sie nahm ihr Handy und speicherte die Nummer ein. Sie hatte, was sie wollte. Noch während des Telefongesprächs zwischen den Männern ging sie einfach. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr davon.
„Hallo Katja. Ich schicke dir eine Handynummer. Kannst du herausfinden, wo das Handy gerade eingeloggt ist?“
„Kann ich versuchen, wird aber nicht billig. Ich melde mich wieder.“
Anita hatte nur den Rock ausgezogen und sofort die Nachricht geschrieben, als sie wieder in ihrem Büro war. Nachdem sie die Kaugummireste mühelos entfernt hatte, zog sie sich einen anderen Rock an und genoss dann einen weiteren, starken Espresso. Das war der Letzte für heute, das nahm sie sich fest vor.
„Die Nummer ist in Burghausen eingeloggt. In der Kaiserstraße zwölf. Noch etwas?“
„Nein, danke. Gute Arbeit, Katja.“
„Immer gerne.“
Die Rechnung war angefügt. Darüber, dass es diesmal sechshundert Euro waren, wunderte sich Anita nicht. Im Internet gab sie Burghausen und die von Katja genannte, dortige Adresse ein. Hier war der Unbekannte? Sie war überrascht, denn Burghausen war nicht weit von Mühldorf entfernt, und dort lebte ihr Hans. Vielleicht fand sie die Zeit, auf einen Sprung bei ihm vorbeizuschauen? Bei der Gelegenheit könnte sie ihren neuen Wagen präsentieren, was ihm mit seinem mickrigen Beamtengehalt sicher die Sprache verschlagen würde. Hans war nicht neidisch, er gönnte jedem alles. Sie war da völlig anders. Aber jetzt ging es nicht um Hans und um ihr Privatleben, sondern um die Arbeit, die bei ihr immer an erster Stelle stand.
Sie nahm ihre Tasche, die für Notfälle immer gepackt war. Darin befanden sich Kleidung und Waschutensilien, die einige Tage ausreichen dürften. Ob sie die Tasche brauchen würde, wusste sie jetzt noch nicht. Sie nahm Laptop, Tablet und die Handtasche. Dann konnte es losgehen. Sie war neugierig darauf, was sie in Burghausen erwarten würde. Sie könnte ihrem Auftraggeber mitteilen, dass sie den Mann gefunden hatte, der seine Mutter so schändlich ausgenommen hatte. Aber noch brauchte sie einen Beweis dafür.
Die Fahrt war trotz der klirrenden Kälte für Anita sehr angenehm, denn die Heizung ihres neuen Wagens war hervorragend. Das war eines der Entscheidungskriterien für dieses Modell gewesen, wobei die anderen kleinen Spielereien, die dieser Wagen hatte, auch nicht ohne waren. Die gute Musik aus den achtziger Jahren sang sie lauthals mit. Ihre Laune war bestens, als sie vor dem Haus in der Burghauser Kaiserstraße 12 ankam. Es dämmerte bereits. Sie war überrascht, als sie das hübsche Haus betrachtete, dessen Grundstücksmauer allein schon sicher ein Vermögen gekostet hatte. Solch ein Haus wollte sie später auch mal. Ob sie aussteigen sollte? Nein, sie wollte den Gesuchten nicht aufschrecken. Noch war es mollig warm und sie entschied, im Wagen zu warten. Vielleicht ergab sich die Möglichkeit, den Mann von hier aus zu fotografieren. Hierfür lag ihr Fotoapparat griffbereit auf dem Beifahrersitz. Lang rührte sich nichts und ihr wurde langweilig. Sie griff ins Handschuhfach und zog die Betriebsanleitung ihres Wagens hervor. Sie begann zu lesen, wobei sie immer das fragliche Haus im Blick hatte. Erstaunt stellte sie beim Lesen fest, dass ihr neuer Wagen sogar eine Standheizung hatte, die sie sofort einschaltete. Schnell stieg die Temperatur an, was sehr angenehm war. Es war inzwischen dunkel geworden und sie las mit einer kleinen Taschenlampe weiter, die man hoffentlich von draußen nicht sofort sah. Und wenn schon! Schließlich konnte sie hier stehen und lesen wie sie wollte – wer sollte etwas dagegen haben?
Im Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung am Fenster des Hauses. Da stand ein Mann am Fenster! Sofort nahm sie ihr Fernglas und zoomte die Person näher heran. War das der Gesuchte? Noch war sie sich nicht sicher. Dann drehte sich der Mann und sah genau in ihre Richtung. Ja, das war er, ein Irrtum war ausgeschlossen. Endlich war sie sicher, dass sie auf der richtigen Spur war. Sie nahm ihren Fotoapparat und machte einige Bilder des Mannes. Es schien, als würde er in ihre Richtung blicken, aber das war ihr egal. Sie hatte, was sie wollte und rief ihren Auftraggeber an.
„Sie haben ihn gefunden? So schnell?“
„Ja“, antwortete Anita nicht ohne Stolz.
„Wo sind Sie?“
Sie nannte ihm die Adresse in Burghausen.
„Ich bin unterwegs, warten Sie auf mich.“
„Warum wollen Sie herkommen? Sollte ich nicht die Polizei rufen?“
„Die Polizei können Sie vergessen, die machen ja eh nichts. Nein, ich werde mir den Typen persönlich vornehmen.“
Anita gefiel das überhaupt nicht. Sie war der Meinung, genug Beweise gegen den Mann zu haben, um ihn anzeigen zu können. Stattdessen sah es so aus, als würde der Auftraggeber Selbstjustiz verüben wollen. Das konnte sie nicht zulassen. Sie versuchte mehrfach, Bernd Nagel zu erreichen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Aber der antwortete nicht. Anita war sauer. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hier auf Nagel zu warten und dann zu versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen, was eigentlich nicht ihre Aufgabe war. Sie konnte verstehen, dass er wütend war, aber sie konnte es nicht zulassen, dass er auf den Gesuchten losging.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hierzubleiben und zu warten. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, in dem dicken Wälzer zu lesen, denn die Kapitel wurden gähnend langweilig. Dann fand sie einen Punkt bezüglich Sicherheit, falls sie eine Panne hätte. Sie war so vertieft und fasziniert, dass sie nicht bemerkte, wie sich ein Mann ihrem Wagen näherte.
Dann öffnete sich die Beifahrertür.